Kapitel 25
Jim sah seinen Vater stumm an, während der über Funk mit Elise auf der Erde sprach. Immer wieder fuhr Dad sich über die grauen Haare. Die Augen blinzelten müde über dunklen Ringen. Trotz der immer noch großen Energie waren ihm seine fast siebzig Lebensjahre deutlich anzusehen. Immerhin versteckten die Falten im Gesicht die eine oder andere Narbe.
Endlich beendete sein Vater das Gespräch und wandte sich Jim zu. »Sie ist schon auf dem Weg zum Raumhafen. Sie hat Cathy und Dave bei sich und zusammen werde ich mit ihnen morgen zum Mond fliegen.«
Jim nickte. Er hätte alles gegeben, sie vor seiner Abreise noch einmal in den Arm zu nehmen. Und doch es beruhigte ihn, dass seine Frau und sein Sohn auf dem Weg nach New California waren. Wenn es im Sonnensystem in einigen Tagen knallte, wären sie in Sicherheit. Doch waren sie das auf New California wirklich?
»Alles in Ordnung?«, fragte sein Dad.
Jim nickte. »Ja, klar. Ich dachte nur darüber nach, ob die Fremden vielleicht auch irgendwann New California angreifen. Wir haben keine Satelliten im Orbit. Keine Teleskope. Nichts. Wir wissen nicht mal, wie viele Planeten das System unserer Heimatwelt hat. Wenn die Invasoren eines Tages in der Nähe von New California auftauchen, würden wir es gar nicht mitkriegen.«
Sein Vater hob beschwichtigend die Hände. »Die Basis der Außerirdischen ist Tausende Lichtjahre von New California entfernt. Auch die zerstörten Zivilisationen befanden sich alle in der Nähe des Sonnensystems. Außerdem wurden die Fremden durch Funksignale auf die Erde und die anderen Welten aufmerksam, und New California hat keine Sender, die die Atmosphäre durchdringen können. Ich denke, dass unsere Heimat in Sicherheit ist.«
Jim war dennoch beunruhigt. »Wir wissen immer noch nichts über die Verantwortlichen. Weder, warum deren Roboter alle Zivilisationen angreifen, noch, was aus ihnen geworden ist.«
Russell nickte. »Du hast völlig recht, aber es gibt im Moment keine Möglichkeit, diese Fragen zu beantworten. Wir müssen erst mal die Erde schützen. Wenn uns das gelingen sollte, können wir weiter auf Spurensuche gehen. Irgendwo muss es eine Welt geben, von der die Angreifer stammen. Irgendwann werden wir sie finden. Doch bis dahin sollten wir uns erst einmal auf den Kampf konzentrieren, der vor uns liegt.«
Dad hatte recht. Sie mussten die Probleme nacheinander lösen. Manchmal sehnte sich Jim zurück in die Isolation New Californias, wo er eine unbeschwerte Kindheit hatte verbringen können. Sicher, Jason oder Sergej würden das Leben auf der unfreiwilligen Kolonie als entbehrungsreich und anstrengend bezeichnen, aber er hatte eine tolle Familie und viele Freunde gehabt, mit denen er draußen gespielt und gearbeitet hatte. Nein, er konnte nicht sagen, dass er seine Kindheit bedauerte. Er hatte auch nie verstanden, warum so viele der auf New California gestrandeten Erwachsenen sich so dermaßen zurück zur Erde sehnten.
Dieses Sehnen nach der Erde hatte den Ursprungsplaneten für seine Generation zu einem mythischen Ort verklärt. Als Jim dann das erste Mal vor einem Jahr die Erde betreten hatte, war er ziemlich enttäuscht gewesen. Klar, die großen Städte waren beeindruckend und viele Menschen waren freundlich zu ihm gewesen, aber es gab auch so viel Elend. Und vor allem gab es in den Städten viel zu viele Menschen. Nein, er würde die Erde niemals als Heimat betrachten. Und wenn er seinen Dienst in der amerikanischen Space Force mit Würde beendet hatte, würde er nach Hause zurückkehren. Nach New California.
Vorausgesetzt natürlich, sie überlebten den Krieg gegen die Aggressoren.
»Träumst du?«, fragte sein Vater.
Jim lächelte. »Ich musste nur gerade an Zuhause denken. An Eridu. Ich hoffe, wir sehen uns dort alle wieder.«
Dad lächelte ihm zu. »Aber sicher doch. Wir haben schon so viele Krisen überstanden, wir werden auch diese hier überstehen.«
Jim nickte und blickte auf seine Armbanduhr. »Ich muss jetzt los, wenn ich den Zeitplan halten soll. Bringst du mich noch zum Kopplungsknoten?«
Dad nickte. Jim stieß sich ab und schwebte durch die Luke in die Messe, wo einige Soldaten in Uniform und zivile Wissenschaftler und Techniker an den Tischen saßen und sich unterhielten, aßen, tranken oder aus den runden Fenstern auf die Erde hinabsahen. Dafür, dass in wenigen Tagen mit einem vernichtenden Angriff auf die Erde gerechnet wurde, war es an Bord der Raumstation erstaunlich ruhig.
Sie durchquerten noch einige andere Module, dann erreichten sie den Kopplungsknoten, an den die Billings angedockt war. Jims Crew war wohl schon an Bord, denn es stand nur noch seine Reisetasche vor der Luke. Jim bremste sich an einem Handgriff ab und wartete, bis sein Vater neben ihm hing.
»Zeit, wieder Abschied zu nehmen«, sagte Dad.
Jim lächelte. »Ich finde es schön, dass wir uns sehen konnten. Bitte umarme Mom von mir und gib Cathy einen dicken Kuss.«
Dad lachte. »Das wirst du schön selber machen.« Er stieß sich ab, schwebte auf ihn zu und umarmte ihm fest.
»Pass auf dich auf, Dad!«
»Und du auf dich. Geh keine unnötigen Risiken ein, hörst du?«
Jim nickte und sie lösten sich wieder voneinander. Er nahm die grüne Tasche mit seinen Habseligkeiten und schwebte durch die Öffnung in die Billings . Er winkte seinem Vater ein letztes Mal zu und schloss die Luke.
»Jason? Sergej? Alle an Bord?«, rief er.
»Alle an Bord«, antwortete der Russe aus dem Habitat.
»Komm nach vorne«, sagte Jim. »Wir legen gleich ab.«
Als Jim das Cockpit erreichte, war Jason an einem der hinteren Sitze mit der Programmierung der Bordcomputer beschäftigt.
Jim schnallte sich in seinen Pilotensitz und dann kam auch Sergej und setzte sich neben Jason.
»Schiff bereit zum Abdocken«, verkündete Jason schließlich.
Jim drehte sich zu ihm herum. »Haben wir alles an Bord?«
Der Physiker nickte. »Wir haben den Babytransporter zusammen mit der nötigen Ausrüstung, um ihn zum Wachsen zu bringen.«
Jim nickte. »Prima. Du kannst damit anfangen, sobald wir abgedockt haben.«
Jason schüttelte den Kopf. »Nein, damit werden wir erst nach der Manöverzündung beginnen, wenn wir bereits Kurs auf die Sonne genommen haben.«
Jim hob die Augenbrauen. »Warum erst dann?«
»Weil während des Wachstums die Masse des Transporters zunimmt. Wenn wir erst hinterher Kurs auf die Sonne nehmen, würden wir mehr Treibstoff für die Zündung verbrauchen.«
Das ergab Sinn. »In Ordnung. Dann gehen wir direkt aus dem Erdorbit auf Sonnenkurs. Was macht unsere Bewaffnung, wenn wir später mit den Invasoren zusammentreffen?«
»Der Lademeister der Raumstation hat die Waffen an Bord gebracht, ich habe den Empfang quittiert. Wir haben nun an den äußeren Aufhängungspunkten zehn nukleare Röntgenlaser und weitere fünf herkömmliche Raketen mit Wasserstoffbomben. Wirkmasse ist jeweils eine Megatonne.«
Jim seufzte. Zehn Laser und fünf Raketen. Sonderlich viel war das nicht gerade, wenn man bedachte, auf was für einen Feind sie stoßen würden. Nun denn. Dann musste es eben reichen. Ihre wichtigste Mission war sowieso erst einmal das Absetzen des Transporters in die Sonne. »Haben wir Freigabe zum Abdocken?«
»Ja, ist gerade gekommen«, antwortete Sergej.
Jim seufzte erneut und widmete sich wieder den Kontrollen. »Abdocken!«
Kurz darauf ging ein metallisches Dröhnen durch das Schiff, als die Klammern des Dockingmechanismus gelöst wurden und mächtige Federn die Billings von der Station wegdrückten. Mit einem leichten Druck auf den Steuerknüppel ließ Jim die Lageregelungstriebwerke feuern, um sie schneller in den freien Raum zu bringen.
Plötzlich dröhnten die Lautsprecher und eine Rückkopplung quietschte schmerzhaft in Jims Ohr. Mit einem schnellen Griff regelte er die Lautstärke herunter.
»Hier spricht General Kelly. An meiner Seite sind Major Berry und Russell Harris. Wir beobachten Ihren Abflug soeben aus dem Kommandomodul. Ihre Mission ist eine der wichtigsten im Kampf gegen die Invasoren. Halten Sie sich das immer vor Augen, wenn Sie Entscheidungen zu treffen haben. Ich bin überzeugt davon, dass Sie Ihren Einsatz erfolgreich abschließen. Das Schicksal der Erde liegt mit in Ihren Händen. Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute und viel Glück. Kelly, Ende.«
Ein kurzes Rauschen kündete davon, dass der General die Verbindung unterbrochen hatte, ohne eine Antwort abzuwarten. Während Jim auf dem Bildschirm die Raumstation schnell zurückfallen sah, wurde ihm klar, dass sie nun auf sich allein gestellt waren. Er freute sich darüber, sein eigenes Schiff zu haben und dass ihm eine wichtige Mission anvertraut worden war. Aber bei dem Gedanken daran, nun die Verantwortung für das Überleben der Menschheit zu tragen, wurde ihm speiübel.
Wenn sie beim Abwurf des Transporters über der Sonne einen Fehler machten, dann gab es keinen zweiten Versuch mehr.
Er durfte nicht daran denken. Sie mussten einfach ihr Bestes geben. »Wie weit sind wir mit dem Orbitalmanöver?«
Jason streckte ihm einen erhobenen Daumen entgegen. »Sieht gut aus. Ich habe die Daten der Zündung in den Computer gegeben. Wir können jederzeit loslegen.«
Jim nickte und wandte sich an den Steuermann. »Dann legen wir mal los. Auf geht’s!«
Jason blickte ihn kurz an, widmete sich aber gleich wieder seiner Konsole. »Soll ich das Schiff auf Position bringen, oder willst du das machen?«
Jim beugte sich nach vorne und schaltete die Kontrolle wieder auf Jasons Pult. Der Physiker musste das Manövrieren des Schiffes schließlich auch lernen. »Mach du das!«
Wenige Augenblicke drehte sich die Erde vor den Fenstern nach links weg. Als das Schiff wieder zum Stillstand kam, waren voraus nur noch Sterne zu sehen. Die Sonne musste irgendwo über ihnen sein.
»Schiff ausgerichtet«, sagte Jason. »Bereit zur Zündung.«
Jim lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Dann los!«
Dann wurde Jim tief in den Sitz gedrückt. Das Raumschiff war nun deutlich leichter als auf dem Flug zur Erde, obwohl die Ingenieure der Station es mit zusätzlichen, abwerfbaren Treibstofftanks ausgerüstet hatten, und entwickelte darum erheblich mehr Beschleunigung.
Auf dem Navigationsbildschirm senkte sich eine weiße Linie ganz allmählich zu einem kleinen, gelben Kreis hinab. Jim ächzte. Orbitalmechanik! Er würde sich nie daran gewöhnen, dass man im Sonnensystem in eine ganz andere Richtung zielen musste, um zum Bestimmungsort zu gelangen.
Eine unscheinbare Anzeige auf dem Bildschirm dokumentierte die verbleibende Zeit der Zündung. Die Triebwerke würden noch fast eine halbe Stunde brennen. Dann würden sie die Umlaufbahngeschwindigkeit der Erde im Sonnensystem abgebaut haben und nach unten fallen. Geradewegs auf die Sonne zu.