Jim blickte auf den Bildschirm. Das gelbe Symbol, das die USS
Billings
darstellte, näherte sich auf der Flugbahnkurve dem kleinen grünen Kreis. Nur noch wenige Minuten. »Bremsmanöver vorbereiten.«
»Jawohl, Captain Harris«, sagte Corporal Rakers und hantierte an seiner Konsole herum. Der blutjunge Unteroffizier war eigentlich noch nicht so weit, als Steuermann während eines Orbitalmanövers zu fungieren, aber Jim hatte ihn, so gut es ging, vorbereitet. Er konnte schließlich nicht alles alleine machen.
Jason und Sergej saßen hinter ihm gemeinsam an einer Konsole und versuchten, die Stelle des Bordingenieurs irgendwie auszufüllen. Mehr als eine Notbesatzung hatte man Jim für seine Mission nicht zur Verfügung stellen können. Ganze vier Mann in einem Raumschiff wie diesem, an das außerdem noch weitere fünf Schiffe als Fracht angeflanscht waren - es war fast Wahnsinn. Schon morgen würden weitere Raumschiffe aus der Transporterfabrik im Erdorbit eintreffen. Wiederum nur mit einer Notbesatzung.
»Haben wir Kontakt mit der Raumstation?«, fragte Jim nach einem ergebnislosen Seitenblick auf den Radarschirm.
»Nein«, antwortete Jason. »Ist noch hinter dem Horizont.«
Auf Jims Konsole piepte es. »Perigäumsmanöver steht unmittelbar bevor«, meldete er. Er drückte auf einen Knopf, um die Meldung zu quittieren, und das Piepen hörte auf. »Noch fünf Sekunden, vier, drei, zwei, eins, Zündung!«
Sanft wurde er in den Sitz gedrückt. Immerhin hatten die Triebwerke gezündet. Wegen der Masse der befestigten Schiffe, die außerdem noch voll betankt waren, war die Beschleunigung nur sehr gering. Die Zündung würde viermal so lange dauern müssen wie üblich.
»Ich empfange die Leitsignale der Raumstation«, meldete Corporal Rakers. »Sie ist ungefähr da, wo sie zu erwarten war, aber offenbar sind wir schneller, als wir sein sollten. Wir kommen zu lang rein.«
»Können wir korrigieren?«, fragte Jim.
»Nein, wir sind schon auf maximaler Beschleunigung«, entgegnete Rakers. »Mehr geben die Triebwerke einfach nicht her.«
Wie dumm! Sie würden an der Raumstation vorbeifliegen und mussten ein zweites Rendezvous versuchen. Und das auf seinem ersten Kommando als Kapitän eines Raumschiffes. Doch dann hatte er eine Idee. »Und was ist, wenn wir die Manövertriebwerke zusätzlich nutzen?«
»Die sind aber nur für Manöver innerhalb eines Orbits gedacht«, gab Rakers zu bedenken.
Jim zuckte mit den Schultern. »Ist doch egal. Wir haben fast volle Tanks in den OMS-Gondeln. Der wird uns später nicht fehlen.«
Lange Sekunden vergingen.
»Ja, in Ordnung«, meldete der Steuermann schließlich. »Haut hin. Ich schalte die OMS-Triebwerke hinzu.«
Jim spürte, dass sich der Schub erhöhte. Außerhalb der Fenster kam die Erde immer näher. Er freute sich, dass er nach seinem ersten Einsatz wohlbehalten zurückkehrte. Wenn auch auf eine andere Art und Weise als geplant. Niemals hätte er sich träumen lassen, an Bord seines eigenen Schiffes wieder in eine Erdumlaufbahn zu gehen. Doch am meisten freute er sich darauf, seine Familie wiederzusehen. »Was macht das Rendezvous?«
»Sieht vielversprechend aus«, verkündete Jason. »Wenn wir die jetzige Flugbahn beibehalten, sind wir bei Abschluss der Bremszündung genau unterhalb des Andockkegels.«
Jim nickte. »Wie lange noch?«
»Neunzig Sekunden«, sagte Rakers.
Jim blickte aus dem Fenster. Die Nase des Raumschiffes zeigte auf den Horizont der Erde genau entgegen ihrer Flugbahn. Leider verfügten sie nicht über schwenkbare Gondeln für die Haupttriebwerke wie die neueste Generation. Darum konnte er auch die Raumstation nicht erkennen, die irgendwo hinter dem Heck sein musste.
»Noch fünfzehn Sekunden.«
Auf dem Monitor der Flugbahnanalyse verwandelte sich die ehemals langgezogene Ellipse allmählich in einen Kreis. Dann war der Andruck weg und Jim hing wieder schwerelos in einem Sitz. »Und? Sag was, Jason!«
Jason zögerte. Jim ließ ihm Zeit, denn die Konsole war auch für den Physiker neu. »Äh, ja, jetzt hab ich es. Erdorbit bei 450 zu 420 Kilometer. Inklination 65 Grad. Alles innerhalb der Toleranzen.«
»Die Raumstation?«, fragte Jim.
»Fünf Kilometer unter uns. Liegen genau im Andockkegel.«
Jim nickte befriedigt und griff nach dem Steuerknüppel. Mit kurzen Stößen des Lageregelungstriebwerks brachte er das Raumschiff in eine sanfte Rotation entlang der Hochachse. Der Horizont verschwand. Stattdessen blickte er hinab auf eine braungelbe Landmasse ohne jegliche Bewölkung. Er wusste nicht, welchen Kontinent er gerade überflog. Es interessierte ihn auch nicht sonderlich. Er war vollauf mit dem Andockmanöver beschäftigt. Er wollte es hinter sich bringen, bevor sie zusammen mit der Raumstation den Terminator erreichten und in die Dunkelheit der Nachtseite eintauchten.
Nach wenigen Augenblicken sah er die Raumstation. Er brachte die Rotation zum Stillstand und beschleunigte auf das Gebilde zu, das wie eine gigantische, silberne Libelle aussah und aus einer Vielzahl an silbernen und goldene Modulen bestand, die alle die charakteristische Zylinderform hatten. Jim wusste, dass es sich um einen direkten Nachfolger der Internationalen Raumstation ISS handelte, von der sein Vater ihm erzählt hatte.
»Wir haben Freigabe zum Docken«, meldete Sergej.
Jim schmunzelte bei dem Gedanken an das Gesicht des Funkoffiziers auf der Station, nachdem Sergej die USS Billings
mit seinem schweren russischen Akzent, aber gültigen Identifikationscodes angemeldet hatte.
Vorsichtig brachte Jim das Schiff an die Station heran. Kurz vor dem Erreichen drehte er die Billings
auf die Seite. Nun flogen sie mit ihrem eigenen Kopplungsadapter auf das Ziel zu. Mit schwitzenden Händen bediente er den Steuerknüppel.
Dann beendete ein metallisches Geräusch das erfolgreiche Dockingmanöver. Kurze Hammerschläge ertönten, als die Riegel das Schiff endgültig mit der Station verbanden.
Jim atmete tief durch und schnallte sich ab. Er überließ die Deaktivierung des Cockpits dem jungen Unteroffizier. Jason wollte Sergej noch einige Prozeduren an der Navigationskonsole erklären und so schwebte Jim alleine zum Kopplungsadapter. Ein grünes Licht an der kleinen Konsole deutete darauf hin, dass auf der anderen Seite stabiler Luftdruck herrschte. Offensichtlich hatte jemand das Schott auf der Stationsseite bereits geöffnet. Mit einem Ruck riss Jim den Hebel der Lukenverriegelung nach unten und öffnete die Luke auf seiner Seite.
Auf der anderen Seite grinste ihn ein bekanntes Gesicht an.
»Dad!« Jim stieß sich ab und schwebte seinem Vater mit offenen Armen entgegen. Als sie sich mitten in der Luft berührten, umarmten sie sich stürmisch. »Wie schön, dich hier zu sehen.«
Sein Vater legte seine Hand auf Jims Schulter mit den Rangabzeichen. »Allerdings, Captain Harris! Glückwunsch zum ersten eigenen Kommando.«
Jim grinste. »Danke. Unter normalen Umständen hätte es wohl noch einige Jahre gedauert, bis man mir ein eigenes Raumschiff anvertraut hätte. Wahrscheinlich nehmen sie es mir heute wieder weg.«
Russell zuckte mit den Schultern. »Abwarten. Für die ganzen Schiffe, die jetzt nach und nach aus der Transporterfabrik eintreffen, fehlen Offiziere. Es würde mich nicht wundern, wenn dir das Schiff noch eine Weile erhalten bleibt.«
Jim wurde schlagartig ernst. »Also geht es nächste Woche gegen die außerirdischen Schiffe. Du hast sie gesehen, nicht wahr? Auf Minos, meine ich. Meinst du, wir haben eine Chance?«
Russell lächelte schwach. »Niemand kann das sagen. Die Militärs haben zwar einige neue Waffen entwickelt, die auf den ersten Blick recht eindrucksvoll aussehen, aber ob die gegen die riesigen Schiffe der Fremden wirksam sind, kann im Moment niemand sagen.«
Jim nickte. »Es besteht also eine reale Chance, dass alle Schiffe bei dem Einsatz abgeschossen werden.«
»Wenn das so ist, dann bedeutet es auch für die Erde das Ende. Wir müssen es wagen.«
Keine sehr vielversprechenden Aussichten.
Sein Vater zögerte. »Wenn dir bei dem Gedanken unwohl ist, besteht auch die Möglichkeit, nach New California zurückzukehren.«
Jim schüttelte den Kopf, ohne nachzudenken. »Nein, das mache ich nicht. Ich habe mich im Austausch für ein neues Bein bei der Space Force verpflichtet. Ich würde mich zum Deserteur machen.«
Russell nickte. »Sicher, Jim, sicher. Ich meinte ja nur, dass Mom und ich dich unterstützen würden, falls du diese Möglichkeit in ...«
Zorn stieg in Jim auf und er schnitt seinem Vater mit einer Handbewegung den Satz ab. Meinte Dad, der nie vor einem Kampfeinsatz zurückgeschreckt war, er sei ein Feigling? »Darüber brauchen wir gar nicht zu diskutieren. Ich will nichts mehr davon hören. Kümmere dich nur bitte darum, dass Cathy und Dave in Sicherheit gebracht werden.«
»Deine Mutter kümmert sich in diesem Moment darum. Keine Sorge.«
»Grace?«
»Sie hat bereits angekündigt, dass sie San Francisco nicht verlassen wird.«
Jim nickte. »Sieht ihr ähnlich.«
Russell lächelte gequält. »Wie der Bruder, so die Schwester.«
»Werden denn viele Menschen nach New California evakuiert?«
Russell verneinte. »Über die Verbindung mit der Mondfähre können zu wenige Menschen transportiert werden. Im Moment ist ein Baby-Transporter mit der Constitution
hierher unterwegs, aber bis der auf der Erde einsatzbereit ist, dauert es noch.«
»Wenn der Transporter dann im Modus einer Dauerverbindung läuft, könnten tausende Flüchtlinge übersetzen.«
Russell hob entschuldigend die Hände. »Ich weiß das, bin über die genauen Pläne allerdings nicht informiert. Das liegt in der Hand des Präsidenten.«
Sein Vater hatte schon recht. Natürlich konnte Russell nicht überall gleichzeitig sein. Es war auch Sache der Erde, sich zu verteidigen und Maßnahmen für eine Evakuierung zu treffen. »Was wirst du tun, wenn die Fremden eintreffen? Nach New California gehen?«
Russell lachte leise auf. »Nein. Es gibt ein ganz bestimmtes Problem, um das wir uns noch kümmern müssen.«
Jim runzelte die Stirn. »Und welches?«
»Die Basis der Außerirdischen. Selbst wenn wir mit der Verteidigung des Sonnensystems Erfolg haben, bleibt sie weiterhin eine Bedrohung. Es gibt dort deutlich mehr als die fünf Schiffe, die hierher unterwegs sind.«
Jim nickte. Damit hatte er bereits gerechnet. »Ich verstehe. Was wirst du dagegen tun?«
Russell zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Wir haben uns in den letzten Tagen den Kopf zerbrochen. Ohne Ergebnis. Selbst den Eierköpfen in den Denkfabriken ist nichts Sinnvolles eingefallen. Allerdings hat Mitchell mir eben eine Nachricht geschickt. Er hat wohl eine Idee.«
Jim kannte Mitchell gut. Er hatte sich mit dem nur wenige Jahre älteren Schnittstelleningenieur schon vor langer Zeit angefreundet, als der von der Venus nach New California gelangt war. »Mitchell? Ist er auch hier auf der Station?«
Russell schüttelte den Kopf. »Nein, er ist auf der Erde geblieben, um sich mit einigen Wissenschaftlern der RAND Corporation zu treffen. Er ist aber nun mit einer Fähre auf dem Weg hier hoch und müsste jeden Augenblick eintreffen, um seine Idee vorzustellen. Willst du mit?«
»Na klar!«