Kapitel 3

Carter

»Brauchen wir Marmelade?«, hörte er seine ältere Tochter Samantha rufen, die vor dem langen Regal mit den Brotaufstrichen stand.

»Nein, wir haben noch genug«, antwortete Carter. »Die Marshmallowcreme ist aber alle, und du weißt, dass deine Schwester keinen Tag ohne auskommt.« Er grinste Astor, seine jüngere, erst neunjährige Tochter an, die ihren Welpenblick aufsetzte.

»Oh ja, bitte. Ohne Marshmallowcreme bin ich verloren.«

Samantha schmunzelte, nahm gleich zwei große Gläser und stellte sie in den Einkaufswagen. Dann zwinkerte sie ihrer kleinen Schwester zu. »Ich glaube, das sollte ein bis zwei Tage halten.«

»Haha«, machte Astor und lief zum Regal mit der Mayonnaise rüber. Carter sah ihr hinterher und merkte wieder, dass sie ihrer Mutter von Tag zu Tag ähnlicher sah. Samantha aber war ein Abbild von ihr. Wenn sie ein paar Meter entfernt stand und sich das blonde Haar gedankenverloren um den Finger wickelte, konnte man fast denken, Jodie stehe vor einem.

Er schüttelte diese Feststellung ab und lächelte seine Mädchen an. »Also? Was wollen wir uns heute zum Abendessen machen? Und bevor du etwas vorschlägst, Astor: Marshmallowcremesandwiches sind keine Option.«

»Okay, dann Pizza«, entgegnete die Kleine.

»Ist das okay für dich?«, fragte er Sam, und sie nickte.

»Klar, von mir aus. Was brauchen wir dafür?«

»Ich will Pilze drauf«, rief Astor. »Und Mais! Und Tomaten!«

»Und ich natürlich Peperoni«, sagte Carter.

»Ich bin mit allem einverstanden«, meinte Samantha, die der gefügigste Mensch war, den er kannte. Sie wollte es immer allen recht machen, dachte an alle anderen, bevor sie an sich selbst dachte. Sie ging für ein paar ältere Damen in der Nachbarschaft einkaufen, las Kindern im Krankenhaus Geschichten vor und half bei mehreren wohltätigen Projekten. Dazu lernte sie noch in jeder freien Minute für die Schule, trainierte fürs Cheerleading und passte auf Astor auf, wann immer er sie darum bat. Samantha war die perfekte Tochter. Manchmal machte er sich fast Sorgen um sie, weil sie so wenig Zeit für sich selbst zu haben schien. Doch das war es, was sie wollte, sie hatte es ihm bereits mehrmals gesagt, und er würde sie nicht aufhalten, Gutes zu tun.

Sie sammelten alle Zutaten für die Pizza zusammen, Astor griff auf dem Weg zur Kasse noch nach einer Packung Cap’n Crunch – ihre Lieblingsfrühstücksflocken –, und sie bezahlten ihre Einkäufe, die sie kurz darauf ins Auto luden. Carter setzte sich ans Steuer, drehte das Radio an, und sie sangen alle zusammen zu einem alten Bryan-Adams-Song mit, den er zu Hause schon so oft gehört hatte, dass sogar seine Töchter ihn auswendig kannten. Er mochte Musik, sie war immer Bestandteil seines Lebens gewesen. Früher einmal war er Gitarrist in einer Band gewesen, doch das war so lange her, dass er sich kaum noch daran erinnern konnte. So viele andere Dinge hatten dieses Kapitel seines Lebens beiseitegedrängt, sodass es nur noch ein ferner Punkt am Horizont war.

Zu Hause angekommen, bat Samantha, gleich in ihr Zimmer gehen zu dürfen, da sie noch jede Menge Hausaufgaben zu erledigen hatte und auch noch Flöte üben musste.

»Na sicher, geh nur. Astor und ich kümmern uns um die Einkäufe und das Essen. Wir rufen dich, wenn die Pizza fertig ist, ja?«

»Ich glaube, das ist nicht nötig. Die werde ich bestimmt bis in mein Zimmer riechen.« Sam lächelte ihn an, und ihr Lächeln war das Lächeln ihrer Mutter. Auch nach drei Jahren schmerzte es ihn noch so sehr, dass er schlucken musste. Doch er lächelte zurück, würde es nicht zeigen, würde vor seinen Töchtern nicht schlappmachen, wie er es ein ganzes Jahr nach Jodies Tod getan hatte. Ein viel zu langes Jahr. Aber das würde er Sam und Astor nie wieder antun, das hatte er sich geschworen. Das Leben ging weiter, er hatte diese beiden Kinder, die ihn brauchten, für die er funktionieren musste, und das würde er, manchmal besser, manchmal schlechter. Doch er würde immer für sie da sein. Der beste Vater sein, der er sein konnte, die Rolle beider Elternteile einnehmen, weil einer davon es nicht geschafft hatte, einfach nur das zu sein, was man von ihm erwartet hatte. Weil dieser Mensch mehr gewollt hatte, nicht zufrieden sein konnte mit dem, was er hatte. Doch auch diese Gedanken schob er schnell beiseite. Das war Vergangenheit. Was vor ihnen lag, war die Zukunft, und die würde er für seine beiden Mädchen so schön gestalten, wie er nur konnte.

»Wie wäre es mit selbst gemachtem Eis zum Nachtisch?«, rief er Sam nach, die schon auf dem Weg in ihr Zimmer war.

Sie hatte ihr Smartphone in der Hand und tippte eifrig etwas hinein. Wahrscheinlich schrieb sie mit Jeremy, mit dem sie seit zwei Jahren fest zusammen war. »Gerne«, antwortete sie.

»Himbeere oder Zitrone?«

»Lass Astor entscheiden«, rief sie zurück und war in ihrem Reich verschwunden, einem sechzehn Quadratmeter großen Zimmer, das vor Rosa und Glitzer nur so strotzte. Erst letzte Woche hatte sie sich zwei neue Kissenbezüge für ihr kleines Sofa genäht, die sie mit rosa Strasssteinen verziert hatte. Astor war neidisch ohne Ende gewesen, und Sam hatte ihr versprochen, ihr zum Geburtstag auch welche zu machen, in Gelb, ihrer Lieblingsfarbe.

»Okay, Astor, da deine Schwester so nett ist, dich entscheiden zu lassen, was hättest du denn ger…«

»Zitrone!«, rief Astor sofort. »Die sind gelb«, ließ sie ihn wissen, als hätte er keine Ahnung.

Er musste lachen. »Recht herzlichen Dank, dass du mich aufklärst, Prinzessin.«

»Ach komm schon, Dad, Sam ist hier die Prinzessin. Ich bin einfach nur … ein Frosch.«

»Ein Frosch?« Belustigt sah er sie an.

»Ja, genau. Aber eines Tages küsst mich ein Prinz, und ich werde mindestens genauso umwerfend wie Sam.«

»Oh, daran habe ich absolut keinen Zweifel«, erwiderte er und meinte es so.

»Du bist der Beste, Dad«, sagte Astor und sah ihn mit ihren himmelblauen Augen an, was ihn dahinschmelzen ließ.

»Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab?«, fragte er und zerstrubbelte ihre Kurzhaarfrisur, die sie sich vor einigen Wochen selbst ausgesucht hatte, mit den Fingern.

Astor flüchtete vor ihm und kicherte. »Lass das, Dad!« Sie griff nach ihren Frühstücksflocken und stellte sie ins Regal. Dann holte sie die Eismaschine hervor, stellte sie vor ihm ab und sagte: »Hab dich auch lieb. Wenn du mir Zitroneneis machst, sogar noch mehr.«

Er schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Na, dann wollen wir mal. Reich mir die Zitronen, kleiner Frosch.«

Astor warf ihm lachend zwei der gelben Früchte zu, und er war einfach nur froh, dass die schlimme Tragödie nicht bewirkt hatte, dass sie das Lachen verlernte.

Er nahm sich noch eine dritte Zitrone, jonglierte ein wenig mit ihnen und stellte dann den CD -Player an.

Astor fing gleich wieder an mitzusingen. Und während U2 I Still Haven’t Found What I’m Looking For schmetterten, sorgte er dafür, dass seine Tochter ihr geliebtes Zitroneneis bekam. Denn das war wirklich das Mindeste, was er für sie tun konnte.