Fasziniert blickte Russell aus dem Fenster des Wagens. Die Hochhäuser von Lower Manhattan, die vom One World Trade Center dominiert wurden, lagen zu seiner Linken, als sie über die Williamsburg Bridge nach Manhattan fuhren.
Er schluchzte laut auf. Der afroamerikanische Fahrer in seinem schwarzen Anzug blickte ihn durch den Rückspiegel kurz an, widmete seine Aufmerksamkeit aber schnell wieder der Straße. Zum Glück saßen Candy und Mitchell in einem anderen Wagen.
Elise nahm Russels Hand. »Als ich letztes Jahr zum ersten Mal wieder in Manhattan war, habe ich Rotz und Wasser geheult.«
Russell presste die Lippen zusammen. Er war früher nie dicht am Wasser gebaut gewesen. Eine nicht allzu behütete Kindheit hatte ihn abgehärtet und er konnte sich nicht erinnern, seit dem sechsten Lebensjahr laut geweint zu haben. Die Jahre hatten ihn offenbar weicher gemacht. Vielleicht war es aber auch die lange Zeit an der Seite seiner Frau, die es ihm erleichtert hatte, Gefühle zuzulassen.
Er wischte sich über die Augen und schaute wieder aus dem Fenster, als sie die Wohnhäuser der Lower East Side passierten, die allesamt aus dem sozialen Wohnungsbau stammten. Nach einigen Blocks bogen sie im dichter werdenden Verkehr nach rechts in die Clinton Street ab.
Elise beugte sich nach vorne. »Warum sind wir nicht über Queens gefahren?«
»Der Midtown Tunnel ist wegen Bauarbeiten gesperrt. Leider ist auch der FDR im Moment eine einzige Katastrophe. Wir fahren gleich über die Houston Street in die 1st Avenue. Dann sind wir im Handumdrehen am Ziel.«
Russell schmunzelte. Der Fahrer konnte noch nicht lange in New York sein. Er sprach das Houston
im Straßennamen wie die texanische Stadt aus.
Es schien sich wirklich nicht viel verändert zu haben in den letzten zwanzig Jahren. Die Leute trugen immer noch Jeans und Sweatshirts, oder Anzüge, die sich von denen der früheren Zeit in nichts unterschieden. Es fuhren immer noch Unmengen an Autos durch Manhattan, wenn auch mit Elektromotor, wie das Fehlen von Auspuffen und Motorengeräuschen vermuten ließ. An die lächerlichen Vokuhila-Frisuren hatte sich Russell schon bei der Besatzung der Mondbasis gewöhnt.
Sie bogen nach links ab und standen kurze Zeit später vor einer der vielen Ampeln. Russell blickte aus dem Fenster auf ein Bistro, das ihm irgendwie bekannt vorkam. Sein Herz machte einen Sprung! Er freute sich wie ein kleines Kind, dass es den Laden noch gab, denn hier hatte er eines der besten Sandwiches seines Lebens gegessen. Er war damals mit Karen hier gewesen. Es war der letzte gemeinsame Urlaub gewesen, bevor sie starb.
Die Erkenntnis versetzte ihm einen Stich. Er hatte in den letzten zwanzig Jahren nur noch sehr selten an Karen gedacht, und wenn, hatte er sich von seiner damaligen Trauer gut distanzieren können. Jetzt diesen Ort wiederzusehen, an dem sie wundervolle gemeinsame Tage verbracht hatten, war schmerzhaft. Es bereitete ihm unfassbare Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
Endlich sprang die verdammte Ampel auf Grün und sie ließen seine Erinnerungen hinter sich. Kurze Zeit später bogen sie auf die 1st Avenue nach Norden ab, auf der weniger Verkehr war. Zehn Minuten später erreichten sie das klotzförmige Gebäude der Vereinten Nationen, gerade als es zu regnen begann. Russell und Elise zeigten dem Wächter durch das Fenster die Ausweise, die Adam ihnen gegeben hatte, und kurz darauf durften sie passieren.
Ein großgewachsener Mann mit grauen Haaren und grauem Mantel empfing sie und hielt einen Regenschirm über ihre Köpfe, während sie ausstiegen. »Mein Name ist Henderson. Die anderen Delegierten sind bereits eingetroffen.«
»Wir müssen noch auf Candy und Mitchell warten«, sagte Elise.
Henderson schüttelte den Kopf. »Die sind bereits vor fünfzehn Minuten eingetroffen. Offenbar hat Ihr Fahrer einen Umweg genommen.«
»Nicht schlimm«, entgegnete Russell, während ihr Führer sie in das Gebäude brachte. »Ich hab den Abstecher nach Lower Manhattan genossen. Ich hoffe, dass wir nach der Besprechung etwas Zeit für die Stadt haben.«
Henderson führte sie durch eine mit poliertem Marmor verkleidete Halle zu einem Fahrstuhl und drückte den Knopf. »Ich muss Sie enttäuschen. Direkt nach der Konferenz wird Sie ein Hubschrauber nach Washington bringen.«
Russell starrte ihren Begleiter entgeistert an. »Nach Washington? Was sollen wir denn da?«
»Präsident Young möchte Sie sprechen.«
Elises und seine Blicke trafen sich kurz.
Oha! Das ist neu!
Der Fahrstuhl traf ein und brachte sie nach oben. Wenig später betraten sie einen großen Besprechungsraum, der bereits prall mit Menschen gefüllt war. Die eigentlichen Delegierten saßen an einem hufeisenförmigen Tisch, während Helfer und Assistenten in mehreren Stuhlreihen dahinter Platz genommen hatten.
Eine der langen Seiten des Raumes bestand aus einem riesigen Fenster, das einen atemberaubenden Blick auf den East River zuließ. Leider verschwanden die dahinterliegenden Stadtteile Queens und Brooklyn im Regen.
Eine Vielzahl an Augenpaaren glotzte sie an. Henderson verwies Russell und Elise an eine kleine, blonde Frau in einem adretten, schwarzen Kostüm. Sie stellte sich als Joanna Garth vor und wies den beiden Plätze im hintersten Bereich des Raumes zu. Russell erspähte ein Paar leerer Stühle, direkt neben Mitchell und Candy, aber weit weg vom nächsten Mikrofon.
Russell fuhr sich irritiert durch die Haare. »Ich dachte, wir würden als Delegierte teilnehmen.«
Garth blinzelte. »Nein, Mr. Harris, Sie sind mir als Beobachter gemeldet worden. Ich muss Sie also bitten, die Ihnen zugewiesenen Plätze einzunehmen.«
Russell blickte sich im Raum um. Die Delegierten an den Tischen trugen ausnahmslos Anzüge mit Krawatten und hatten Schilder vor sich auf den Tischen stehen, die in großen, schwarzen Lettern Namen und Herkunftsland verkündeten. Russell erkannte einen »Franzen« aus den USA, einen »Dahl« aus Großbritannien, einen »Proust« aus Frankreich, einen »Kästner« aus Deutschland, einen »Yan« aus China, einen »Nabukov« aus Russland und einen »Murakami« aus Japan. Wer waren die Leute?
Garth hatte seinen skeptischen Blick offenbar bemerkt. »Es sind Repräsentanten der internationalen Weltraummächte, die eigene Orbitaltechnologie entwickelt haben. Und jetzt setzen Sie sich bitte. Wir wollen endlich anfangen.«
Russell folgte Elise zu den hinteren Stühlen und setzte sich neben Mitchell, der mit starrer Miene und über der Brust verschränkten Armen auf seinem Platz nach vorne starrte.
Der Schnittstelleningenieur zog eine Grimasse. »Ich habe mir das etwas anders vorgestellt.«
»Sie sagen, wir seien nur Beobachter«, erklärte Candy.
Russell beugte sich zu ihr herüber. »Das ist nicht das, was Adam uns angekündigt hat. Da hätte ich mir den Weg sparen können.«
Garth eröffnete inzwischen die Besprechung. Sie begrüßte die Anwesenden und räusperte sich. »Sie haben alle die Dossiers erhalten, in denen die bevorstehende Gefährdungslage detailliert zusammengefasst ist.«
Russell runzelte die Stirn. Gefährdungslage?
Ein sehr harmloses Wort für die bevorstehende Auslöschung allen Lebens auf der Erde.
Garth fuhr fort. »Ein Eindringen fremder Raumschiffe in unsere Galaxis ist für Ende des Monats zu erwarten.«
Candy stöhnte leise auf. »Das darf nicht wahr sein! Die haben uns eine Tante vorgesetzt, die noch nicht einmal den Unterschied zwischen einem Sonnensystem und einer Galaxis kennt.«
Russell rutschte auf seinem Stuhl hin und her.
»Diese fremden Raumschiffe könnten auf ihrem Kurs auf die Erde stoßen und Bomben abwerfen«, verkündete Garth. »Es scheint daher naheliegend, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, um die Eindringlinge abzuwehren, falls dies nötig sein wird.«
Der deutsche Delegierte flüsterte seinem französischen Kollegen etwas ins Ohr, woraufhin der Angesprochene sich nach rechts beugte, um ein Tellerchen mit Keksen an den Deutschen weiterzureichen. Der japanische Delegierte schien gar nicht zuzuhören und schaute aus dem Fenster. Seine Augenlider klappten in immer kürzeren Abständen nach unten.
Russells Puls beschleunigte sich. »Könnte«, »würde«, »scheint«. Die Idioten hier in diesem Besprechungsraum hatten nicht die geringste Ahnung von der Gefahr, die der Menschheit drohte. Hatte Adam seinen Bericht nicht deutlich genug verfasst? Oder wollte man den bevorstehenden Weltuntergang einfach nicht wahrhaben?
Garth wedelte immer wieder mit der rechten Hand vor der Brust herum, während sie sprach, als müsste sie ein unsichtbares Orchester dirigieren. »Wir schlagen daher vor, dass jede Nation ein oder zwei Raumschiffe abkommandiert, die eine Art Wachdienst im hohen Erdorbit absolvieren, falls die fremden Raumschiffe zufällig einen Kollisionskurs mit der Erde eingehen. Als Bewaffnung schlagen wir thermonukleare Sprengsätze mit eigenem Antrieb vor.«
Wachdienst? Zufälliger Kollisionskurs?
Sollte das ein Witz sein? Oder eine bizarre Version der Versteckten Kamera
?
Der deutsche Delegierte meldete sich zu Wort. »Wir haben mit der Hindenburg
nur ein Schiff im Orbit und das müssen wir zur Überwachung von Flüchtlingsströmen an der nordafrikanischen Küste einsetzen. Ein Abzug von dieser Mission steht in Anbetracht der innenpolitischen Lage nicht zur Diskussion. Bundeskanzler Altenburg hat aber in Absprache mit Finanzminister Seefeld angekündigt, zehn Millionen D-Mark für eine Wachmission beizutragen.«
»D-Mark?«, flüsterte Elise.
Mitchell beugte sich zu ihr herüber. »Die EU gibt es schon lange nicht mehr. Was meinen Sie, warum hier der Deutsche, der Franzose und der Engländer einzeln sitzen.«
Russell schüttelte den Kopf. Das spielte keine Rolle. Wenn auf diese Art weiterdiskutiert wurde, würde in einigen Wochen etwas ganz anderes zusammenbrechen als die Europäische Union.
Nabukov, der Russe, erhob sich. Sein dünnes Gesicht und der graue Bart verliehen dem Mann eine zutiefst aristokratische Aura. »Seit dem Verlust der Kusnezov
im Asteroidengürtel ist die russische Weltraumflotte am Limit ihrer Aufgaben. Wir können ebenfalls keine Ressourcen für einen Wachdienst erübrigen.«
Franzen erhob sich und legte den Kopf schief. »Präsident Young betrachtet die Gefahr durch die ankommenden Raumschiffe als reale Bedrohung des ganzen Planeten. Wir werden bis auf die Constitution
und die Beagle
, die immer noch im Asteroidengürtel unterwegs ist, alle vier verfügbaren Raumschiffe zum Einsatz gegen den Eindringling schicken. Wir rüsten jede mit der stärksten Atomrakete aus, die wir binnen drei Wochen in den Orbit bringen können.«
Oh Himmel!
Russell schloss die Augen. Wenn gerade mal vier Raumschiffe mit jeweils einer Atomrakete als letzte Abwehrmaßnahme der Menschheit zur Verfügung standen, dann konnte die Erde gleich einpacken.
Yan, der Chinese, lachte leise. Dann funkelte er den Amerikaner an. »Mr. Franzen, Ihr aufgesetzter Alarmismus wirkt lächerlich. Glauben Sie wirklich, wir sind so dumm, unsere Verteidigungslinien zu entblößen? Dass wir einem Phantom hinterherjagen, während unsere Mondbasis schutzlos hinterhältigen Kommandounternehmen ausgeliefert ist? Nein, für so dumm können Sie uns nicht halten.«
Russell schlug sich an die Stirn. Er hatte damit gerechnet, in eine Konferenz zu gehen, in der Spezialisten zusammenkamen und alles auf den Tisch gelegt wurde, um den sicheren Weltuntergang zu verhindern. Stattdessen saßen dort an diesem Hufeisentisch schmierige Diplomaten, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich gegenseitig Täuschung und Betrug vorzuwerfen. Es hatte sich in der internationalen Diplomatie in den letzten zwanzig Jahren nicht das Geringste geändert. Die Chinesen warfen den Amerikanern Betrug vor, die Russen waren ignorant und die Deutschen versuchten, ihre Probleme mit Geld zu erschlagen. Es mutete fast unnatürlich an, dass die Amerikaner diesmal zumindest einen Teil ihrer Ressourcen zur Verfügung stellten. Nötig war aber alles
und selbst das war wahrscheinlich nicht genug, um die Menschheit zu retten.
Der Japaner stand auf, strich sich über die schwarze Krawatte und verbeugte sich höflich. »Unsere Regierung hat zugestimmt, in eine Koalition der Willigen einzutreten und zwei Raumschiffe, die Osaka
und die Kunashiri
zur Verfügung zu ...«
Der russische Delegierte sprang auf und drohte mit dem Zeigefinger. »Ausgerechnet die Kunashiri
! Wenn Sie glauben, Sie könnten die russische Regierung mit einer solch durchsichtigen Geste beeindrucken, dann haben Sie sich getäuscht.«
Russell runzelte die Stirn. »Was hat er denn?«
Mitchell blickte ihn an. »Kunashiri ist der Name einer Insel der südlichen Kurilen, die von Russland seit dem Zweiten Weltkrieg besetzt ist, aber von Japan beansprucht wird. In der letzten Zeit wieder mit Nachdruck.«
Jetzt platzte Russell der Kragen und er stand auf. »Ihr Narren habt nicht die geringste Ahnung, welche Gefahr auf euch zukommt.«
Alle Augen im Raum richteten sich auf ihn. Der Deutsche hob seine Augenbrauen.
Russell bemühte sich, ruhig zu bleiben, aber seine Stimme zitterte. »Ich habe die fünf Schiffe, die sich unserem System nähern, mit eigenen Augen gesehen. Soll ich Ihnen etwas sagen? Sie sind kilometergroß, dagegen sind unsere eigenen Schiffe nur ein Witz. Und soll ich Ihnen noch etwas sagen? Ich habe Planeten besucht, die von den Fremden angegriffen wurden. Die Welten waren danach nur noch Landschaften aus schwarzen Trümmern, die Atmosphäre in einem gewaltigen Feuersturm verbrannt. Diese Planeten beherbergten einmal wie die Erde eine hochstehende Zivilisation. Dann griffen die Fremden an und in wenigen Minuten waren alle tot.«
Russell blickte sich um. Immerhin hatte er die volle Aufmerksamkeit der Anwesenden. »Dieses Schicksal droht nun den Menschen. Nicht irgendwann. Das hier ist keine abstrakte Gefahr, sondern es steht unmittelbar bevor. Die Schiffe sind unterwegs hierher. Sobald sie in unserem Sonnensystem eintreffen, werden sie zur Erde fliegen und sie vernichten. Eine einzige Bombe reicht dazu aus. Genau das wird in spätestens dreiundzwanzig Tagen geschehen. Es geht um das nackte Überleben aller Menschen auf diesem Planeten und Sie sitzen hier und haben nichts Besseres zu tun, als Diplomatenpoker zu spielen!«
Russell machte eine Pause, um Luft zu holen. Im Raum war es still. »Passen Sie auf!« Russell trat einen Schritt auf den Tisch zu. »Sie sollten alles, was Sie haben, zur Verfügung stellen, um der Erde die bestmögliche Chance zu geben, diese Angreifer zurückzuschlagen. Tun Sie etwas, was Sie noch nie vernünftig auf die Reihe gekriegt haben: Arbeiten Sie endlich einmal alle zusammen und stellen Sie nicht nur Ihre Raumschiffe zur Verfügung, sondern auch Ihre besten Spezialisten, damit die gemeinsam überlegen, wie man den unvermeidlichen Weltuntergang noch stoppen kann. Es ist Ihre letzte Chance, sonst werden Sie sterben.«
Als Russell sich wieder setzte, herrschte Schweigen im Raum.
Es war der deutsche Gesandte, der sich als erstes fing. Er stand auf und rückte seine randlose Brille zurecht. »Sie haben recht. Wir müssen mehr tun«, sagte er und hob theatralisch beide Arme. »Ich denke, wir können unter diesen Umständen fünfzehn
Millionen D-Mark zur Verfügung stellen.«