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In der dritten Märzwoche ging das erste Turnier der neuen Saison über die Bühne. Es fand in Aldon in der Grafschaft Somerset statt. Sie standen um drei Uhr früh auf. Als Erstes wurde Storm gefüttert und gestriegelt, dann flocht ihm Mrs Smith die Mähne ein. Alles lief nach Plan, doch hatten sie nicht damit gerechnet, dass Storm etwas gegen den Pferdetransporter von White Oaks haben könnte. Dieser war vielleicht etwas eng, wackelig und nicht gerade luxuriös, aber ansonsten durchaus in Ordnung. Die Rampe bog sich durch und knirschte, als Storm den ersten Huf aufsetzte.

Er warf einen Blick in die Box und beschloss, dass für ihn nur Moths vertrauter Transporter mit der angenehm beruhigenden Gesellschaft von Bonnie, dem Esel, infrage kam. Er bäumte sich auf und blickte wild um sich. Es bestand kein Zweifel, dass er jeden zum Krüppel treten würde, der ihn auch nur mit sanfter Gewalt in den Transporter bugsieren wollte. Selbst Mrs Smith konnte mit ihren sonst so erfolgreichen Kniffen und Tricks nichts ausrichten.

«Er hat Angst, dass man ihn wieder in die Abdeckerei bringt», sagte Casey verzweifelt. «Armes Tier! Ich will ihn nicht noch mehr stressen. Wir müssen unsere Anmeldung zum Turnier zurückziehen.»

«Vielleicht kann Willow ihn in den Transporter locken», meinte Morag und deutete auf den pummeligen Schildpattkater, der gerade dabei war, nach einem unverhofften Frühstücksfang im Morgengrauen seine Schnurrhaare zu putzen. «Ich glaube, er verbringt viel Zeit in Storms Stall. Wir haben ihn in der Vergangenheit oft zu Turnieren mitgenommen, und er hat immer eine beruhigende Wirkung auf die Pferde gehabt.»

So unrealistisch es erscheinen mochte, dass eine Katze Storm in seinem gegenwärtigen Zustand beschwichtigen könnte – es funktionierte reibungslos. Kaum hatte sich Willow in seinem Körbchen ganz hinten im Transporter niedergelassen, schien Storm seine ganze Abneigung gegen das Fahrzeug abgelegt zu haben, blies geräuschvoll durch die Nüstern aus und spazierte in aller Seelenruhe über die Rampe in den Transporter.

Mittlerweile hatten sie sich eine Verspätung von 45 Minuten eingehandelt, und ein hartnäckiger Nebel auf der Autobahn verzögerte ihre Anreise zusätzlich. Als sie endlich in Deacon Rise ankamen, waberte dichter Dunst um die Bäume des Parks. Pferde und Reiter flogen schemenhaft wie Gespenster über Trainingshindernisse.

Die einzige freie Lücke auf dem Turnierparkplatz befand sich ganz in der Nähe von Anna Sparks’ riesigem, mit Werbeaufschriften vollgekleisterten Lkw – für Caseys Geschmack viel zu nahe. Der Transporter von White Oaks nahm sich neben dem Sparks-Brummer wie ein Spielzeugauto aus. Im Vorbeifahren sah Casey, wie Livvy Johnston eine blütenweiße Satteldecke über die umwerfend aussehende Meridian legte. In einer seitlichen Ladeluke des Trucks hing jede Menge glänzend poliertes Sattelzeug.

Casey war mit den Nerven am Ende. Wegen ihrer verspäteten Ankunft blieben ihr knapp zwanzig Minuten, um Storm zu entladen und mit ihm zur Dressur zu hasten. Wenig überraschend reihten sie im Viereck Fehler an Fehler und waren mit einer Gesamtpunktzahl von 49 noch einigermaßen gut bedient. Die Richter jedenfalls sahen dem Paar kopfschüttelnd zu. Nachdem ihr Mrs Smith eine Gardinenpredigt gehalten hatte, riss sich Casey für das Springen zusammen. Es lief auch alles recht gut, bis die Alarmanlage eines Autos losging, gerade als sie auf die Kombination zugaloppierten. Storm preschte dreimal um den Parcours, bevor Casey ihn schließlich mit Müh und Not stoppen konnte.

Völlig verzweifelt zog sie sich in den Transporter zurück, um sich für den Geländeritt umzuziehen. Plötzlich hörte sie die unverwechselbare Stimme von Anna Sparks. Sie schien so nahe, dass Casey Angst hatte, Anna würde gleich bei ihr im Transporter stehen. An Willow vorbeischielend konnte sie Anna im Außenspiegel sehen. Die junge Starreiterin stand mit Livvy und Raoul, dem drahtigen Pferdepfleger, zusammen und musterte Storm.

«Was für ein Klassepferd», sagte Anna. «Ein BMW in genau dieser Silberlackierung – das wär doch was! Da ist zwar noch etwas Winterfett dran, und sein Rücken dürfte noch eine Spur kräftiger sein, aber sonst ist dieses Pferd erste Sahne. Wem gehört es? Warum hat man es uns nicht angeboten?»

Drinnen im Transporter fiel Casey beinahe in Ohnmacht. Einen Moment lang vergaß sie, dass Annas Heldenstatus auf tönernen Füßen stand. Jetzt schoss es nur durch ihren Kopf: Eine der schönsten und talentiertesten Reiterinnen dieses Landes findet, dass Storm ein Klassepferd ist.

Dann hörte sie Raouls Lachen. Es klang hämisch, eine Spur bedrohlich sogar. «Erinnerst du dich nicht an ihn? Er gehört dem Mädchen mit dem Eseltransporter. Wir haben ihr doch letztes Jahr in Brigstock beim Abladen zugeschaut. Er sah aus wie ein abgegriffenes Plüschmammut. Du hast ihn ein ‹altersschwaches Maultier› genannt, was ihr nicht besonders gefallen hat.»

Anna sah ein zweites Mal hin. «Jetzt verkohlst du mich aber. Das ist nicht das Pferd vom letzten Jahr!»

Sie näherte sich Storm, doch dieser legte die Ohren zurück und schnappte nach ihr. Er verpasste ihren Arm nur um ein paar Millimeter. Sie hüpfte rasch zur Seite, um sich in Sicherheit zu bringen, und kicherte. «Im Betragen hast du aber noch Luft nach oben, mein Schöner. Raoul, das würdest du im Nu zurechtbiegen, nicht wahr?»

Raoul fletschte die Zähne wie eine Hyäne.

Livvy protestierte: «OK, er sieht vielleicht etwas besser aus, das ändert aber nichts daran, dass er eine volle Nulpe ist. Letzte Saison haben er und diese Casey bei fast jedem Turnier gefloppt – ääh ... abgesehen von Larksong Manor, aber du weißt ja, auch ein blindes Huhn ... Und auch hier sind sie katastrophal gestartet. Ihre Dressur war ein einziger Reinfall, und das Springen war großes Kino, weil sie über den Parcours heizten, als wären sie beim Rodeo. Es war zum Totlachen.»

«Das will gar nichts heißen», sagte Anna, die immer noch mit ihren eisblauen Augen Storm fixierte. «Solange er von so ’nem Eumel geritten wird, hat er doch keine Chance. Die sah ja aus wie eine Vogelscheuche. Und als sie erst anfing, von Badminton zu reden ... Die ist doch nicht ganz dicht! Und ihre Trainerin ... so ’ne Oldie. Ich möchte, dass ihr ihn für mich im Auge behaltet. Sobald er seine Leistung steigert, will ich informiert werden. Es wäre keine schlechte Idee, ihn zu kaufen, solange er noch billig zu haben ist.»

Im Inneren des Pferdetransporters kochte Casey vor Wut. Wie konnte jemand nur so arrogant sein wie Anna Sparks!

«Schenk ihr einfach keine Beachtung», riet ihr Mrs Smith, als sie nachschauen kam, warum Casey so lang brauchte, um sich fertig zu machen. «Es ist ihr in die Wiege gelegt worden, dass mit Geld und Schönheit alles möglich ist. Sie wird ganz schön auf die Welt kommen, wenn sie erst einmal rausfindet, dass dem nicht so ist. Das kannst du mir glauben. Ich habe es am eigenen Leib erfahren.»

Nach dieser Erfahrung war Casey entschlossener denn je, zu beweisen, dass sie die richtige Reiterin für Storm war, und stieg mit Leib und Seele in die Geländeprüfung ein. Sie schafften den Parcours zwar wieder fehlerlos, doch sie kassierten eine große Zeitstrafe. Dies und die katastrophalen Leistungen bei den Prüfungen des Vormittags führten dazu, dass sie – in Livvy Johnstons Worten – einmal mehr floppten. Dass sie sich dabei – wie durch ein Wunder – ein paar Qualifikationspunkte gutschreiben lassen durften, war ein schwacher Trost. Ihre Gesamtleistung war heute derart schwach gewesen, dass Casey gar nicht erst daran denken mochte, wie sie bei einem schwierigeren Wettbewerb abgeschnitten hätten.

«Ich habe keine Ausreden parat», sagte sie zu Mrs Smith, als sie im dichten, einspurigen Verkehr durch die grün-goldene Landschaft von Somerset schlichen. Der Nebel hatte sich aufgelöst und einem wolkenlosen, knallblauen Himmel Platz gemacht. Wollige Schäfchen hüpften neben stolzierenden Fasanen über satte Felder. Kirschbäume verteilten ihre Blüten wie Konfetti über smaragdgrüne Rasenflächen, auf denen reetgedeckte Häuser standen. Doch irgendwie machte die verschwenderische Schönheit des Sonntagnachmittags Caseys Elend nur noch viel schlimmer.

Zu Mrs Smith gewandt sagte sie: «Ich habe Sie schon wieder im Stich gelassen. Sie haben bestimmt längst genug von mir.»

«Jeder hat mal einen schlechten Tag», gab Mrs Smith ruhig zurück.

«Das stimmt. Aber ich hatte ein schlechtes Jahr. Anna Sparks hat völlig recht. Ich habe Storm nicht verdient. Als wir noch an der Hopeless Lane waren, gab es echte Gründe für meinen Misserfolg. Ich hatte keine Halle, das Heu war voller Staub, Moths Pferdetransporter, das knappe Budget, Mrs Ridgeleys Missmut, die fehlende Erfahrung. Doch in der Zwischenzeit habe ich Erfahrung gesammelt, und es fehlt mir an nichts, ich habe White Oaks und das Peach Tree Cottage – es ist wie im Paradies. Aber ich habe es wieder einmal geschafft, alles zu vermasseln. Es ist klar: Ladyhawke Enterprises wird aussteigen. Wir müssen nach London zurück und Storm schließlich doch verkaufen.»

Mrs Smith gab Gas, als sie auf die Autobahn auffuhr. «Ich denke nicht, dass dein Sponsor so hartherzig ist. Wie dem auch sei, aus dem heutigen Tag könntest du eine Lehre ziehen. Wie hat John Lennon doch so richtig gesagt: ‹Das Leben ist das, was passiert, wenn man gerade damit beschäftigt ist, andere Pläne zu schmieden.› Es kann so viel passieren: Reifen platzen, Zügel reißen, Pferde spielen verrückt, fallen aus dem Rhythmus, zertrampeln Hindernisse, und Alarmanlagen gehen zur falschen Zeit los. Daran musst du dich gewöhnen. Die erfolgreichsten Reiter sind nicht immer die besten Reiter, sondern jene, die es verstehen, locker zu bleiben.»

Dieser weise Ratschlag änderte nichts daran, dass sich Casey noch vierundzwanzig lange Stunden darüber Sorgen machte, dass Ladyhawke Enterprises sie fallen lassen könnte. In diesem Fall musste sie wohl oder übel Mrs Ridgeley anflehen, ihr wieder die alte Rumpelkammer an der Hopeless Lane zu überlassen. Doch dann kam ein Brief in einem Umschlag von Ladyhawke Enterprises. Er war in Somerset abgestempelt, und im Gegensatz zu den früheren Briefen war die Anschrift von Hand geschrieben.

«Bitte öffnen Sie ihn», bat Casey Mrs Smith. «Ich schaff es nicht.»

Mit rollenden Augen begann Mrs Smith vorzulesen:

Liebe Casey

Ich hoffe, die Anlage in White Oaks erfüllt Deine Bedürfnisse und Du fühlst Dich wohl im Peach Tree Cottage. Es wird Dich kaum überraschen, dass ich Dich in Aldon mit Interesse beobachtet habe. Klar, mit dem Ergebnis können wir nicht zufrieden sein. Ich habe das Gefühl, dass Du Dir Druck machst, weil Du das Gefühl hast, Deinem Sponsor etwas beweisen zu müssen. Es ist mir ein Bedürfnis, Dich in dieser Hinsicht zu beruhigen. Du musst wissen, dass ich mich für die ganze Saison engagiert habe – komme, was wolle. Selbst wenn Du bei jedem Turnier auf dem Schlussrang landest, werde ich meine Unterstützung nicht zurückziehen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass Du früher oder später auf die Erfolgsstraße einbiegen wirst, und ich habe alle Geduld der Welt. Ich weiß, dass gut Ding Weile haben will. In der Zwischenzeit wünsche ich Dir viel Glück.

Mit herzlichen Grüßen

Darunter war die übliche unleserliche Unterschrift hingekritzelt.

Vielleicht hatte es damit zu tun, dass jetzt der ganze Druck von ihr gewichen war und sie Mrs Smiths Ratschlag beherzigte, locker zu bleiben. Vielleicht war es die Anwesenheit von Storms Lieblingshufschmied, der sich ganz offensichtlich darüber freute, sie zu sehen. Auf jeden Fall fühlte sich Casey fit, als sie zum Burnham Market International in Norfolk eintraf. Auch wenn sie nicht gerade vor Zuversicht strotzte, so war sie doch eindeutig bei besserer Gemütslage als in der Vergangenheit. Da die ganze Sache nur noch viel schlimmer wurde, wenn sie sich Sorgen machte, entschied sie sich, diese gleich ganz über Bord zu werfen.

Burnham Market war eines der schönsten Dörfer, das sie je gesehen hatte. Feinkostläden, Antiquitätengeschäfte und Kunstgalerien mit Meeresbildern reihten sich um den grasbewachsenen Dorfplatz, auf dem ein keltisches Kreuz stand. Sie wohnte zusammen mit Mrs Smith in gemütlichen Dachstockzimmern eines stimmungsvollen alten Pubs, in dem reichhaltige vegetarische Braten und ein Schokoladepudding aufgetischt wurden, die sie in der ersten Nacht gleich in einen komaähnlichen Schlaf versetzten. Am nächsten Morgen war sie so entspannt, dass Mrs Smith befürchtete, sie würde gleich vom Sattel kippen.

Ihre Besorgnis sollte sich als unbegründet erweisen. Erstmals konnten Casey und Storm in der Dressur die hohen Erwartungen erfüllen, die sie durch die Trainingsleistungen in White Oaks geweckt hatten. Mrs Smith hatte Storm die Mähne eingeflochten und der Zinnfarbe seines Fells mithilfe von Babyöl eine besondere Note verliehen. Nicht ohne Stolz nahm sie zur Kenntnis, dass sich im Vorbeigehen einige Köpfe nach ihm umdrehten. Doch nicht nur Storm erwies sich als Augenöffner. Die Landluft hatte Casey sehr gut getan. Ihre Pfirsichhaut verlieh ihr das Aussehen eines gesunden Bauernmädchens, und sie war fit wie eine junge Hochleistungssportlerin. Mrs Smith hatte sie dazu ermutigt, regelmäßig zu joggen, Dehnungsübungen zu machen und Gewichte zu heben.

Als Peter sah, dass Mrs Smith am Vorring auf Caseys Start beim Springen wartete, ging er mit einer Tasse Kaffee zu ihr hinüber und fragte: «Nervös?»

«Ein bisschen wegen Casey. Aber sonst bin ich zuversichtlich.»

«Mit Ihnen hat sie das große Los gezogen. Sie sagt, sie haben ihr Leben verändert.»

«Kann sein», antwortete Mrs Smith. «Aber sie hat auf jeden Fall meines verändert, mich von einem schrecklichen Leiden befreit: Ennui

Bevor Peter fragen konnte, was sie damit meinte, kam Casey auf Storm herbeigeritten. Er konnte kaum glauben, wie sehr sich das Pferd verändert hatte – aber auch Casey. Das sollte das Mädchen sein, das ihm einmal als unscheinbar vorgekommen war? Auch jetzt war sie nicht im klassischen Sinne hübsch. Vermutlich würden ebenso viele Menschen auf der Straße an ihr vorbeigehen, ohne sie zu bemerken, wie noch vor einem Jahr. Doch wer sie etwas näher betrachtete, musste unweigerlich feststellen, dass da ein gewisses Etwas war – nachhaltiger und wertvoller als die atemberaubende Hauruckschönheit von Anna Sparks –, eine diskrete Ausstrahlung, mit der man sich erst anfreunden musste und die einen wie ein Schlag in die Magengrube traf, wenn man am wenigsten darauf gefasst war. Sie hatte, was die wenigsten Menschen haben: Präsenz.

Storm nahm die ersten beiden Hindernisse mit so viel Elan, dass er Casey beinahe abwarf. Auch den Oxer ging er viel zu schnell an, sodass er prompt eine Stange berührte. Sie wackelte gefährlich und wäre beinahe aus der Halterung gefallen. Danach schien er sich zu beruhigen, bewältigte Doppelrick und Triplebarre mühelos und setzte gerade – die Ohren steif aufgestellt – zum zweiten Sprung der Kombination an, als ein kleines Kind in der ersten Zuschauerreihe einen spitzen Schrei ausstieß.

Storm legte die Ohren an, doch Casey schien ihm etwas zu sagen, sodass er sich mit knapper Not beruhigen und wieder fangen konnte. Er schlug heftig mit dem Schweif, übersprang das letzte Kombinationselement und drehte in Richtung Mauer ab. Mittlerweile hatte sich das Kleinkind in einen regelrechten Schreikrampf hineingesteigert.

«Daran haben wir hart gearbeitet», sagte Mrs Smith. «Wie man mit Ablenkungen fertig wird.»

Peter fragte sich, ob sie damit eine Andeutung machen wollte. Aber eigentlich sah er sich nicht als Ablenkung, hatte ihm Casey doch kaum Beachtung geschenkt. Sie waren zwar befreundet, aber sie hatte nur Augen für ihr Pferd. Doch dann kam ihm der ganze Gedankengang absurd vor. Angelica Smith war nicht bekannt dafür, dass sie ein Blatt vor den Mund nahm. Sollte er sie stören, würde sie es ihm ins Gesicht sagen.

Storm schaffte die Mauer mit ausreichendem Abstand, setzte mühelos über die letzten zwei Hindernisse und kam schließlich ohne Fehler ins Ziel. Als sie den Parcours verließen, tätschelte Casey voller Begeisterung seinen Hals.

«Super! Geben Sie ihr mein Kompliment weiter, bitte», sagte Peter und war verschwunden, noch bevor Mrs Smith ihn bitten konnte zu bleiben.

«War Storm nicht umwerfend gut?», rief Casey, sprang von seinem Rücken und belohnte ihn gleich mit einer halben Stange Polo-Mints, die ihr Mrs Smith entgegenstreckte.

Mrs Smith lachte. «Ihr beide wart umwerfend gut. Das war euer allererster fehlerfreier Parcours beim Springen. Wenn das keine tolle Leistung ist! Genießt es, denn ihr habt es verdient. Doch dann müsst ihr euch innerlich auf den Geländeritt vorbereiten. Das wird eine sehr schwierige, anspruchsvolle Prüfung, die euch ein Höchstmaß an Konzentration abverlangen wird.»

Der Rat war durchaus gut gemeint, aber wieder sollte sich ihre Besorgnis als unbegründet herausstellen. Casey ritt sich in einen regelrechten Rausch – einen Rausch allerdings, bei dem ihr Denken so fokussiert war wie selten zuvor. Storm war in nervöser Spannung und leistungswillig. Doch da seine Reiterin so ruhig war und die Zügel ganz sanft einsetzte, verspürte er weder den Drang, sich zu widersetzen noch davonzuschießen. Er flog mit unbeschreiblicher Leichtigkeit über die Geländestrecke und schien aus purer Freude zu springen.

Während ein Hindernis nach dem anderen unter ihnen vorbeihuschte, kamen Casey Mrs Smiths Worte in den Sinn, als würde ihr die Lehrerin über die Schulter ins Ohr raunen: «Gib die Zügel nach, damit er den Kopf senken und den Trakehnergraben ins Auge fassen kann. Gut so. Jetzt frontal auf die Treppe zu. Lass ihm Zeit, damit er sich auf jede Situation neu einstellen kann. Er schafft diese Strecke ohne Weiteres, wenn er alles überblicken kann. Genau wie du auch. Aber auch hier gilt: Eile mit Weile.»

Und dann war alles viel zu schnell zu Ende. Als das Ziel und die jubelnden Zuschauermassen in Caseys Blickfeld kamen, musste sie sich zuerst aus ihrem wunderbaren Traum in die Gegenwart zurückholen. Mrs Smith musste sich mehrmals wiederholen, bis Casey realisierte, was sie ihr sagen wollte.

«Du bist unter den Ersten. Es ist zwar erst die Hälfte durch, aber es dürfte schwierig sein, dich hier noch zu verdrängen.»

Schließlich reichte es zum achten Platz in der Gesamtwertung. Wenige Minuten nach ihrem Geländeritt kamen aus dem Nichts ein Regenschauer und ein böiger Wind auf, was vielen großen Namen einen Strich durch die Rechnung machte und Casey in der Tabelle immer weiter vorrücken ließ. Ihre Herkunft aus dem Londoner East End und das außergewöhnliche Pferd hatten die Aufmerksamkeit eines Journalisten erregt, der Casey im Sportteil des Telegraph unter dem Titel «Aus Außenseiterin wird Spitzenreiterin» gleich einen ganzen Kommentar widmete:

«Manchen Szenekennern, die sich noch vor einem Jahr über die sechzehnjährige Casey Blue und ihren ‹Gaul› Storm Warning aus der Abdeckerei lustig machten, muss heute Morgen das Lachen im Gesicht gefroren sein, nachdem die junge Reiterin aus Londons die Burnham Market International Horse Trials als sensationelle Achte der mittleren Leistungsklasse beendete. Damit erntete sie nicht nur Lob vom kanadischen Sieger Alex Lang, sondern verwies auch Anna Sparks, die bisher unbestrittene Königin der jungen Vielseitigkeitsreiterei, auf ihrer braunen Stute Meridian um zwei Plätze auf den zehnten Rang.»

Casey und Mrs Smith feierten den Erfolg mit einem Pommes-Sandwich in einem gemütlichen Fish & Chips-Lokal mit Blick aufs Meer. Casey hätte nur zu gerne Peter und seinen Vater dabei gehabt, doch sie getraute sich nicht, sie zu fragen, weil sie noch eine lange Rückfahrt nach Wales vor sich hatten. Dabei war es ihr klar geworden, dass Peter sich sehr für sie gefreut hatte. Er wollte denn auch nicht gehen, ohne Storm vorher noch für das nächste Turnier beschlagen zu haben.

Dieser fantastische Tag sollte nur durch einen einzigen Wermutstropfen getrübt werden. Gerade als Casey Storm aus seiner Box abholen wollte, um ihn zum Transporter zu bringen, lief ihr Raoul, Anna Sparks’ Pferdepfleger, über den Weg.

«Herzlichen Glückwunsch», sagte er in nicht ganz akzentfreiem Englisch, das Casey auf eine argentinische oder brasilianische Herkunft schließen ließ. Die Arme auf die Stalltür gestützt, ein falsches Lächeln auf den Lippen, sagte er: «Gar nicht schlecht, deine Leistung heute. Da könnte man glatt auf den Gedanken kommen, dass dein Pferd auf irgendwas drauf war.»

Casey traute ihren Ohren nicht. «Was hast du da eben gesagt?»

«Ach komm, du weißt doch, dass Pferde selten einen so großen Fortschritt machen, wenn man ihnen nicht ein ... äh ... bisschen... äh ... auf die Sprünge hilft.»

Casey fixierte ihn mit einem Blick, der einen schwächeren Menschen gleich ins Jenseits befördert hätte. Doch an Raoul perlte er völlig wirkungslos ab. Es schien ihm zu gefallen, Leute zu reizen, denen er sich überlegen fühlte. Umso mehr freute er sich, dass Casey angebissen hatte.

«Was genau willst du damit sagen?»

Raoul grinste nur und hob die Hände, als wolle er einen Angriff abwehren. «Nichts, meine liebe Casey, rein gar nichts. Ich stelle nur fest, dass ein Pferd einen solchen Wandel kaum ‹auf natürliche Weise› durchmacht.»

Casey war fast gelähmt vor Wut und versuchte, sich damit zu beruhigen, dass sie an Storms Satteldecke herumhantierte. «Du hast dir wohl nie auch nur im Entferntesten überlegt, dass sein Wandel davon kommen könnte, dass er geliebt, gut ernährt und hervorragend trainiert wurde? Aber wie solltest du auch, wo du von Zuneigung und Liebe absolut keine Ahnung hast!»

Raoul gab ein fieses Lachen von sich. In Storms Augen wurde das Weiße sichtbar. Der Mann strömte einen Geruch aus, der ihn an die Abdeckerei erinnerte.

Casey öffnete die Stalltür und schob sich mit Storm an Raoul vorbei, wobei sie das Pferd so führte, dass er einen Sprung zur Seite machen musste.

«Hast du nicht etwas vergessen?»

Als Casey sich umdrehte, sah sie, wie Raoul die Plastikflasche mit Janets Trank in die Höhe hielt. Janet belieferte sie alle zwei Wochen mit Nachschub. Caseys anonymer Gönner hatte sie ermutigt, den Trank weiterhin einzusetzen. Als ihr klar wurde, dass sie gar nicht wusste, woraus dieser bestand, lief ein kurzer Schauder über ihren Rücken. Sie arbeiteten schon so lange damit. Storm fand ihn lecker, und er schien ihm auch so gut zu bekommen, dass Casey sich gar keine Fragen gestellt hatte. Plötzlich realisierte sie, dass Janets Trank eine leistungssteigernde Substanz enthalten könnte, die vielleicht auf der langen Dopingliste der FEI, des internationalen Dachverbandes für Pferdesport, figurierte. Wer weiß, vielleicht hatte Raoul eine Probe entnommen und sorgte nun dafür, dass sie und Storm mit einer lebenslänglichen Wettkampfsperre belegt würden.

«Ist das der Zaubertrank, der Storm in kürzester Zeit vom Klepper zum Paradepferd aufsteigen ließ?», fragte Raoul mit vielsagendem Blick, während Caseys Gesicht nach und nach aschfahl wurde. «Ich will doch sehr hoffen, dass das Gebräu keine illegalen Substanzen enthält.»

Sie riss ihm die Flasche aus der Hand. «Ach hör doch auf. Das ist ein Vitamingetränk.»

Storm, der Raouls schlechte Schwingungen empfangen hatte, schlug mit einem Bein aus und verfehlte den Pferdepfleger nur knapp.

«Ach, nennt man das jetzt so?», rief Raoul ihnen hinterher.