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Casey machte sich mit Storm zur Aufwärmrunde für ihren Start um 15:20 Uhr bereit, als Mrs Smith plötzlich stolperte und sich nur mit knapper Not an einem Steigbügelriemen festhalten konnte. Sie sprang sofort ab. Mrs Smith war aschfahl im Gesicht. Storms Zügel über einen Arm gelegt, den anderen Arm als Stütze für Mrs Smith, führte Casey ihre Trainerin zu einer Bank im Schatten eines Baumes.

«Mir geht’s prima», wiegelte Mrs Smith ab. «Mach kein Drama draus. Du bist gleich mit dem Springen dran. Du musst dich konzentrieren. Heute ist einer der wichtigsten Tage deines Lebens.»

«Das ist mir egal. Ihre Gesundheit ist mir wichtiger. Bleiben Sie hier sitzen, während ich im Sanitätszelt Hilfe hole.»

Langsam kehrte wieder Farbe in Mrs Smiths Wangen zurück. «Ich brauche keine Erste Hilfe, sondern die Antwort auf eine Frage. Aber das kann warten. Ich will, dass du jetzt mit dem Aufwärmen beginnst.»

«Ich mache keinen Schritt weg von hier, solange ich nicht absolut überzeugt bin, dass es Ihnen gut geht», sagte Casey. «Deshalb können Sie mir die Frage jetzt gleich stellen.»

«Gut. Dann sag mir bitte, wer der Mann ist, der mit deinem Vater spricht.»

Casey schirmte die Augen mit der flachen Hand gegen die Sonne ab und blickte auf die andere Seite des Vorrings, wo ihr Vater in ein Gespräch mit einem Mann vertieft schien, der aussah wie jemand, der oft an üppigen Banketten teilnimmt. Als sie ihn erkannte, fiel sie selbst beinahe in Ohnmacht.

«Das ist Anna Sparks’ Vater, Lionel Bing. Ich weiß das nur, weil er damals mit seinem Jaguar auf den Parkplatz von Hartpury gebrettert kam, um Anna etwas zu bringen. Peter hatte mir gesagt, wer er ist. Ja, da hätte auch ich gerne eine Antwort. Warum redet er bloß auf Dad ein? Die beiden haben doch nichts gemeinsam.»

Mrs Smiths Wangen waren mittlerweile wieder kreideweiß. «Was sagst du? Lionel Bing ist der Vater von Anna Sparks?»

«Sie sehen gar nicht gut aus», sagte Casey, während sie verstohlen auf die Uhr schielte und entsetzt feststellte, dass ihr weniger als fünf Minuten zum Abreiten blieben. «Nehmen sie wenigstens so einen isotonischen Sportdrink!»

Dann, als ihr die heftige Reaktion ihrer Freundin auf den Namen Lionel Bing erst richtig bewusst wurde, fragte sie nach: «Warum? Kennen Sie ihn?»

«Nein. Oder, besser gesagt, unsere Wege haben sich früher ein paar Mal gekreuzt, aber ich glaube kaum, dass ich ihn wiedererkannt hätte, wenn ich ihm zufällig über den Weg gelaufen wäre. Seltsam, ich muss ihn wohl mit jemandem verwechselt haben, einem Gespenst aus der Vergangenheit. Meine Augen werden immer schlechter. Und warum, denkst du, tragen Anna und er nicht denselben Familiennamen?»

«Keine Ahnung. Vielleicht ist er ihr Stiefvater oder so was. Also wenn’s Ihnen wirklich gut geht, springe ich zum Aufwärmen noch über ein paar Hindernisse.»

«Es geht mir gut, keine Bange», sagte Mrs Smith und rang sich ein Lächeln ab. «Ich werde einfach älter. Das ist alles. So, und jetzt ab mit dir auf den Parcours. Und vergiss nicht – ich will Leistung sehen.»

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Von Gedanken schwindelig ritt Casey im Galopp eine Schlangenlinie. Mrs Smith hatte ihr nicht die Wahrheit gesagt. Davon war sie überzeugt. Kein Zweifel, das Gespenst aus der Vergangenheit war Lionel Bing. Aber was war zwischen ihnen vorgefallen, dass sie so heftig reagierte?

Normalerweise war Mrs Smith die Gleichmut und Gelassenheit in Person. «Die Ruhe selbst» pflegte Morag sie zu nennen. Doch als sie diesen Mann gesehen hatte, wäre sie beinahe zusammengebrochen. Und Casey war sich ganz sicher, dass er der Grund für den Schwächeanfall von eben war. Mrs Smith befand sich in guter körperlicher Verfassung. Welches Geheimnis also steckte hinter Lionel Bing?

Nach dem Eindruck, den Casey von Lionel Bing in Hartpury gewonnen hatte, gehörte er für sie in die Kategorie des affektierten, schleimigen Talkshow-Masters. Sein Anblick hatte ihr die Haare zu Berge stehen lassen. Er durfte wohl fünf bis sechs Jahre jünger sein als Mrs Smith, weshalb er kaum als Kandidat für Robert, ihren verschwenderischen Ex-Ehemann, infrage kam. Doch so entsetzlich der Gedanke sein mochte, es war nicht ausgeschlossen, dass sie irgendwann in der Vergangenheit einmal mit ihm liiert gewesen war. Ihr Männergeschmack schien jedenfalls nicht über jeden Verdacht erhaben zu sein.

Nun trabte Anna Sparks auf den Abreiteplatz und brachte mit ihrem blonden Haar und dem sonnigen Lächeln gleich Licht in den grauen Tag. Und das feurige Pferd unter ihr zog nicht weniger bewundernde Blicke auf sich als seine Reiterin. Auf Casey wirkte Rough Diamond so lustlos und matt wie nie zuvor, doch sie und Peter waren als Einzige dieser Meinung. Der Fuchs erhielt mindestens so viel Fanpost wie seine Reiterin.

Eigentlich hatte Casey ein Paar Probesprünge vorgehabt, doch der ganze Sparks-Zirkus ließ sie davon abkommen. Stattdessen tätschelte sie Storm, flüsterte ihm ein paar zärtliche Worte ins Ohr und ritt ihn zum Richter. John Stanley, der Reiter mit der Startnummer vor ihr, machte gerade Kleinholz aus der Kombination. Sie musste Mrs Smith jetzt vergessen und sich ganz auf den Wettkampf konzentrieren. Storm hatte eine Traumdressur hingelegt und den Geländeritt mit lediglich acht Strafpunkten wegen Zeitüberschreitung beendet. Wenn sie jetzt abwurffrei blieben, würden sie mit Sicherheit unter den ersten 26 Prozent klassiert, womit Storm drauf und dran wäre, die Stufe zum Vier-Sterne-Pferd zu schaffen.

Während sie darauf wartete, dass die Hindernisse wieder aufgebaut wurden, blickte Casey zu ihrem Vater hinüber. Unglaublich, er unterhielt sich immer noch mit Lionel Bing! Ganz egal, was die beiden miteinander zu besprechen hatten, es verhieß nichts Gutes. Entweder erzählte Lionel ihrem Vater von ihrer Fehde mit seiner Tochter oder ... Oder was? Lionel strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

Caseys Herz fing an zu rasen. Was in aller Welt konnte ihr Vater ihm erzählt haben? Ein Mann wie ihr Vater, der immer nur das Beste in den Menschen sah und sich – so weh es ihr tat – viel zu leicht überlisten ließ, wäre bestimmt eine leichte Beute für einen Teppichbaron wie Annas Vater. Sie hoffte nur, dass er nicht so naiv war, Lionel Bing von seinen Vorstrafen zu erzählen.

Die Worte des Platzsprechers drangen in ihr Bewusstsein: «Und jetzt Casey Blue auf Storm Warning ...»

Leider sollte sich Caseys Befürchtung bezüglich ihres Vaters bewahrheiten. Gerade sein blindes Vertrauen hatte ihn früher schon in Schwierigkeiten gebracht. Er besaß einen kindlichen Glauben an das Gute im Menschen.

Als sie sich vor den Richtern verbeugte und Storm zu einem leichten Galopp antrieb, stieg eine bittere Übelkeit in ihr auf. Sie blickte völlig teilnahmslos auf die Hindernisse. Vom Abschreiten des Parcours blieb ihr nichts als eine schwache Erinnerung an eine ferne Vergangenheit. Die sorgfältig geprobten Linien, Winkel und genau abgezählten Schritte verloren sich in ihrem vernebelten Verstand. Sie konnte sich kaum noch erinnern, wie sie das erste Hindernis anreiten wollte. Storm war bereits zu schnell, doch sie konnte ihn nicht zurückhalten. Sie hatte keine Wahl, als die Zügel nachzugeben.

«Jetzt liegt es nur noch an dir, mein Junge», sagte sie, als er sich versammelte und mit der Hinterhand Schubkraft aufbaute. «Jetzt kannst nur du uns noch retten.»

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Noch Wochen nach den Blenheim Palace Horse Trials gab es in der Szene nur ein Thema: Die Leistung von Anna Sparks im Springreiten. Leider war die Diskussion für Anna Sparks nicht sehr angenehm. Einige sagten, sie sei selbst schuld. Als Rough Diamond die Zweierkombination verweigerte, hatte sie mit der Gerte eine Spur zu heftig zugeschlagen und damit unter den Zuschauern eine Welle der Empörung ausgelöst. Andere sagten, der Fuchs sei mit den Nerven einfach am Ende gewesen. Nachdem er ungebremst durch die ersten beiden Elemente der Dreierkombination geprescht war und vor dem dritten Sprung einen Vollstopp geliefert hatte, flog Anna in hohem Bogen über das Hindernis.

Ihr Flug fand ein jähes Ende in einem Blumenbeet. Nachdem sie sich aufgerappelt hatte, näherte sie sich ihrem Pferd, um es zu beruhigen. Doch Rough Diamond jagte völlig unerwartet davon und durchbrach mit weißen, verstörten Augen die Mauer. Es sah ganz danach aus, als sei er völlig kopflos geworden. Er setzte zu einem panischen Galopp über den ganzen Parcours an, offensichtlich darauf aus, einen Fluchtweg zu finden. Bei jedem neuen Hindernis fing er an, wild zu bocken und auszuschlagen. Es grenzte an ein Wunder, dass er keinen der Funktionäre oder Zuschauer, die ihn zurückzuhalten versuchten, verletzte.

Das auf dem Parcours entstandene Chaos und die Spur der Zerstörung, die er zurückgelassen hatte, führten zu einer großen Verspätung im Zeitplan, wodurch manche Reiter aus dem Konzept gerieten. Außerdem machte sich unter den Pferden Unruhe breit. Rough Diamonds wutentbranntes Wiehern und das Getöse, das mit der Ankunft von Raoul, einer hysterischen Livvy Johnston und dem Notarztteam entstand, war für manches Tier zu viel. Nachdem man ihn schließlich eingefangen hatte, erhielt Rough Diamond eine Beruhigungsspritze und wurde zur «weiteren Abklärung» weggebracht.

Peter meinte, man würde den Fuchs jetzt wohl so lange von Anna trennen, bis er sich einigermaßen erholt hatte, um ihn dann diskret an einen nichtsahnenden Käufer in einem fernen Land zu veräußern. Fürs Erste war Rough Diamonds Vergeltungsaktion erfolgreich. Sein Verhalten hatte indirekt zur Folge, dass Casey Blues Name im Laufe des Nachmittags auf der Tabelle immer weiter nach oben kletterte.

Nach und nach wurde auch der Platzsprecher immer aufgeregter. Als es danach aussah, dass Casey und Storm die Blenheim Palace Horse Trials gewinnen könnten, begann er, seinen Wortschwall mit allen erdenklichen Redewendungen zu spicken.

«Meine Damen und Herren, Sie sind dabei, wenn heute die Geschichte des Vielseitigkeitsreitens neu geschrieben wird. Das Tier, das wir vor Kurzem noch als unbeholfenes Kätzchen wahrgenommen haben, hat sich über Nacht in eine wahre Raubkatze verwandelt. Ja, der Fuchs ist im Hühnerstall angekommen und scheint keinen Stein auf dem anderen zu lassen. Und wer hätte gedacht, dass ausgerechnet das siebzehnjährige Mauerblümchen Casey Blue aus Hackney auf ihrem dem Schlachthaus entronnenen Pferd heute und hier die Hierarchie unseres Sports auf den Kopf stellen würde?»

Schließlich sollte Alex Lang, dem letzten Reiter des Tages, mit einer glänzenden Leistung im Springen der Pokal zufallen. Doch als Casey als Zweitplatzierte feststand, wurde sie von ihren Fans von der Hopeless Lane, ihrem Vater, Mrs Smith und Peter im Überschwang der Begeisterung beinahe erdrückt. Auch sie selbst konnte sich vor lauter Freude kaum mehr halten. Dennoch gelang es ihr nicht, den offen feindseligen Blick in den Augen von Anna Sparks zu verdrängen, die ihr auf dem Weg in das Medienzentrum begegnet war.

«Wir sehen uns in Badminton wieder, dann schicke ich dich dorthin zurück, wo du hingehörst: in die Gosse!», hatte sie ihr noch zugeraunt.

Zum Ärger von Mrs Smith stürzten sich die meisten Journalisten auf das Schicksal des Medienlieblings Anna Sparks, statt Alex Langs Sieg oder Caseys Wahl zur besten Nachwuchsreiterin des Turniers zu würdigen. Sie konstruierten wilde Erklärungen für Annas Fiasko, schrieben über «unglücklich platzierte Hindernisse» und kritisierten das «unruhige Publikum». Außerdem habe beim nur vordergründig perfekten Rough Diamond schon immer einiges darauf hingewiesen, dass er nicht wirklich belastbar sei. Vor Anna Sparks’ Stall würden sich die Anbieter schon bald darum reißen, ihr noch vor Beginn der nächsten Saison zu einem ein Vier-Sterne-Pferd als Ersatz für Rough Diamond verhelfen zu dürfen. Schließlich sei es undenkbar, dass der hellste Stern am Firmament der Vielseitigkeitsreiterei in Badminton nicht strahlen dürfe.

Ganz anders Jackson Ryder, der für die Fachzeitschrift New Equestrian schrieb. Anna Sparks hatte sich bei ihm unbeliebt gemacht, als sie einmal zwei Stunden zu spät zu einem vereinbarten Interviewtermin erschienen war, dann während des Gesprächs unablässig SMS geschrieben und empfangen hatte, um nach einer kritischen Frage von ihm schließlich wutentbrannt davonzulaufen und ihn einen «Dummkopf» zu schelten, der «von Pferden null Ahnung habe». Als er ihr widersprach, drohte sie ihm damit, ihre Sponsoren dazu zu bewegen, seine Zeitschrift mit einem Inserateboykott zu belegen.

Zwar traute er sich nicht, den Zwischenfall zu kommentieren, weil er wusste, dass eine Klage von Lionel Bing so viel wie beruflicher Selbstmord bedeuten würde, aber er schrieb mit sichtlicher Genugtuung einen Beitrag über den «unaufhaltsamen Aufstieg von Casey Blue». In seinen Augen war die bald Siebzehnjährige die natürliche Anwärterin auf Anna Sparks’ Thron. «Je früher, desto besser», soll er vor sich hin gemurmelt haben, als er den Artikel in die Tasten haute und ihn schließlich mit seiner Lieblingszeile beschloss: «Wir haben die Zukunft des Vielseitigkeitsreiten gesehen, und sie ist schön.»