«Janet passte es überhaupt nicht, dass sie eine ihrer geheimen Rezepturen verraten musste», sagte Mrs Smith. «Aber unter den Umständen konnte sie es durchaus nachvollziehen. Sie sagt, ihr Trank Nr. 59 bestehe aus höchstwertiger Spirulina, einer proteinreichen Gattung von Mikroalgen, die als Nahrungsergänzungsmittel eingesetzt wird, frischem Queckenpulver, Vitamin B, dem energiespendenen Coenzym Ubichinon 10, Leinöl, Omega-3-, -6- und -9-Fettsäuren, Eisen und Magnesium sowie Karotten- und Apfelsaft als Geschmacksverstärker. Eine mit uns befreundete Chemikerin hat die Mischung analysiert und ein entsprechendes Attest ausgestellt.»
Sie nahm ihre Lesebrille ab und blickte Casey an. «Von mir aus kann Raoul jetzt seine abenteuerlichen Anschuldigungen in die Welt setzen. Letztendlich wird er sich damit nur lächerlich machen.»
Casey atmete erleichtert auf. «Zum Glück!» Doch schon legte sie die Stirn wieder in Falten. «Wir müssen trotzdem auf der Hut sein. Wenn Raoul dieses Mittel recht ist, wird er nichts unversucht lassen, uns zu bremsen.»
Doch damit ließ sie die Geschichte ruhen. Schließlich hatte ihr Mrs Smith immer wieder gesagt, sie müsse sich innerhalb – nicht außerhalb – der Turnierarena beweisen.
Die Top-Ten-Platzierung beim Burnham Market International hatte Casey ein ganz neues Selbstvertrauen verliehen. Die Welt des Vielseitigkeitsreitens sah plötzlich ganz anders aus: Sie war jetzt ein anerkanntes Talent, trug schicke Kleidung, verfügte über einen ganz anständigen Pferdetransporter und ein Pferd, um das sie ihre Mitbewerber beneideten. Außerdem kam ihr und Mrs Smith zugute, dass sie mit Peter und Evan befreundet waren, die in der Vielseitigkeitsszene höchst beliebt waren. Der kameradschaftliche Kreis, an dem Casey schon in Larksong Manor etwas geschnuppert hatte, öffnete sich nach und nach auch für sie und ihre Trainerin, auch wenn sie beide nach wie vor als ziemlich exzentrisch galten.
Die meisten Reiter, die sie kennenlernte, standen mit beiden Füßen fest auf der Erde. Das Vielseitigkeitsreiten galt als Hochrisiko-Sportart, bei der schwere Verletzungen, ja sogar Todesfälle nicht auszuschließen waren. Selbst die Besten mussten ab und zu empfindliche Niederlagen einstecken. Außerdem zog der Sport viele leidenschaftliche Amateure aus allen Schichten an. Casey kam die Szene manchmal wie eine liebenswerte Ansammlung von sympathischen Verrückten vor. An den Wochenenden schlüpften sie aus ihren Alltagsrollen als Buchhalter, Lehrer, Krankenpfleger oder Schauspieler und gaben unvernünftig viel Geld aus, um mit ihren Pferden bei Eiseskälte oder in Bruthitze über furchterregende Hindernisse und durch Morast und Schlamm zu hetzen.
Wenn man der Gerüchteküche Glauben schenkte, ließen die Profis, die beinahe jede Woche bei Turnieren Kopf und Kragen riskierten, immer wieder bei wilden Partys Dampf ab. Casey konnte nicht verstehen, woher diese Leute die Zeit und die Energie für derartige Beschäftigungen holten. So sehr sie ihr neues Leben mochte, es war doch auch sehr hart. Das Training, die Pferdepflege, der Heimunterricht, das Joggen und die Yogaübungen waren so ermüdend, dass sie jeden Abend todmüde ins Bett sank. Doch der Aufwand lohnte sich.
Ende April reisten Casey und Mrs Smith nach Gloucestershire, um die Badminton Horse Trials als Zuschauer zu verfolgen. Für Casey war es eine sowohl stimulierende wie auch furchterregende Erfahrung. Die Leistungen bei der Dressur erschienen ihr ebenso unerreichbar hoch wie die Hindernisse beim Springreiten. Storm hatte zwar an Gewicht zugelegt, aber er war immer noch eher auf der schlanken Seite. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie er im nächsten Jahr gegen Pferde antreten sollte, wie sie jetzt in Badminton Park zu sehen waren – mit Muskeln, die sich unter dem glänzenden Fell wie kräftige, zuckende Schlangen ausnahmen. Noch unrealistischer war es für sie, dass sie sich mit den erhabenen, höchst erfolgreichen Männern und Frauen messen würde, die in Frack und Zylinder an ihr vorbeistolzierten: die besten Reiter der ganzen Welt.
Es war nicht das erste Mal, dass sie von schwerwiegenden Zweifeln über das Ziel geplagt wurde, das sie sich selbst gesetzt hatte. Jeder Experte hatte ihr bestätigt, dass Mrs Smith recht hatte. Im Durchschnitt dauert es mindestens fünf Jahre, bis es ein Pferd nach Badminton schaffte, denn das Qualifikationsverfahren war extrem streng.
«Die Zeiten, als ein knapp den Teenagerjahren entwachsener Amateur in Badminton auftauchen und auch noch gewinnen konnte, sind längst vorbei», hatte ihr Alex Langs Pferdepfleger gesagt. «Die Chancen, im Casino den Jackpot abzuräumen, sind größer. Gut, Anna Sparks ist vielleicht eine Ausnahme, aber sie reitet mit Rough Diamond ein Weltklassepferd und verfügt über gut zehn Jahre Wettkampferfahrung. Nächstes Jahr wird sie recht gute Aussichten haben, und ich weiß, dass sie unbedingt die jüngste Badminton-Gewinnerin seit Richard Walker werden will, der 1969 auf Pascha im Alter von achtzehn Jahren und zweihundertsiebenundvierzig Tagen den Sieg davongetragen hatte. Alex wird sich auf jeden Fall warm anziehen müssen.»
Als sie am Sonntag beim Geländeritt mit Mrs Smith am Wassergraben saß und sich genauso fehl am Platz, naiv und realitätsfremd vorkam, wie Mrs Ridgeley sie dargestellt hatte, fragte Casey kleinlaut: «Träume ich einen unmöglichen Traum, Mrs Smith? Sollte ich nicht aufgeben, bevor es zu spät ist und Ladyhawke Enterprises noch mehr Sponsorengeld für mich verschwendet?»
«Wenn du anfängst, so zu denken, dann solltest du in der Tat aufstecken», sagte Mrs Smith unverblümt. «Falls in dir jedoch immer noch das Siegerherz schlägt, das ich gespürt habe, als wir uns kennenlernten, dann muss die Antwort nein lauten. Wahre Gewinner vergleichen sich nicht mit anderen. Sie sehen sich selbst als Champions.
Als du Storm das Leben gerettet hast, wusstest du nicht, wo du ihn unterbringen und wie du ihn ernähren würdest. Und du hast trotz all der widrigen Umstände an deinem Plan festgehalten, weil du dich von positivem Denken leiten ließest. Du hattest dein Ziel vor Augen und stets daran geglaubt und hart gearbeitet. Wenn du Badminton gewinnen willst, musst du dich genauso verhalten. Schau dir diese Reiter an und stell dir vor, zu ihnen zu gehören. Stell dir vor, dass Storm die Hindernisse mit Leichtigkeit und Stolz überspringt. Wenn du das zu deinem Traum machst, wirst du daran glauben.»
Mit dieser inspirierenden Aufmunterung erreichte Casey im Mai den zwanzigsten Rang in Cedar Hill. Zwei Wochen später nahm sie eine entscheidende Hürde, als sie sich beim dreitägigen Internationalen Turnier von Houghton für die höhere Leistungsklasse qualifizierte, obwohl sie eine Zeitstrafe von 35 Punkten und 20 Strafpunkte wegen Ungehorsams kassierte, als Storm den Wassergraben verweigerte.
Mrs Smith regte nun eine sechswöchige Wettkampfpause an, um im Juli erholt beim East Shore Classic in Devon antreten zu können. So hatte Casey Zeit, sich in Gesellschaft ihres Vaters zu entspannen, der sie unheimlich vermisst hatte, ein paar Schulprojekte aufzuarbeiten und sich auf die Dressurarbeit mit Storm zu konzentrieren.
«Rhythmus und Gleichgewicht, daran musst du denken», sagte Mrs Smith, als Casey in der Halle von White Oaks einen versammelten Galopp gründlich verhaute. «Ich möchte jetzt mal ein sauberes Schulterherein und einen Travers sehen. Vergiss die Zügelhilfen nicht. Und Klaus Balkenhol sagt immer, dass eine Anlehnung, die nicht auch von der Hinterhand kommt, keine richtige Anlehnung ist.»
Die ausgewogene Mischung aus Entspannung und diszipliniertem Training zahlte sich in der Dressur beim East Shore International, Caseys erstem Zwei-Sterne-Turnier, aus, das sie mit hervorragenden 37 Punkten in der Dressur und nur einem Fehler im Springreiten abschloss.
Die Zeichen standen auch für den Geländeritt auf Erfolg, als Storm beim Wassergraben wieder auf die Bremse trat und diesmal Casey Bekanntschaft mit dem kühlen Nass machen ließ, was sie 65 Fehlerpunkte kostete. Tropfnass und voller Schlamm schwang sie sich wieder auf ihr bockiges Pferd und ritt die Strecke zu Ende. Zu ihrem Unglück hatte jemand (sie hatte Raoul im Verdacht) den Zwischenfall gefilmt und sogleich auf You-Tube hochgeladen. Am nächsten Morgen war der Clip, in dem sie wie eine Schlammcatcherin aus dem Wassergraben kroch, schon beinahe 5000-mal angeklickt worden.
Auch Peter hatte sich das Filmchen angesehen und es zum Totlachen lustig gefunden, was er Casey dummerweise gleich unter die Nase reiben musste. «Deshalb liebe ich die Vielseitigkeitsreiterei», sagte er ihr. «Sie bringt alle auf den Boden zurück. Wie bitte? Nein, ich wollte damit natürlich nicht sagen, dass du den Kopf in den Wolken trägst. Äh ... ich habe nur gemeint ... äh ... Casey, bitte warte doch einen Moment ... Casey?»
«Das passiert sogar den Besten», meinte Mrs Smith ganz ohne Anteilnahme. «Da musst du drüberstehen. Und wer auch immer den Clip im Internet eingestellt hat, ist nur neidisch, weil du drauf und dran bist, etwas zu schaffen, wofür andere normalerweise Jahre brauchen. Wenn du dich in Aston le Walls nur einigermaßen im Sattel hältst, qualifizierst du dich problemlos für das Drei-Sterne-Turnier von Hartpury.»
Das ließ sich Casey nicht zweimal sagen. Raoul und Livvy Johnston guckten belämmert aus der Wäsche, als sie es ausgerechnet dort, wo sie im Vorjahr derart gefloppt hatte, unter die besten Zwanzig schaffte und die versammelte Journalistenschar verblüffte. Es war besonders genugtuend, dass sie dabei Livvy hinter sich ließ, die an einem Hindernis vorbeiritt und disqualifiziert wurde.
Sie war bei bester Stimmung und gerade dabei, Storm abzuspritzen und sein nasses Fell zu bewundern, das wie Alufolie glänzte, als Raoul und Livvy vorbeigingen.
«Tolle Leistung», raunte ihr Livvy zu und machte dabei ein finsteres Gesicht, das überhaupt nicht zu ihren Worten passte.
Erfreut sagte Casey: «Danke!»
Raoul kam ihr unnötig nahe und musterte das Pferd kritisch. «Gibst du Storm immer noch diesen Vitamincocktail? Pass nur auf, wenn die FEI für einen Dopingtest vorbeischaut. Es wäre doch jammerschade, wenn deine Pläne für Badminton vereitelt würden.»
Urplötzlich verschwand Caseys Lächeln. «Jammerschade würdest du das finden? Dass ich nicht lache. Aber die dürfen ruhig testen. Als ich die Dopingliste zum letzten Mal konsultiert habe, waren Karottensaft und Queckenpulver noch erlaubt.»
«Ich will damit nur eines sagen», gab Raoul zurück. «Wenn ein Pferd aus dem Nichts kommt und wie eine Rakete abgeht, werden die Leute neugierig. Es dauert noch eine Weile bis Badminton, und es wäre schade, wenn Storm in der Zwischenzeit etwas zustoßen würde.»
Instinktiv baute sich Casey schützend vor Storm auf. «Soll das eine Drohung sein?»
Der Stallbursche antwortete mit seinem unheimlichen Hyänenlachen.
Livvy kicherte. «Raoul wollte dir nur einen guten Rat geben.»
«Behaltet euren guten Rat für euch», zischte Casey. «Ihr könnt ihn selbst am besten gebrauchen.»
Unvermittelt richtete Casey den Wasserschlauch gegen Livvy und Raoul. Aufgeschreckt suchten die beiden das Weite.
Drinnen im Pferdetransporter stieg Casey aus ihren Reithosen. Sie zitterte am ganzen Leib. Die Unerschrockenheit, die sie eben an den Tag gelegt hatte, war nur oberflächlich. Die Befriedigung, die sie empfand, wenn sie mit ihrem geliebten Storm an Turnieren teilnahm und Fortschritte verzeichnete, die fruchtbare Zusammenarbeit mit ihrer Freundin und Trainerin wurden immer wieder durch die Angst getrübt, dass Storm etwas zustoßen könnte. Ein Betrug, eine Verletzung, ein Knochenbruch, ein Sturz, der sie die Nerven verlieren ließ – die Liste möglicher Fallstricke war endlos lang.
Sie war dermaßen in ihrer düsteren Gedankenwelt gefangen, dass sie ihren eigenen Augen nicht traute, als sie aus dem Transporter wieder ins Freie trat: Ein kleiner alter Mann stand bei Storm und schien ihm etwas geben zu wollen. Da er ihr den Rücken zuwandte, sah er sie nicht. Er flüsterte dem Pferd etwas zu und hielt ihm dann die hohle Hand hin. Storm schnaubte laut, wich aber nicht zurück. Er starrte den Mann an und zog nervös an seinem Führstrick.
Hunderte von Schauergeschichten über Leute, die dafür bezahlt werden, das Pferd eines Konkurrenten zu vergiften oder zu betäuben, jagten jetzt durch Caseys Kopf. Sie machte einen Satz auf den Mann zu und schrie: «Gehen Sie weg von ihm. Was fällt Ihnen eigentlich ein?»
Der Mann erstarrte. Dann duckte er sich zusammen wie ein geschlagener Hund. Als er sich umdrehte, stockte Casey der Atem. Der Mann hatte ein violett gefärbtes Gesicht und sah sehr krank aus. Obwohl es warm war, schlotterte er und atmete oberflächlich und hektisch. Er trug einen alten, schlabbrigen Anzug, der an seinem gebrechlichen Körper herunterhing.
«Kann ich Ihnen helfen?», fragte sie etwas freundlicher. Sie wusste nicht, ob der Mann Böses im Schilde führte. Sie wusste nur, dass er todkrank war.
Er blickte sie mit feuchten Augen an. «Dafür ist es zu spät.» Er griff in die rechte Westentasche und kramte mit Mühe eine Schachtel Zigaretten hervor. «Sargnägel nannte man die, als ich jung war. Doch ich schlug die Warnung in den Wind. Aber so ist das nun mal, wenn man jung ist. Das weißt du wohl am allerbesten. Du hast noch das ganze Leben vor dir.»
Er deutete mit seinem schrumpeligen Kinn auf Storm: «Ich habe einmal ein solches Pferd gekannt.»
Jetzt fiel der Groschen. Casey wusste sofort, wen sie vor sich hatte. Ein Schrecken durchlief sie. Sie hatte nur einen Gedanken: Bestimmt ist er gekommen, um seine Besitzrechte für Storm zu beanspruchen. Bestimmt will er mir mein geliebtes Pferd wegnehmen. Und ich habe rechtlich keine Möglichkeit, ihn daran zu hindern.
Vorsichtig wagte sie sich vor: «Und wie hieß dieses Pferd, wenn ich fragen darf?»
Er fischte eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie mit seinen zitternden gelben Fingern an. «Silver Cyclone», sagte er und ließ beim zweiten Wort den Rauch seiner Zigarette wie die Dampffahne einer Lokomotive aufsteigen. «Das beste Pferd, das ich je gekannt habe. Einmal ließ ich ihn röntgen, weil ich meinte, er sei krank.» Der Tierarzt ist fast in Ohnmacht gefallen, als er die Bilder sah. ‹Lev›, sagte er zu mir. ‹Silver Cyclone hat ein Herz, das fast doppelt so groß ist wie das eines normalen Pferdes.› »
Casey starrte ihn ungläubig an. «Was bedeutet das?» Sie hatte Schreckensvisionen, in denen Storm unter einer Herzattacke zusammenbrach, weil sie ihn zu sehr gefordert hatte.
Der alte Mann bekam einen Hustenanfall, der so lange dauerte und so stark war, dass Casey befürchtete, er würde an Ort und Stelle zusammenklappen. Sie blickte sich nach Hilfe um. Ein Stallbursche, den sie kannte, kam herbeigelaufen. Gerade wollte sie ihn bitten, den Notarzt zu rufen, als der alte Mann seinen Atem wiederfand.
«Entschuldige bitte», stieß er keuchend hervor. «Verdammter Mist, diese Krankheit.» Er zog an seiner Zigarette.
«Sie haben mir gerade von seinem großen Herzen erzählt», erinnerte ihn Casey. «Ist das ... äh ... war das etwas Schlechtes?»
«Nein, ganz im Gegenteil. Hast du je von Eclipse, dem berühmten amerikanischen Rennpferd gehört? Ein Blitz auf vier Beinen. Das Herz von Eclipse war doppelt so groß wie die Pumpe eines Durchschnittspferds und er hat dieses Gen – den sogenannten X-Faktor – weitervererbt. Auch das legendäre australische Rennpferd Phar Lap hatte ein Herz, das doppelt so groß war wie normal. Oder der Fuchshengst Secretariat, das beste Rennpferd aller Zeiten, eine regelrechte Maschine. Er hat das Triple-Crown-Rennen um einunddreißig Längen gewonnen. Als er starb, stellte man fest, dass sein Herz zweieinhalbmal so groß war wie der Durchschnitt. Damals, als man mir sagte, dass Silver Cyclone ein übergroßes Herz hat, habe ich das als gutes Zeichen gewertet.»
Casey war fasziniert von diesen Superpferden, die mit ihren enorm großen Herzen über die Rennbahnen preschten. «Und war es ein gutes Zeichen?»
Wieder zog der Mann an seiner Zigarette und brach prompt in den nächsten Hust- und Keuchanfall aus.
Nachdem er sich erholt hatte, sagte er: «Vielleicht habe ich den falschen Weg für ihn ausgesucht. Ich habe ihn einmal gerettet – dafür musste er mir dankbar sein. Aber eigentlich erging es ihm bei mir schlechter als im Zirkus, vor dem ich ihn gerettet hatte. Ich wollte ihn um jeden Preis als Rennpferd einsetzen, doch davon wollte er nichts wissen. Er hat mein Herz gebrochen und mich ein Vermögen gekostet – also habe ich es ihm heimgezahlt. Ich war entschlossen, ihn kaputt zu machen. Ich kann es kaum eingestehen, aber ich wollte ihn leiden sehen. Wirklich leiden sehen. Meine Familie flehte mich an, ihn zu verkaufen, aber ich wollte seinen Willen brechen. Ich hab’s mit Schlägen versucht, indem ich ihn aushungerte – doch ganz egal, was ich ihm zuleide tat, der Blick in seinen Augen, mit dem er mich anklagte, mit dem er mich verurteilte – dieser Blick verschwand nie.»
Tränen liefen über die Wangen des alten Mannes. «Auf jeden Fall werde ich meine Scham mit ins Grab nehmen. Ich werde mir selbst nie verzeihen.»
Casey wusste nicht, was sie sagen sollte. In den Wochen nach Storms Rettung aus der Abdeckerei hatte sie in Gedanken immer wieder hart mit seinem ehemaligen Besitzer abgerechnet. Für sie war dieser Mann ein Ungeheuer. Sie betitelte ihn mit immer neuen Schimpfworten und wünschte ihm dieselben Qualen, die er dem Pferd bereitet hatte. Jetzt wusste sie, dass er genau diese oder vielleicht sogar schlimmere Schmerzen am eigenen Leib hatte erfahren müssen.
Der Mann trat die Zigarette mit einem abgewetzten Schuh aus und blickte Casey mit bodenloser Traurigkeit an. «Ich bin hergekommen, weil ich in einer Zeitung ein Bild von deinem Pferd gesehen und geglaubt hatte, einen Geist zu sehen. Irgendwie bekam ich das Bild nicht mehr aus dem Kopf. Weißt du, es gab Zeiten, da bedeutete mir Silver Cyclone mehr als meine eigene Familie. Wenn ich wüsste ...» seine Stimme wurde brüchig, «wenn ich wüsste, dass er am Leben und in guten Händen ist, könnte ich in Frieden sterben.»
Casey ging auf Storm zu, drückte ihre Wange gegen seinen Kopf und streichelte seine Nase. Er zitterte, doch unter Caseys Berührungen beruhigte sich wenigstens sein Atem. «Ich kenne Ihren Silver Cyclone nicht», sagte sie. «Aber ich weiß, dass ich meinen Storm mehr als alles andere auf dieser Welt liebe. Ich würde mich einem Löwen entgegenwerfen, um ihn zu beschützen.» Dann fügte sie trotzig hinzu: «Nichts und niemand wird ihn mir je wegnehmen.»
Der Anflug eines Lächelns ging über den schmallippigen, traurigen Mund des alten Mannes. «Danke. Danke, Casey Blue. Mehr brauche ich nicht zu wissen.»
Darauf drehte er sich um und humpelte davon.
In diesem Augenblick wusste Casey, dass sie den alten Mann nie wiedersehen würde.
Auf der Rückfahrt sagte sie triumphierend zu Mrs Smith: «Ich kenne die Identität unseres geheimnisvollen Sponsors!»
Gerade in diesem Augenblick scherte der Land Rover aus, wodurch der Anhänger gefährlich ins Schlingern geriet. Mrs Smith drückte auf die Hupe. «Es gibt Leute, die gehören einfach nicht hinters Steuer.» Dann blickte sie Casey scharf an. «Die Identität unseres Sponsors?»
«Gut. Ganz genau weiß ich es nicht, ob er der Mann ist, der hinter Ladyhawke Enterprises steht, aber ich bin mir zu 99 Prozent sicher.» Dann erzählte sie Mrs Smith von der Begegnung mit dem alten Mann.
Als sie fertig war, sagte Mrs Smith erst mal gar nichts. Casey hakte nach: «Also, was halten Sie davon?»
Mrs Smith betätigte den Blinker, um die Fahrspur zu wechseln. «Ich weiß nicht. Irgendwie kommt mir das nicht sehr glaubhaft vor. So wie du den Mann beschreibst, ist er krank und kann sich ein solches Engagement wohl kaum leisten, wenn er in einem abgetragenen Anzug herumläuft. Außerdem: Was hätte er davon?»
Casey versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen. Für sie war die Sache durchaus glaubhaft. «Er fühlt sich schuldig. Jetzt will er seine Fehler wiedergutmachen.»
Mrs Smith verzog den Mund. «Wenn ich in den 63 Jahren meines Lebens etwas gelernt habe, dann ist es, dass man die Vergangenheit selbst mit Unmengen von Geld nicht auslöschen kann.»
«Aber Geld hilft», insistierte Casey.
Angelica Smith lächelte und sagte: « Da muss ich dir Recht geben. Geld hilft.»