Kapitel 4
Russell nahm sich einen Becher und füllte ihn mit Kaffee. Dann ging er um den Tisch herum und setzte sich neben Candy. Er hoffte, dass die Besprechung bald begann. Allerdings mussten sie auf Sammy und Adam warten, die wohl noch auf dem Weg von der Mondstation nach New California waren. Fullerton, der Geologe, fehlte auch noch.
Russell hob den Becher zum Mund, aber der Kaffee war noch zu heiß. Immerhin belebte ihn der Geruch etwas. Als er das Gefäß wegstellte, roch er jedoch wieder den beißenden Gestank der Schweißarbeiten draußen, wo mehrere Mechaniker damit beschäftigt waren, einen zusätzlichen Container mit dem Gebäude zu verbinden, um mehr Platz zu erhalten.
Candy zupfte ihn am Ärmel. »Bist du auch so müde wie ich?«
»Ich glaube, du bist müder.«
Seine Kameradin zuckte mit den Schultern. »Kann schon sein. Die letzte wirkliche Portion Schlaf habe ich auf der Erde gehabt.«
Die Erde ... Ein ganzes Jahr war es nun her, dass sie über die Mondstation und den neuen Transporter, den Jeremy zu ihnen nach New California gebracht hatte, wieder Kontakt zum Heimatplaneten aufgenommen hatten. Mehrmals hatte Russell Pläne gemacht, mit einem der Transferraumschiffe zur Erde zu fliegen. Er war sogar zu einem offiziellen Empfang bei der UN in New York eingeladen gewesen. Er hatte den Termin dann doch absagen müssen, weil es Probleme mit der Ernte auf New California gegeben und Sammy die Situation allein nicht in den Griff bekommen hatte. Stattdessen war Jim mit Elise zur Erde geflogen und hatte im Austausch für seine Verpflichtung bei der Raumflotte sein neues Bein bekommen. Russell wäre so gerne dabei gewesen, als sein Sohn in Atlanta seine ersten Schritte nach der Transplantation gemacht hatte.
»Endlich«, sagte Candy.
Sammy betrat mit Adam Lang und Mark Fullerton den Besprechungsraum. Auch der hochgewachsene Adam sah erschöpft aus. Der Leiter der Mondstation hatte in den vergangenen Monaten unfassbar viel Arbeit gehabt, die neue Mondbasis mit dem neu gezüchteten Transporter auf der der Erde zugewandten Seite aufzubauen. Darüber hinaus hatten seine Vorgesetzten ihn zum Kontaktmann für New California ernannt, und Adam pendelte via Transporter beinahe täglich zwischen Mond und New California hin und her.
»Sorry«, sagte Sammy. »Ich musste mich noch um John Dressel kümmern.«
Russell verdrehte die Augen. »Ist er wieder abgestürzt?« Es war in der letzten Zeit öfter vorgekommen.
»Abgesoffen trifft es wohl besser.« Candys Stimme triefte vor Sarkasmus.
»Ich schicke ihn morgen zum Mond, von da aus soll er an einer Expedition teilnehmen. Der Tapetenwechsel wird ihm helfen, seinen Dämonen zu entkommen.«
Adam grinste. »Ganz davon abgesehen, dass er auf der USS Nebraska keine Gelegenheit für einen Drink bekommen wird.«
»Danke, dass du das für mich machst.« Sammy schlug seinem Kollegen sanft auf die Schulter.
»Kein Problem.« Adam winkte ab und setzte sich.
»Jedenfalls spiele ich mit dem Gedanken, den Physiker ganz auf die Erde zu versetzen«, sagte Sammy.
Russell war sich sicher, dass das John nicht schmecken würde. »New California ist seit über zwanzig Jahren sein Zuhause. Er hat mitgeholfen, seine Heimat vor den Biestern zu retten.«
Sammy runzelte die Stirn »Mitgeholfen? Ohne ihn und seine Atombombe wären wir nicht mehr. Das werden wir ihm auch nicht vergessen. Aber hier erinnert ihn einfach zu viel an Ryan und Camille. Außerdem gibt es nicht genug für ihn zu tun.«
»Ich finde es trotzdem nicht richtig, ihn von hier zu verbannen. Es gibt sicher andere Wege, ihn ...«
Sammy hob die Hand. »Erst mal geht er auf die Expedition, dann sehen wir weiter. Wir haben uns hier auch nicht getroffen, um über John zu beraten.«
Das stimmte allerdings. Dennoch wünschte Russell seinem Freund, dass sie eine Lösung für ihn fanden.
Sammy setzte sich und wandte sich an Fullerton. »Also?«
»Wir haben auf Tempelhof eine Stadt entdeckt. Es handelt sich um eine Ansammlung von Gebäuden, die ...«
Sammy unterbrach ihn. »Wissen wir schon, du musst jetzt nicht die ganze Besprechung von vorgestern wiederholen. Sag mir einfach, was du rausgefunden hast.«
Der Geologe räusperte sich. »Also, die Gebäudeklumpen, die wir untersucht haben, ähneln tatsächlich dem Beton unserer Städte. Eine Isotopenanalyse lässt darauf schließen, dass das Material etwa sechshundert Millionen Jahre alt ist.«
»Heilige Scheiße«, rief Candy. »So lange in der Vergangenheit gab es auf der Erde noch nicht mal Dinosaurier!«
Fullerton lachte auf. »Dinosaurier? Zu dieser Zeit gab es auf der Erde gerade mal einfachste Mehrzeller.«
Candy zuckte mit dem Schultern.
»Jedenfalls sind die Gebäude somit älter als die Technologie der Erbauer.« Russell schüttelte den Kopf. »Als der Transporter auf Tempelhof gelandet ist, gab es deren Zivilisation schon lange nicht mehr.« Unfassbar!
»Weiter«, forderte Sammy den Geologen auf. »Was sonst noch?«
»Ich habe in dem Material winzige Gaseinschlüsse gefunden. Der Planet muss früher eine Atmosphäre gehabt haben. Und damit meine ich eine Atmosphäre, die der der Erde sehr ähnlich war.«
»Wie lange ist es her, dass er seine Atmosphäre verlor?«, fragte Russell.
Fullerton runzelte die Stirn. »Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass er beim Bau der Stadt eine Atmosphäre hatte.«
»Also können wir auch nicht wissen, ob es ein langsam verlaufender Prozess war oder eine überraschend eingetretene Katastrophe«, schloss Adam.
»Können wir nicht, nein«, bestätigte Fullerton.
Candy hob eine Hand. »Sie sagen, dass die Bausubstanz aus Beton bestand.«
»Zumindest etwas sehr Ähnlichem, ja.«
»Warum ist es dann so schwarz? Haben Sie das mal untersucht?«
Fullerton nickte. »Ja, habe ich. Die Oberfläche ist oxidiert.«
Russell runzelte die Stirn. »Oxidiert?«
»Verbrannt!«
»Und der Felsboden, auf dem der Transporter stand?«, hakte Candy nach. »Der war doch auch vollkommen schwarz. Wollen Sie damit sagen, dass alles an der Oberfläche verbrannt ist?«
Fullerton nickte. »Ja, so sieht es aus. Wahrscheinlich ist der ganze Planet von so einer Oxidschicht umgeben.«
»Was kann denn dafür verantwortlich sein?« Adam gähnte und schaute aus dem Fenster.
»Vielleicht eine Sonneneruption?«, überlegte Sammy.
»Laut astronomischem Handbuch ist der G-Klasse-Stern, um den der Planet kreist, eher gutmütig und somit nicht gerade ein Kandidat für gewalttätige Protuberanzen.«
»Was dann?«, fragte Russell. »Vielleicht eine kosmische Katastrophe in der galaktischen Nachbarschaft? Ich meine so einen Gamma...« Wie hieß das verdammte Wort?
»Gammastrahlenausbruch?« Fullerton schüttelte den Kopf. »Das würde sich anders äußern. Nein.«
»Vielleicht eine Waffe«, mutmaßte Candy.
»Was?«, machte Sammy.
»Wo Zivilisation ist, gibt es Krieg. Vielleicht haben sie auf ihrem Planeten Krieg geführt, womöglich mit nuklearen Mitteln, und das hat ihnen die Atemluft geraubt.«
Sammy schnaubte. »Ein weltweit geführter Atomkrieg würde vielleicht die Atmosphäre verstrahlen, sie aber doch niemals in den Weltraum entweichen lassen.«
Candy reckte den Kopf. »Das war ja auch nur eine Vermutung. Was weiß ich denn, welche Waffen denen zur Verfügung gestanden haben.«
Russell beugte sich zu seiner Kameradin herüber und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Sie wurde immer so aggressiv, wenn sie müde war.
Sammy machte eine wegwerfende Geste. »Letzten Endes ist es für uns ohne Bedeutung. Es ist eine untergegangene Zivilisation und außerdem schon Äonen her.«
»Trotzdem schade«, erklärte Fullerton. »Da treffen wir zum ersten Mal seit den Erbauern der Transporter auf eine Zivilisation und dann ist sie untergegangen.«
»Vielleicht schicken wir irgendwann noch mal jemanden hin, um nach Artefakten zu suchen«, sagte Adam.
»Ich glaube nicht, dass das Sinn macht«, meinte Fullerton. »Wir haben uns in der Stadt umgesehen. Bis auf die Bausubstanz ist alles schon zu Staub zerfallen.«
»Wir werden irgendwann mal ein Forschungsteam dorthin schicken«, verkündete Adam. »Aber das wird dauern. Einstweilen hat die Erforschung der anderen Gegenstellen unseres Supertransporters Priorität.«
Russell seufzte.
Der Supertransporter.
Seit dem Auftreten der Todeszone hatte sich das Transporternetzwerk neu organisiert und in Zellen aufgeteilt. Jede dieser Zellen umfasste einige tausend Planetensysteme, die in galaktischem Maßstab eng beieinanderlagen. Mit dem Transporter auf dem Mond konnte man nur zu anderen Transportern gelangen, die in der eigenen Zelle lagen. Wollte man zu einem Transporter in einer anderen Zelle, ging der Weg ausschließlich über den entsprechenden Supertransporter. Die UN hatten nun empfohlen, die Welten zu bereisen und zu katalogisieren, die in der eigenen Zelle lagen und auf denen akzeptable Umweltbedingungen für einen Besuch herrschten. Auch hatte die UN angeregt, erdähnliche Planeten baldmöglich zu kolonialisieren. Das geschah nun allmählich und insgesamt hatten sich schon auf mehreren Planeten Menschen angesiedelt. Sicher, es gab Rückschläge. Der Transporter der Welt, auf der man vor einem Jahr die gehirnfressenden Sporen entdeckt hatte, war aus dem Netz genommen worden, damit von dort keine Gefahr mehr drohte. Aber niemand konnte wissen, welche Bedrohungen sonst noch auf anderen Welten auf sie warteten. Darum war Russell nicht ganz glücklich darüber, mit welcher Geschwindigkeit das Forschungs- und Besiedelungsprojekt vorangetrieben wurde. Immerhin hatte man es bisher vermieden, einen neuen Transporter auf der Erde selbst zu installieren. Aber wenn man bedachte, welchen Aufwand es machte, Menschen und Material von der Erde zum Mond und zurückzubringen, dann war es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis die amerikanische Regierung oder die UN ihre Entscheidung revidieren würde.
Es klopfte an der Tür.
»Ja?«, sagte Sammy laut.
Stephen Pace kam herein und ging direkt zu Adam, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Russell hatte den Mechaniker zuletzt in der Mondbasis gesehen. Er musste eben mit dem Transporter hierhergekommen sein.
Adam bekam große Augen und erhob sich. »Entschuldigen Sie mich, ich muss zum Mond zurück.«
»Probleme?«, fragte Sammy.
Adam nickte, wandte den Kopf und fixierte Russell. »Die Beagle hat die Transporterfabrik erreicht. Dabei muss es zu einem Vorfall gekommen sein.«
Russells Herz krampfte sich zusammen.
Jim! Was ist mit Jim?
»Begleiten Sie mich, Russell!«, forderte Adam ihn auf.