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Der März brachte Regen. Viel Regen. Eines Morgens suchte Casey auf dem Weg in Storms Stall Schutz unter einem kleinen Regenschirm. Doch sie musste ihn auf halbem Weg wegwerfen, weil er von den herabstürzenden Wassermassen und den Windstößen sogleich zerschlissen wurde. So kämpfte sie sich mit gesenktem Kopf über das Feld. Minute für Minute wurde ihr kälter, bis sie schließlich pitschnass bei den Stallungen ankam.

Deacon Rise war eine Katastrophe gewesen. Das Turnier von Riverton Ende Februar hatte sich als noch schlimmer erwiesen. Ihr Vater hatte sich anerboten, sie zu begleiten. Doch sie hätte ihm auch davon abgeraten, wenn er sein Ansinnen mit etwas mehr Begeisterung vorgetragen hätte. Sie wollte nicht, dass er miterleben musste, wie sie sich lächerlich machte. Und sie machte sich lächerlich – in vielerlei Hinsicht. Das einzig Positive daran war, dass Raoul und Anna Sparks bei beiden Turnieren nicht dabei waren und sie es schaffte, Livvy aus dem Weg zu gehen. Annas Abwesenheit kam keineswegs überraschend. Man sagte, dass sie sich selten vor den ersten Osterglocken zeigte, und außerdem machte das Gerücht die Runde, dass sie noch kein geeignetes Pferd für Badminton gefunden habe.

Am meisten hatte sich Casey darauf gefreut, Peter wiederzusehen. Es sollte das erste Mal seit fünf Monaten sein. Als sie ihn kurz nach ihrer Ankunft auf der anderen Seite des Parkplatzes entdeckte, flatterte ihr Herz wie ein Vogel im Käfig gegen ihren Brustkorb.

Sie versuchte, sich zu beruhigen. Schließlich war es nur Peter. Nur Peter. Vor der Beinahe-Berührung von Blenheim hatte sie nie auch nur das geringste Interesse für einen Jungen gezeigt, einmal abgesehen vielleicht von einem gelegentlichen Schwarm für einen Filmstar. Die Jungs an ihrer Schule waren entweder nervende Wichtigtuer, die sich aufspielten, als seien sie Mitglieder einer Streetgang, oder pickelige, spinnenbeinige Spacken. Doch jetzt hatten die Hormone Caseys Welt völlig durcheinandergebracht.

Weil sie nicht wollte, dass Peter sie in ihrem aufgeregten Zustand sah, versteckte sie sich hinter Mark Todds Lkw und beobachtete ihn erst einmal aus sicherer Entfernung.

Peter war nicht im herkömmlichen Sinn gutaussehend. Er hatte gebräunte muskulöse Arme und einen gestählten Brustkorb, wie man ihn aus Fitnesszeitschriften für Männer kennt, aber meistens hielt er seinen gesunden Körper in übergroßen T-Shirts oder Seemannspullovern mit durchlöcherten Ellbogen versteckt. Seine Zähne waren weiß, aber nicht ebenmäßig, und sein Gesicht wirkte offen und sympathisch, doch bei einem Model-Wettbewerb hätte er damit kaum Chancen gehabt.

Was Peter so unwiderstehlich machte, war Peter selbst. Er ging einfühlsam und respektvoll mit Tieren um. In den Winkeln seiner dunklen Augen mit dem schmelzenden Blick bildeten sich feine Fältchen, wenn er lächelte. Und wenn sie mit ihm sprach, blickte er sie so nachdrücklich an, als sei sie der einzige Mensch auf der Welt.

Warum hatte sie so lang gebraucht, bis ihr diese Dinge aufgefallen waren? Warum hatte sie nicht gemerkt, dass er anders war als andere? Jetzt kannte sie ihn beinahe zwei Jahre und hatte ihn immer wie einen Bruder behandelt. Mittlerweile hatten sich ihre Gefühle für ihn gewandelt.

Voller Elan setzte sich Casey in Bewegung. Doch noch bevor sie in seine Nähe kam, schob sich ein modisches Girl mit locker fallendem dunklem Haar, einem scharlachroten Kleid und über die Knie reichenden schwarzen Stiefeln in die Bildfläche. Sie ging auf ihn zu und gab ihm einen innigen Kuss. Dann entspann sich ein angeregtes Gespräch. Jetzt fiel Caseys Blick auf Morag, die sie suchte. Eigentlich müsste sie Storm für die Dressurprüfung vorbereiten und ihm die Mähne neu einflechten. Aber sie war fest entschlossen, mit Peter zu sprechen, bevor sie in den Sattel stieg.

Das Mädchen wollte und wollte nicht gehen. Zudem umschloss sie Peters Bizeps so oft mit ihrer Hand, dass Casey miese Laune hatte, als ihre Rivalin gegangen war und sie endlich vor ihm stand.

Casey machte keinerlei Anstalten, ihn zu begrüßen, sondern sagte bloß: «Ist das deine neue Freundin?»

Die freudige Überraschung, die über sein Gesicht geflogen war, als er sie gesehen hatte, machte schnell einem bitteren Blick Platz. «Ein frohes neues Jahr wünsche ich dir, Casey Blue. Es geht dich zwar nichts an, aber das war Lavinia Gordon.»

«Ist sie deine neue Freundin», doppelte Casey nach.

Er grinste. «Warum? Bist du eifersüchtig?»

Sie durchbohrte ihn mit ihren Augen und zischte: «Das würde dir so passen. Dabei habe ich dir längst gesagt, dass ich keine Zeit für Jungs habe, schon gar nicht für den Sohn eines Hufschmieds.»

Mittlerweile war das Lächeln ganz von seinem Gesicht gewichen. «Okay, ich bin wohl nicht gut genug für dich.»

Casey merkte, dass sie zu weit gegangen war, und schob rasch hinterher: «Peter, so hab’ ich das nicht gemeint, das weißt du ganz genau.»

Doch da hatte sich Peter bereits umgedreht und ging davon.

Der in ihrem Brustkorb gefangene Vogel schien sie verletzt zu haben. Der Schmerz war kaum zu ertragen. Eine Zeile aus dem Song At Seventeen von Janis Ian schwirrte ihr durch den Kopf: I learned the truth at seventeen that love was meant for beauty queens. Stimmt, die Liebe war offenbar Schönheitsköniginnen vorbehalten.

Keuchend kam Morag herbeigeeilt und stieß weiße Dampfwolken aus. «Casey, wo in aller Welt hast du gesteckt? Du kommst zu spät zur Dressur. Wenn du in zehn Minuten nicht startbereit bist, wirst du disqualifiziert.»

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Während sich Casey im Eisregen zum White Oaks Reitzentrum hinüber kämpfte, verspürte sie eine tiefe Dankbarkeit gegenüber Storm. In dieser schwierigen Zeit war er der Einzige, bei dem sie Halt fand. Mit jedem Tag wuchs ihre Zuneigung zu ihm. Wenn sie an Storm dachte, ging es nie darum, ob er sich gerade gut oder schlecht benommen hatte. Ganz egal, ob die beiden im Training Fortschritte erzielten oder nicht – Mrs Smith hatte ihr beigebracht, dass es die Pflicht des Reiters war, das Pferd zu verstehen und nicht umgekehrt.

«Auch Storm lebt in einer allumfassenden Welt der Gefühle, und für sein Verhalten gibt es – genau wie bei dir auch – immer Gründe», hatte ihr Mrs Smith bei einem ihrer wöchentlichen Anrufe gesagt. «Ihr beide seid einander nicht unähnlich. Ihr beide lebt nach dem Motto Trau, schau wem, doch wenn das Vertrauen erst einmal auf einem soliden Fundament steht, lebt ihr es bedingungslos aus. Das ist eine sehr schöne Eigenschaft.»

Immer wenn Casey nicht mehr ein und aus wusste – wegen der Abwesenheit ihrer Trainerin, wegen der Geschichte mit Peter und all den anderen Dingen, die schiefliefen –, holte sie sich eine Decke, legte sich auf eine dicke Schicht Hobelspäne in Storms Stall und ließ Willow, den dicken Schildpattkater, sich unter ihrem Arm einkuscheln. Die Gesellschaft ihres geliebten Pferdes half immer, sie aufzumuntern.

Storm mochte es am allerliebsten, wenn sie ihm vorlas. Ihre Gegenwart und der Klang ihrer Stimme schienen ihn zu beruhigen. Meistens stand er einfach über ihr und döste vor sich hin. Eines Nachmittags legte er sich neben Casey und den Kater auf den Stallboden und machte mit ihnen ein Nickerchen. Die Stallmädchen sprachen noch tagelang darüber. Nie zuvor hätten sie so etwas Süßes gesehen, sagten sie.

Diese Erinnerung hob Caseys Stimmung. Sie lief nun schneller über das Feld. Von Morag und den Mädchen war nichts zu sehen. Wahrscheinlich waren sie beim Frühstücken im Büro. Als sie sich dem Stall näherte, stimmte etwas nicht. Aus Storms Stalltür guckte nicht der silbergraue Storm, sondern ein Brauner. Aber sie regte sich nicht auf. Normalerweise befassten sich nur sie oder Mrs Smith mit Storm, aber es musste wohl einen triftigen Grund dafür gegeben haben, Storm zu verlegen. Eine lecke Wasserleitung oder sonst was. Aber wenn dem so war, weshalb stand jetzt ein anderes Pferd in der Box?

Sie redete sich selbst gut zu. Es bestand kein Grund zur Panik, und bestimmt gab es eine vernünftige Erklärung. Trotzdem rannte sie, so schnell sie konnte, von den Stallungen zum Verwaltungsgebäude. Im warmen Büro standen Morag und zwei der Mädchen, Lucy und Renata, beieinander und steckten die Köpfe zusammen. Sie sahen sie schuldbewusst an, als sie den Raum betrat.

Mit wachsendem Unbehagen wanderte Caseys Blick von Morag über Lucy zu Renata. «Was ist los? Wo ist Storm?»

Renata schwankte unsicher von einem Bein auf das andere. «Hat dir dein Vater nichts gesagt? Sie haben ihn geholt.»

«Mein Vater? Was soll das jetzt? Mein Vater ist in London. Warum mein Vater? Wer hat Storm geholt? Ihr habt mir bestimmt einen Streich gespielt und ihn in einen anderen Stall gesteckt.»

Sie spürte, wie sie langsam hysterisch wurde, versuchte jedoch, sich irgendwie zu beherrschen. Es musste sich um ein Missverständnis handeln!

«Kann mir jemand sagen, wo Storm ist? Morag? Warum glotzt ihr mich so an?»

«Casey, bevor du anfängst, jemanden zu beschuldigen, hör mir gut zu», wehrte sich Morag. «Die Mädchen trifft keine Schuld. Die Männer sind gestern Abend gekommen, es war schon spät, und hatten alle Papiere dabei. Sie sagten, du habest gewünscht, nicht geweckt zu werden. Die Mädchen dachten, du wolltest wohl nicht dabei sein, wenn er geht. Ich muss gestehen, dass ich schon etwas baff war, als man mir sagte, Storm sei verkauft worden. Aber ich ging davon aus, dass du und dein Vater euch für ein besseres oder zumindest sichereres Pferd entschieden habt. Die gute Nachricht ist, dass du jetzt stolze Besitzerin von Meridian bist, der wunderbaren kastanienbraunen Stute, die Livvy Johnstons letztes Jahr geritten hat.»

Casey starrte Morag an, als spreche sie Chinesisch. Gleich würde sie in ihrem Bett im Peach Tree Cottage aufwachen und die Erleichterung spüren, die einen überkommt, wenn sich ein fürchterlicher Albtraum bei Tageslicht in Nichts auflöst.

Dann schaffte sie es irgendwie, ihre Lippen zu bewegen. «Ich habe nicht mit meinem Vater gesprochen. Welche Männer? Wer hat Storm ...» Mit brüchiger Stimme brachte sie schließlich heraus: «An wen wurde Storm verkauft?»

«An Anna Sparks’ Vater», sagte Morag. «Storm wurde an Anna Sparks’ Vater verkauft.»