20

image

An einem nasskalten Februarmorgen wachte Casey frierend und mit steifen Gliedern in ihrem Bett im Peach Tree Cottage auf. Regen prasselte gegen die Fensterscheiben, und am liebsten hätte sie sich gleich wieder unter die Decke verkrochen und weitergeschlafen. Doch Storm war bestimmt hungrig und wartete ungeduldig auf sein Frühstück. Stöhnend schleppte sie sich aus dem Bett und unter die Dusche. Fünf Minuten später kam sie schlotternd aus dem Badezimmer. Wieder einmal hatte Morag das ganze heiße Wasser verbraucht.

Seit der dritten Januarwoche hatte sich ihr Leben schlagartig verändert, als ihr Mrs Smith mitten im Dressurtraining eröffnete, sie müsse für vier bis acht Wochen nach London zurück. Sie fühle sich nicht wohl, weshalb ihr Arzt ihr geraten habe, sich genauer untersuchen zu lassen. Außerdem müsse sie ein paar geschäftliche Angelegenheiten erledigen. Das Team von White Oaks werde sich bestens um sie kümmern. Morag könne sie und Storm trainieren und außerdem in das Peach Tree Cottage ziehen, um ihr die Woche über Gesellschaft zu leisten.

Casey brach in Panik aus. Zwar hatte sie bemerkt, dass Mrs Smith seit einiger Zeit nicht mehr ganz die Alte war, doch von gesundheitlichen Problemen war nie die Rede gewesen. Abgesehen von gelegentlichen Kopfschmerzen hätte einzig ihre Stimmungslage auf mögliche Probleme hindeuten können. Dann und wann wirkte sie niedergeschlagen und ließ ihre übliche Lebenslust vermissen. Wenn Casey sich mit ihr unterhielt, kam oft eine Leere in ihren Blick, als wäre sie in Gedanken in einer anderen Welt.

Im Anfang hatte Casey ihre Unpässlichkeit mit Lionel Bing, Anna Sparks’ Vater, in Verbindung gebracht, weil sie im September bei den Blenheim Palace Horse Trials bei seinem bloßen Anblick derart aus der Fassung geraten war. Doch, darauf angesprochen, hatte Mrs Smith nur gelacht und gesagt: «Es wäre dasselbe, wie wenn dich jemand in fünfzig Jahren fragen würde, ob du dich an Anna Sparks erinnerst. Das dürfte wohl kaum der Fall sein.»

«Und ob ich mich an sie erinnern würde», sagte Casey. «Ich werde mich auch in hundert Jahren noch an sie erinnern. Ich würde sie liebend gern vergessen, doch das wird leider nicht der Fall sein.»

Aber auch damit kam sie nicht weiter. Angelica Smith ließ sich nichts entlocken.

Nach Blenheim hatten sie beschlossen, Storm eine lange Erholungspause zu gönnen, damit er sich für die nächste Saison ausruhen konnte. An ihrem siebzehnten Geburtstag hatte Casey ihrer Trainerin erklärt, dass sie die Schule für immer hinschmeißen würde. Plötzlich hatten sie und Mrs Smith jede Menge Zeit, mit der sie nicht viel anzufangen wussten. Casey erlebte sie rastlos, was sie auf die fehlende Beschäftigung zurückführte, die wiederum ganz und gar nicht zu ihrem Naturell passte. Früher hatte sie die Ruhepausen nur allzu gerne genutzt, um zu meditieren, in Büchern zu schmökern und sich mit so unterschiedlichen Themen wie Ägyptologie, globaler Erwärmung und buddhistischer Philosophie zu befassen. Auch wenn sie sich dann und wann zum Lesen hinsetzte, stellte Casey fest, dass sie mehr Zeit damit verbrachte, zum Fenster hinauszustarren, als zu lesen. Einmal war ihr gar aufgefallen, dass sie eine ganze Stunde vorgab, in einem Buch zu lesen, das sie verkehrt herum in den Händen hielt.

Weihnachten war nicht halb so schön wie ein Jahr zuvor. Dazu kam, dass ihr Vater noch zerstreuter und teilnahmsloser war als Mrs Smith. Wenn er einmal guter Laune war, wirkte sie aufgesetzt. Casey wurde den Eindruck nicht los, dass er an irgendeinem Problem herumkaute. Doch er beteuerte immer wieder, dass er mit seiner Arbeit im Half Moon Tailor Shop zufrieden sei, gut ohne sie im Redwing Tower zurechtkomme und ihr für Badminton den schönsten Dressurfrack schneidern würde, den sie je gesehen hatte.

Sie nahm ihm das alles nicht ab. Wenn es nicht Weihnachten gewesen wäre, hätte sie sich ein Herz gefasst und ihn gefragt, ob seine Stimmung etwas mit Big Red und seiner Gaunerclique vom Gunpowder Plot Pub zu tun haben könnte. Es war jetzt mehr als ein Jahr vergangen, seit sie und Mrs Smith ihn in Gesellschaft seiner alten Kumpel gesehen hatten. Da er diese Begegnung ihr gegenüber nie erwähnt hatte, fürchtete sie, dass er sich nach wie vor mit ihnen traf. Sie war praktisch nie in London. Es war also durchaus möglich, dass er sich ohne ihr Wissen manche Nacht mit Big Red um die Ohren schlug.

So ließ sich auch Casey von der schlechten Stimmung im Peach Tree Cottage anstecken. Doch für ihre Niedergeschlagenheit gab es einen weiteren Grund. Peter hatte ihr zwischen den Turnieren immer wieder mal eine SMS geschickt. Sie freute sich immer auf seine kurzen, geistreichen Texte über Pferde, Reiter und Gestüte, die er bei seinen Reisen mit seinem Vater durch England und Wales auf Reiterhöfen, Jahrmärkten und Turnieren kennenlernte. Oft genug vergaß sie zu antworten, weil sie mit Storm alle Hände voll zu tun hatte, aber es gab keine SMS von Peter, die ihr nicht ein Lächeln entlockte. Doch dann, Mitte Oktober, war der Kontakt von seiner Seite plötzlich abgebrochen.

Sie hielt es eine knappe Woche aus, bis sie ihm eine kurze SMS mit dem Text «Hallo, wie geht’s dir?» schickte. Als er nicht antwortete, war sie sicher, dass ihre Botschaft wegen eines technischen Problems bei ihm nicht angekommen war, zumal er normalerweise innerhalb einer Stunde zurücksimste. Deshalb gab sie sich bei der nächsten SMS mehr Mühe: «Hi Peter, alles OK im sonnigen Wales? Friere mich im sibirischen Kent fast zu Tode. Tote Hose hier nach der aufregenden Saison. Ziehe demnächst in Storms Stall. Brauche Wärme und Unterhaltung.»

Sie überlegte stundenlang, was sie als Abschiedsfloskel schreiben sollte, dann tippte sie kurzentschlossen ein :-* in ihr Handy und drückte auf «Senden», bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte.

Als er nicht antwortete, beklagte sie sich einen halben Tag lang über ihr defektes Handy, denn von der Wahrheit, dass Peter auch ohne sie jede Menge Spaß haben oder sie vielleicht absichtlich ignorieren könnte, wollte sie nichts wissen. Als ihr Handy am Abend den Eingang einer neuen SMS-Nachricht vermeldete, warf sie vor lauter Aufregung eine Kaffeetasse um. Umso größer war ihre Enttäuschung, als es sich herausstellte, dass es nur Morag war, die sich bei ihr erkundigen wollte, ob sie besondere Wünsche für die monatliche Futterbestellung habe.

Für Casey lag es spätestens jetzt auf der Hand, dass Peter eine Freundin hatte. Sie wunderte sich selbst, wie sehr sie diese Erkenntnis störte. Klar, eine andere Beziehung würde ihre Freundschaft arg in Mitleidenschaft ziehen, aber Peters Schweigen hatte sie vorher schon sehr belastet. Der Gedanke zermürbte sie regelrecht. Nachts lag sie stundenlang wach und fragte sich, wer das Mädchen wohl sein mochte. Mehrmals wachte sie aus Angstträumen auf, in denen sie ihm gestanden hatte, sie sei ein klein bisschen in ihn verliebt, woraufhin er sie ausgelacht und ihr gesagt hatte, für ihn kämen nur hübsche, niveauvolle Mädchen infrage. Dann sah sie ihn im Traum Arm in Arm mit Anna Sparks’ Freundin Vanessa davonspazieren.

Eigentlich wusste sie ja, dass sich Peter nichts aus oberflächlichen, stark geschminkten Tussis wie Vanessa machte. Dennoch drehte ihre Fantasie im roten Bereich. Hatte er sich in eine bodenständige Schönheit vom Lande in Wales verguckt? Oder vielleicht in eine andere Reiterin? Da gab es doch diese bildhübsche Irin, in die jeder zweite Mann in der Szene verknallt war. Oder vielleicht hatte ihm die Tochter eines neureichen Reitstallbesitzers und Kunden seines Vaters den Kopf verdreht?

Wenn sie mit sich selbst ehrlich war, hatte sie die ganze Sache mit Peter seit ihrem zweiten Platz in Blenheim beschäftigt. Damals war er zu ihr gekommen, um sich von ihr zu verabschieden. Sie war sich sicher gewesen, dass er sie auf die Bemerkung ihres Vaters ansprechen würde, sie habe ihm schon viel von ihm erzählt, oder auf Roxannes plumpe Frage, ob er denn ein ernst zu nehmender Liebeskandidat sei. Entsprechend hatte sie eine ganze Rede vorbereitet, um ihm diskret aber deutlich klarzumachen, dass ihr die Freundschaft mit ihm zwar unheimlich viel bedeutete, sie tiefe Gefühle für ihn habe, dass sie aber platonisch bleiben mussten und sie niemals mit ihm gehen würde.

Doch leider kam alles anders. Peter hatte ihr zu ihrem Erfolg gratuliert und sich für sie darüber gefreut, doch das amouröse Thema hatte er mit keinem Wort angeschnitten. Er schien in Gedanken irgendwo anders zu sein. Dann, als er ihr dabei half, Storm zu verladen, ereignete sich die Katastrophe.

Sie wollten beide gleichzeitig den Führstrick festmachen, als sie plötzlich ganz dicht beieinander standen. Nur wenige Zentimeter trennten sie, sodass sie die Wärme spüren konnte, die sein Körper ausstrahlte. Seine schwarzen Pupillen waren in der Dunkelheit noch größer geworden, und sie war überzeugt, dass er sie gleich küssen würde. Und sie erschrak, wie sehr sie sich dies wünschte. Die Distanz von eben, als sie geprobt hatte, wie sie ihm einen Korb geben würde, war plötzlich verflogen und hatte einer starken Sehnsucht Platz gemacht. Nichts wünschte sie sich jetzt sehnlicher, als dass er sie in seine Arme schließen würde.

Für einen Augenblick schien die Zeit still zu stehen. Dann sagte Peter: «Casey. Da ist etwas, das ich dir sagen muss. Ich trage es schon seit einer halben Ewigkeit mit mir herum.»

Casey brachte kein Wort heraus, sondern nickte nur.

«Ich werde Storm bis zur nächsten Saison nicht beschlagen können. Also bestimmt nicht vor Februar. Wir haben uns dieses Jahr halb kaputt gearbeitet und Dad ist ziemlich erschöpft. Und ich habe – ehrlich gesagt – auch nichts gegen eine Auszeit einzuwenden. Darf ich dir einen guten Hufschmied in der Nähe von White Oaks empfehlen?»

Casey war dermaßen enttäuscht, dass es ihr den Atem verschlug. Nur wenige Minuten später verabschiedete sich Peter mit einer halbherzigen Umarmung. «Also tschüss, bis nächstes Jahr», sagte er salopp, um sich dann über den Parkplatz davonzumachen.

Sie hätte diesen ganzen Schock besser weggesteckt, wenn Storm im Training gestanden hätte und sie beschäftigt gewesen wäre. Nun aber hatte sie jede Menge Zeit, um darüber nachzudenken. Als der Januar schließlich ins Land zog, war sie erleichtert, wieder mit Storm arbeiten zu können.

Doch dann ließ Mrs Smith ihre Bombe platzen.

Casey machte sich Vorwürfe, dass ihr die gesundheitlichen Probleme ihrer Trainerin nicht aufgefallen waren. Andererseits hatte sie keine körperlichen Anzeichen einer Erkrankung wahrgenommen. Sie mochte gar nicht daran denken, wie sich eine längere Abwesenheit von Mrs Smith auf die Vorbereitungen für Badminton auswirken würde. Aber sie getraute sich nicht, das Thema anzusprechen. Was bedeutete schon ein dreitägiges Turnier im Vergleich zur Gesundheit ihrer engsten Vertrauten, selbst wenn es sich dabei um die weltweit bedeutendste Dreitageprüfung im Vielseitigkeitsreiten handelte?

Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, wie einsam sie sich ohne Mrs Smiths Unterstützung fühlen würde. Morag war eine nette Frau und eine gute Trainerin. Aber sie war so normal. Sie zitierte nicht aus Dan Millmans Der Pfad des friedvollen Kriegers, W. H. Auden oder Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, wie dies bei Mrs Smith im Laufe einer einzigen Stunde durchaus vorkommen konnte. Sie trug auch keinen Mantel, in dem sie einem tibetischen Mönch ähnlich sah, oder ein luftiges Batiktop, das sie wie ein elegantes Groupie aus einer Hippiekommune erscheinen ließ.

Morag war tagaus, tagein in Reitermontur. Selbst an Weihnachten. Angeblich war sie sogar in Reituniform vor den Traualtar getreten, was ihr Ex-Mann dann auch prompt als Scheidungsgrund ins Feld geführt hatte.

Wie Mrs Smith war auch Morag von Caseys Talent überzeugt. Sie freute sich auch über ihren Einsatz, ihr sympathisches Wesen und ihre guten Manieren. Aber im Gegensatz zu Mrs Smith hatte Morag Caseys Reitstil seit jeher als äußerst eigenwillig und durchaus verbesserungswürdig betrachtet. Darüber hinaus war sie der Meinung, sie habe Storm nicht wirklich im Griff. Sie war hoch erfreut, die beiden endlich unter ihre Fittiche zu bekommen, um sie ins richtige Fahrwasser zu lenken.

Doch die Sache mit dem Fahrwasser lief nicht so wie geplant. Sowohl Casey als auch Storm zeigten sich sofort von ihrer rebellischen Seite. Morag musste bald verblüfft feststellen, dass das Mädchen und das Pferd fast identische Charaktereigenschaften hatten. Beide waren ehrgeizig, sensibel, launisch, stur und aufmüpfig zugleich, was keine einfache Mischung war. Beide hatten in der Vergangenheit schwere Verletzungen erlitten. Beide mussten umsichtig betreut werden, wenn man ihre natürliche Anlage von Talent und Güte zur Blüte bringen wollte.

Da Morag Dutzende von Schülern hatte, konnte sie sich nicht den ganzen Tag mit Casey und Storm beschäftigen, so wie sie das von Mrs Smith gewohnt waren. Außerdem war Storm nach der langen Ruhezeit sehr hibbelig, was die Sache auch nicht leichter machte. Und so nahm die Geschichte einen schlechten Verlauf. Als Morag das Paar über den Parcours in Deacon Rise hetzen sah – Casey voller blauer Flecken, weil Storm sie auf dem Weg zur Dressurprüfung gleich zweimal abgeworfen hatte –, kam sie zu dem Schluss, dass die Chancen, in weniger als drei Monaten in Badminton an den Start gehen zu können, gleich null waren.

Ganz besonders ärgerte sie sich darüber, dass Casey den Verlust einer Rosenbrosche, die ihrer Mutter gehört hatte, als Ausrede für ihre miserable Leistung vorschob. Morag konnte zwar die Wehmut über den Verlust eines unersetzlichen Gegenstands von zweifellos sentimentalem Wert verstehen, hatte aber für Aberglauben absolut nichts übrig.

«Du wirst es nie an die Spitze schaffen, wenn du nicht Verantwortung für dein eigenes Handeln übernehmen kannst», schalt sie Casey aus. «Es geht hier nicht um Glück oder Pech. Du kannst einen plötzlichen Einbruch deiner Leistung nicht dadurch rechtfertigen, dass du ein geliebtes Schmuckstück verloren hast. Du bist heute schlecht geritten. Basta. Du warst nicht mit Leib und Seele bei der Sache, und Storm hat das mitgekriegt. Deshalb rate ich dir dringend, dir Badminton für die nächsten vier oder fünf Jahre aus dem Kopf zu schlagen, am besten vielleicht für immer. Du musst realistisch sein. Und es ist nun einmal so, dass es nur die Crème de la Crème nach Badminton schafft. Und alle anderen müssen sich daran gewöhnen, dass Badminton für sie nur vor dem Fernseher stattfindet.»