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«Ich bin sofort gekommen, als ich davon gehört habe.»

Casey wäre fast vom Schlag getroffen worden. Sie blickte durch die halb offene Tür von Storms Stall nach draußen. Die allerletzte Person, die sie in White Oaks erwartet hätte, war Peter. Da sie nichts sagte, betrat er den Stall von sich aus. Erst da setzte sie sich in Bewegung, stürmte auf ihn zu und umarmte ihn wortlos – zuerst unbeholfen und dann immer fester, als wolle sie ihn nicht mehr loslassen. In ihrer Verzweiflung kam ihr seine geerdete Kraft so gelegen wie die einsame Insel einem Schiffbrüchigen.

«Es tut mir leid», murmelte er in ihr Haar. «Es tut mir ja so leid. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was du durchmachst.»

«Mir tut es leid», sagte Casey, während sie sich zögernd von ihm löste. «Was ich dir das letzte Mal gesagt habe, war unverzeihlich. Ich habe mich wie ein Depp verhalten.»

«Vergiss es. Das ist Schnee von gestern.»

Vorsichtig streckte er die Hand nach Storm aus, der mit einem zaghaften, aber freudigen Wiehern antwortete. Casey war immer wieder erstaunt, dass sich Storm trotz all der Misshandlungen und Vertrauensbrüche, die ihm durch Menschenhand zugefügt worden waren, noch genau daran erinnern konnte, wer anständig mit ihm umgegangen war.

Bevor sie ihn am gestern zusammen mit Mrs Smith im Reitstall der Sparks abholen ging, hatte sie vor allem die Angst gequält, dass er das Vertrauen in sie verloren haben könnte. Vielleicht sah er ja sie als die Schuldige für das Leid, das man ihm angetan hatte. Doch selbst im Zustand der Verängstigung, in dem sie ihn antrafen, wusste er sofort, dass sie gekommen war, um ihn zu retten. Nur sie durfte ihn berühren und nur sie durfte ihn in den Pferdeanhänger hineinführen.

Seither war Casey kaum von seiner Seite gewichen, nicht zuletzt, weil sie sich um seine innere Verfassung Sorgen machte. Er war niedergeschlagen. Vor seinem Unfall hatte sein Leben aus nichts als Galopp und Sprüngen bestanden. Jetzt war er wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln. Er reckte seinen Hals zu Peter hin und wagte einen Schritt. Doch er schaffte nicht mehr als ein hilfloses Humpeln.

Peter konnte seine Erschütterung nicht verbergen. Zärtlich strich er dem Pferd übers Fell. «Armer Storm, armer Junge, was haben dir diese Monster bloß angetan?» Über die Schulter zurückblickend sagte er zu Casey: «Einfach, damit das klar ist – mein Vater und ich werden für die Sparks nie mehr ein Pferd beschlagen, was mir natürlich sehr entgegenkommt. Könntest du nicht vor Gericht gehen?»

«Würde ich gerne, doch wir mussten eine Vertraulichkeitserklärung unterzeichnen, bevor Bing in den Rückkauf eingewilligt hat. Aber Mrs Smith glaubt an ein Karma, das ausgleichende Gerechtigkeit für alle schafft, die sich keine Anwälte leisten können.»

Peter ließ seine Hand über Storms Bein abwärts gleiten und hob vorsichtig seinen Huf, um ihn zu begutachten. «Hoffentlich hat sie recht. Wie sieht die ärztliche Prognose aus?»

Casey antwortete in sachlichem Ton. In der vergangenen Woche hatte sie so viele Schmerzen erleiden müssen, dass sie die Dinge mittlerweile akzeptieren konnte, als stehe sie unter Betäubung. Das Einzige, was jetzt zählte, war, dass sie und Storm wieder vereint waren. Die Zukunft würde sie jetzt Schritt für Schritt angehen.

«Die Prognose ist düster. «Der Stallmeister der Sparks soll den Tierarzt erst nach vierundzwanzig Stunden gerufen haben. In dieser Zeit hat sich Storms Huf infiziert. Und dann verstrichen nochmals wertvolle Stunden, bis man den Nagel unter Betäubung entfernen konnte. Dabei wurden schwere Verletzungen im Innern des Hufs festgestellt. Der eine Tierarzt meint, er müsse sechs Monate pausieren und werde wohl kaum mehr bei einem großen Turnier starten können. Ein anderer Veterinär sieht für diese Saison keine Chance mehr und hat uns geraten, ihn wegen seines Temperaments ganz von der Turnierszene zurückzuziehen, falls wir uns dies leisten können, oder ihn einschläfern zu lassen, was die billigste Lösung wäre.»

Peter konnte sich vorstellen, welche Wirkung diese Meinungen bei Casey hinterlassen hatten. Sorgfältig setzte er Storms Huf wieder ab. «Und was meint Mrs Smith?»

«Sie sagte so etwas wie: ‹Diese Quacksalber haben eh keine Ahnung, deshalb sollten wir uns nicht entmutigen lassen, bis wir den Rat von Menschen erhalten, die wirklich etwas von Pferden verstehen.›»

«Und an wen hat sie da gedacht?»

Im Hof war ein Auto zu hören.

«Unter anderem wurde dein Name genannt», sagte Casey. «Die Übrigen scheinen gerade angekommen zu sein.»

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Im blassen Sonnenlicht des späten Nachmittags kletterte ein schräges Trio aus einem uralten Ford Anglia. Als Erste schälte sich Janet aus dem Fahrzeug. Janet war die Herstellerin von Storms Vitamincocktails und den übelriechenden, aber dafür umso wirksameren Heiltränken, die dazu beigetragen hatten, dass Storm jene erste, bitterkalte Winternacht an der Hopeless Lane überlebt hatte. Casey hatte sie erst einmal gesehen, aber der Eindruck war unvergesslich.

Sie war auch nicht zu übersehen: großgewachsen und von kräftiger Statur mit dem rosigen Teint einer Bäuerin. Niemand hätte geahnt, dass sie ihr ganzes Leben in der Stadt verbracht hatte. Wie Mrs Smith war auch sie seinerzeit Hippie gewesen. Aber im Unterschied zu Angelica war sie es immer noch voll und ganz. Ihr weiter lila-roter Batikrock hätte gut und gern als Zelt herhalten können. Ihre weiße Rüschenbluse hätte Mozart neidisch gemacht. Wenn sie sich bewegte, klimperten ihre Armspangen, Fußreife und Halsketten wie ein Windspiel.

Als Nächste verließ Jin, Caseys Freundin von der Hopeless Lane, den Ford durch die Beifahrertür. Sie war immer noch gertenschlank und trug alte Reithosen und ein verblasstes Hope-Lane-Sweatshirt, aber sie war in der Zwischenzeit sichtlich aufgeblüht. Brille und Zahnspange waren verschwunden, und sie strahlte eine diskrete Schönheit aus, die durch ihre abgenutzte Kleidung nur noch unterstrichen wurde.

Casey war ganz begeistert, sie wiederzusehen. In all ihren Kämpfen mit Mrs Ridgeley hatte Jin immer auf ihrer Seite gestanden. Die beiden Mädchen umarmten sich und kicherten laut dabei.

«Was machst du denn hier?», fragte Casey.

«Mrs Smith hat mich angerufen. Sie wollte, dass ich meinen Onkel mitbringe.»

Noch bevor Casey nachfragen konnte, tauchte Mrs Smith auf, und es gab eine laute Begrüßungszeremonie. Dann passierte eine Weile gar nichts, während Janet im Fond des Wagens herumhantierte und schließlich einen untersetzten Chinesen mit zerfurchtem, karamellfarbenem Gesicht und einem bis zu den Hüften reichenden, grau melierten Pferdeschwanz zum Vorschein brachte. Er trug einen schwarzen Kampfsport-Schlabberanzug mit aufgestickten Drachenmotiven auf den Taschen. Würdevoll trat er aus dem Auto. Allerdings schien er verärgert zu sein. Nachdem er sich im Hof umgeschaut hatte, deckte er Jin mit einer wütenden Schimpftirade auf Mandarin ein.

Jin antwortete in derselben Sprache. Sie benahm sich äußerst unterwürfig und verbeugte sich immer wieder. Casey nahm jedoch wahr, dass sie nur mit Mühe ein Lachen unterdrücken konnte.

«Ist alles in Ordnung?», fragte sie Jin besorgt, als sie sie kurz einmal zur Seite nehmen konnte.

«Jein, aber mach dir keine Sorgen. Es wird alles gut. Mein Onkel – er heißt Eric Wu – hat eine Riesenangst vor Pferden. Er hatte als Junge einmal einen Unfall mit einem Pferd, und seither gerät er in Panik, wenn er nur eins sieht.»

«Also warum ist er denn hier? Weshalb hat Mrs Smith ihn hierherbeordert?»

Jin zuckte mit den Schultern. «Er hat ihr einmal geholfen. Sie hatte Rückenprobleme und konnte sich kaum bewegen. Und er hat die Sache in Ordnung gebracht. Er ist Akupunkteur und Heiler. In London ist er außerhalb der chinesischen Gemeinschaft ziemlich unbekannt, aber in Shanghai spricht man in den allerhöchsten Tönen von ihm. Man sagt, er sei einer der Besten aller Zeiten. Seine Massagen sind legendär.»

«Versteht er denn auch was von Pferden?»

Jin schüttelte den Kopf. «Keinen Schimmer. Ich hab’s dir ja gesagt. Er hat Angst vor ihnen. Außerdem spricht er kein Englisch.»

Der kleine Trupp machte sich unter Peters Führung auf den Weg zu Storms Stall.

Casey ließ sich zurückfallen und flüsterte Mrs Smith zu: «Ein Akupunkteur, der kein Englisch spricht und Todesangst vor Pferden hat. Wie soll der uns helfen? Was haben Sie sich dabei gedacht?»

Ein zufriedenes Lächeln umspielte Mrs Smiths Lippen. Eric Wu schimpfte schon wieder wie ein Rohrspatz, doch sie schien gänzlich unbeeindruckt. Sie hakte sich bei Casey unter. «Du musst mir einfach noch einmal Vertrauen schenken. Kannst du das?»

Casey hatte keine Wahl. Nachdem Mrs Smith mit Storms Befreiung aus den Fängen der Sparks das Unmögliche möglich gemacht hatte, war für sie klar geworden, dass sie nie wieder an ihrer Trainerin zweifeln würde. «Klar», sagte sie. «Klar, kann ich das.»

Doch es war nicht leicht, die Ruhe zu bewahren, als Mrs Smith sie vom Stall wegführte, um Janet, Jin, Peter und Eric Wu mit Storm allein zu lassen. «Peter zeigt ihnen jetzt erst mal Storms Huf. Er versteht mehr als die anderen von Pferdehufen und wird bei der Pflege eine wichtige Rolle spielen, falls man überhaupt was machen kann. Wenn es keine Therapie gibt, ist es gut, dass wir das so früh wie möglich wissen.»

Sie hockten sich nebeneinander auf den Koppelzaun und ließen ihren Blick über die grünen Weiden schweifen. Der Geruch der Pferde und Schafe wehte zu ihnen herüber. Beide blieben stumm. Mrs Smith war überzeugt, dass es richtig gewesen war, Janet und Eric Wu nach White Oaks zu bestellen. Und sie bedankte sich bei dem Glücksstern, der Peter veranlasst hatte, gerade heute den langen Weg von Wales nach Kent unter die Räder zu nehmen. Doch – wie so oft in den letzten Tagen – litt sie unter großen Schmerzen. Sie presste die Zähne zusammen und betete, dass der Schub vorbei sein möge, bevor Casey davon Wind bekam, und hoffte, dass die Beschwerden nicht heftiger würden, falls sich die Nachrichten als schlecht erweisen sollten.

Casey versuchte, positiv zu denken. Ohne Erfolg. Dass sich der Traum von Badminton zerschlagen hatte, war ihr mittlerweile einerlei. Sie wollte nur, dass Storm wieder gesund und glücklich wurde. Sie konnte ihn nicht länger leiden sehen.

Der orange-rote Sonnenball war schon hinter den Eichen verschwunden, als Peter, Janet, Jin und Eric Wu Storms Stall verließen und zu ihnen herüberkamen. Ihre gesenkten Köpfe verhießen nichts Gutes. Caseys Mut sank ins Bodenlose. Wenn sie nicht helfen konnten, gab es keine Hoffnung mehr für Storm. An die nächste Konsequenz mochte sie gar nicht denken. Mrs Smith hatte bereits zugegeben, dass ihre finanzielle Situation äußerst angespannt war. Sie hatte beinahe ihr gesamtes Vermögen dafür verwendet, Storm von Lionel Bing zurückzukaufen. Caseys letztjähriger Erfolg in Blenheim hatte ihnen einen Sponsorenvertrag für kostenloses Pferdefutter eingebracht. Das war schon etwas. Und solange ihnen keine hohen Tierarztrechnungen ins Haus flogen, würden sie sich wohl noch ein paar wenige Monate durchschlagen können. Dann aber, das hatte auch Mrs Smith gesagt, würde der «Moment der Entscheidung» kommen.

Erst als die Gruppe näher kam, bemerkte Casey dass die Zeichen von Peters Körpersprache auf Hoffnung standen und er einen Mundwinkel nach oben zog. Janet übernahm die Rolle der Wortführerin. Während sie sprach, gestikulierte sie energisch und ließ ihren Armschmuck klimpern. «Wir haben uns den Huf deines Lieblings sorgfältig angeguckt», sagte sie. «Sieht gar nicht schön aus. Habe selten was Schlimmeres gesehen. Aber ich glaube, zusammen können wir was erreichen. Eric Wu weigert sich, den ‹Gaul› zu berühren, aber Jin hier sagt, sie kann die Akupunkturnadeln unter Anordnung ihres Onkels setzen. Eric wird ihr auch zeigen, wie sie ihn massieren muss, um seinen Muskeltonus zu beleben. Von mir bekommt er Heiltrank 28, 33 und 117 und eine Serie von Manuka-Honig-Packungen verpasst.»

«Ich werde ihm eine Art Pantoffel basteln», warf Peter ein. «Er muss weich sein wie Schaffell, gleichzeitig aber Luft durchlassen und den Strahl gegen Druck schützen. So sollte er eigentlich in der Lage sein, das Bein schonend zu belasten.»

Zum ersten Mal seit sieben Tagen hatte Casey das Gefühl, dass jemand die Dunkelkammer in ihrem Kopf einen Spalt weit geöffnet und einen Schimmer Tageslicht hineingelassen hatte. «Und wie lange dauert die Behandlung?»

«Einen Monat», sagte Janet. «Peter und ich bleiben in der ersten Woche hier, um die Sache aufzugleisen. Danach muss Peter wieder heim nach Wales, um seinem Vater zu helfen. Ich übrigens auch, sonst wird mein Mann ganz hibbelig. Wenn nötig, kann ich immer wieder auf einen Sprung vorbeikommen. Jin und Eric Wu bleiben die ganze Zeit hier. Morag stellt ihnen ihren Wohnwagen zur Verfügung. Für sie passt das, also ist alles gebongt.»

«Halt, halt», unterbrach sie Mrs Smith. «Wenn Storm in zwei Monaten für Badminton fit sein soll, muss er seinen Huf in drei Wochen voll belasten können.»

Unter wildem Klimpern ihrer Armspangen sagte Janet: «Unmöglich. Schon ein Monat ist knapp genug.»

«Okay, dreieinhalb Wochen.»

Janet stöhnte theatralisch. «Sag mal, Angelica, wo sind wir hier eigentlich? Auf dem Basar? Aber wenn es sein muss, muss es sein. Wir werden versuchen, ihn in dreieinhalb Wochen fit zu kriegen, aber ich warne dich vor zu viel Zuversicht. Und Jin, du sagst deinem Onkel jetzt, er soll aufhören, ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter zu machen. Hallo? Wir sind zum Arbeiten gekommen.»