Kapitel 4
Samantha
Sie betrachtete sich im Spiegel. Die Skinny Jeans und das geblümte Oberteil standen ihr gut, es zeichnete sich jedoch ein kleiner Bauch ab, was wohl davon kam, dass sie gestern mit der Pizza und dem Eis ein wenig über die Stränge geschlagen hatte. Sie seufzte. Dann würde sie wohl heute besonders darauf achten müssen, den Bauch einzuziehen, denn Jeremy mochte es gar nicht, wenn sie zu viel aß, und auf die fragenden Blicke der anderen Cheerleaderinnen konnte sie auch gut verzichten.
Als es draußen hupte, griff Sam sich ihre Jeansjacke und den Rucksack, drückte ihrer kleinen Schwester einen Kuss auf die Stirn und rief ihrem Vater ein »Hab einen schönen Tag, Dad!« zu.
»Den wünsch ich dir auch. Denkst du dran, dass heute Donnerstag ist?«, rief er aus der Küche zurück, wo er sich noch schnell um den Abwasch kümmerte, bevor er Astor zur Schule fahren musste. Danach würde er zurück nach Hause kommen, wo er in der Garage und dem neuen kleinen Anbau daneben seine Werkstatt hatte.
»Natürlich!«, erwiderte sie, und schon war sie raus aus dem Haus, in dem sie geboren worden war und in dem sie solch eine schöne Kindheit erlebt hatte. Ihre jungen Jahre waren ganz anders gewesen als die ihrer Schwester, das war ihr bewusst, und sie empfand unheimliches Mitleid mit Astor, die bereits mit sechs Jahren ihre Mutter verloren hatte. Mitten im ersten Schuljahr, wie sehr einen das prägen musste. Und genau deshalb tat sie ihr Bestes, um den Verlust irgendwie auszugleichen, und gab als Schwester alles und noch ein bisschen mehr, damit Astor, ihr absoluter Lieblingsmensch, nichts entbehren musste.
Sie wusste, dass ihr Dad genauso auf ihre Hilfe angewiesen war und wollte ihn keinesfalls enttäuschen. Er hatte es schwer genug gehabt. Das hatten sie alle.
»Hey, Honey«, sagte Jeremy, als sie neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Er fuhr einen BMW , ein Cabrio, das sein Dad ihm zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Es war ein wenig protzig, aber das war Jeremy ja auch, auf eine gute Art selbstverständlich. Denn Jeremy war nicht nur einer der Star-Lacrosse-Spieler der Montgomery Lions, sondern auch einer der bestaussehenden Jungen an der Schule. Welches Glück für Sam, dass er sich ausgerechnet sie als Freundin ausgesucht hatte. Aber sie passten halt auch zusammen wie Donuts und Streusel. Und die zwei Jahre, die sie inzwischen miteinander gingen, hatten bewiesen, dass sie total auf einer Wellenlänge waren. Die Tatsache, dass sie beide planten, nach ihrem Highschoolabschluss in Berkeley zu studieren, machte die Sache perfekt.
Sie schenkte ihrem Freund ein breites Lächeln und fragte: »Bist du schon aufgeregt wegen des großen Spiels am Samstag?«
Sie wusste, dass Jeremy nichts lieber tat, als über Lacrosse zu reden, weshalb sie ihm hin und wieder diesen Gefallen tat. Dass am Wochenende ein bedeutendes Match gegen den Zweitplatzierten der kalifornischen Highschool League anstand, gab ihr die beste Gelegenheit dazu.
»Klar, und wie!«, sagte er und fuhr mit quietschenden Reifen los. Sie hoffte nur, dass ihr Dad das nicht mitbekommen hatte, ihm gegenüber erwähnte sie nämlich regelmäßig, wie verantwortungsbewusst Jeremy war. Auch wenn das nur teilweise stimmte. »Wenn wir die Dragons schlagen, sind wir Zweitplatzierter und können es bis zum Schuljahresende bis ganz an die Spitze schaffen.«
»Und das werdet ihr, da bin ich mir ganz sicher«, sagte sie, da alles andere inakzeptabel wäre.
Während der Fahrt redeten sie wie meistens über ziemlich belanglose Dinge. Jeremy erzählte vom Lacrosse – irgendwas von Offense und Defense – und davon, den neuesten Fast&Furious -Film im Kino sehen zu wollen, sie selbst berichtete von einem wohltätigen Projekt, an dem sie sich beteiligen wollte. Es ging dabei darum, einen Spielplatz in einer sozial schwachen Gegend zu restaurieren. Das Ganze sollte in den Sommerferien stattfinden, sie würde mit der Charity-Gruppe für eine Woche nach Santa Cruz fahren und dort in einem gemieteten Ferienhaus wohnen, das vom anstehenden Kuchenbasar finanziert werden sollte.
»Das wird sicher gut auf deiner Bewerbung für Berkeley aussehen«, sagte er, weil er dachte, dass sie sich nur deshalb so engagierte. Aber das war nicht der einzige Grund. Sie mochte es, etwas für andere zu tun, für Menschen, die es nicht so gut hatten wie sie.
An der Schule angekommen gab Jeremy ihr einen Kuss und schlenderte lässig zu seinen Freunden rüber, während Samantha sich zu Cassidy, Tammy und Holly gesellte. Ihr war natürlich bewusst, dass ihre Namen sich allesamt anhörten, als könnten sie Mitglieder einer Girlband sein. Doch irgendwie mochte sie diese Tatsache, sie mochte es, dass das Klischee voll auf sie zutraf. Sie alle vier waren im Cheerleading-Team. Im Herbst feuerten sie die Footballmannschaft an, im Winter die Basketballer und im Frühjahr die Lacrosse-Spieler, je nach Saison. Sam liebte ihre Rolle als Co-Captain, sie mochte ihre Clique, die ausschließlich aus hübschen schlanken Mädchen und Sportlern bestand, und manchmal stellte sie sich vor, ihr Leben wäre einer dieser Highschoolfilme, die einen zum Lachen brachten und in denen die Welt vollkommen in Ordnung war. Dann konnte sie sich einreden, dass ihre eigene Welt es auch war, und sie konnte ein Lächeln aufsetzen, obwohl ihr nicht immer danach war.
Lächeln, immer lächeln, ja, das konnte sie am besten.
In der Mittagspause saß ihre Clique wie immer zusammen an einem Tisch in der Cafeteria. Wie in jeder Schule in wohl jedem einzelnen Highschoolfilm gab es auch an der Montgomery High dieses typische Gruppendenken. Es gab ein paar Tische, an denen die coolen Kids saßen, dann welche, die die Wissenschaftler und die Nerds unter Beschlag genommen hatten. Es gab einen Tisch für die Punks, einen für die Rocker, einen für die Gothics, einen für die Emos, einen für die Blaskapelle, einen für die Öko-Freaks, einen für die Einhornfraktion und dann natürlich noch einen für die Zombies. Um die meisten dieser Gruppen machte jeder einen großen Bogen, vor allem die coolen Kids, zu denen die Cheerleader, die Sportler und die Reporter gehörten. Das war wohl eine der wenigen Ausnahmen an ihrer Schule: Die Leute, die für die Gomery News schrieben, waren hip. Wahrscheinlich lag es daran, dass das Team der Schülerzeitung nicht in Flickensakkos und mit Hornbrillen herumlief, sondern dass es aus wirklich angesagten Jungen und Mädchen bestand wie zum Beispiel Eleanor Harbor oder Sookie Collins, die beide ehemalige Cheerleaderinnen waren. Eleanor hatte wegen eines Knieleidens aufhören müssen, Sookie, weil sie fünf Kilo zugenommen und sich geweigert hatte, wieder abzunehmen, um der Norm zu entsprechen. Die beiden waren die Topreporterinnen der Gomery und hatten es drauf, jederzeit die heißesten Neuigkeiten aufzudecken und darüber zu berichten. Als Samantha nun zu den beiden hinüberblickte, die eifrig über irgendetwas diskutierten und sich dabei Notizen machten, hoffte sie nur, dass sie nicht irgendwann ihre Vergangenheit ausgraben und sie zur Schlagzeile der wöchentlichen Gomery -Ausgabe machen würden.
Sie erschrak, als sich plötzlich jemand auf den leeren Stuhl neben sie schmiss, musste aber lächeln, als sie erkannte, dass es Jeremy war.
»Richie, Joaquin und ich haben gerade beschlossen, heute Abend ins Kino zu gehen«, informierte er sie. »Bist du dabei?«
»Es ist Donnerstag, Jeremy. Da kann ich abends nicht, das weißt du doch«, sagte sie so leise wie möglich und hoffte nur, dass ihre Freundinnen nicht mithörten. Ein Blick zu ihnen sagte ihr aber, dass sie noch immer mit Tammys neuer Nagellackfarbe – »Billiges Flittchen« – beschäftigt waren. Cassidy und Holly betrachteten Tammys Nägel nun be stimmt schon seit fünf Minuten.
Jeremy ließ ein leises Stöhnen aus. »Kannst du nicht mal eine Ausnahme machen?«
»Das geht nicht, Jeremy, tut mir leid. Aber du könntest doch ein anderes Mal ins Kino gehen und stattdessen heute Abend zu mir kommen. Wir könnten zusammen lernen oder einen Film auf Netflix gucken.«
»Nee, eher nicht. Ich hab Bock auf Kino.«
»Hab ich da gerade Kino gehört?« Cassidy blickte neugierig auf.
Jeremy sah Cassidy direkt in die Augen. »Ja. Die Jungs und ich wollen uns den neuen Fast&Furious ansehen. Interesse mitzukommen?«
»Und ob! Heute Abend hab ich noch nichts vor.«
Falls Cassidy ihren stirnrunzelnden Blick sah, ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken.
»Wann und wo?«
Jeremy nannte Cassidy die Uhrzeit und den Treffpunkt, und Holly lud sich selbst ebenfalls zu dem Treffen ein. Nur Tammy sah Samantha verwirrt an.
»Warum gehst du nicht mit?«, fragte sie sie über den Tisch hinweg.
»Ich hab meinem Dad versprochen, auf meine kleine Schwester aufzupassen. Er hat etwas Wichtiges vor«, antwortete sie, schielte dabei zu Jeremy und hoffte nur, dass er keine Details ausplaudern würde. Tammy war zwar ihre Freundin, aber genau wie Cassidy und Holly wusste sie nichts von den wöchentlichen Gruppentherapietreffen ihres Dads – und das sollte so bleiben.
Doch Jeremy lächelte sie nur an, als hätte er sie gerade nicht vor den Kopf gestoßen, und sagte: »Dann ein anderes Mal, Schatz, ja?«
Sie nickte und ließ sich von ihm einen Kuss geben in der Sekunde, in der die Schulglocke läutete.
Sie blieb noch einen Augenblick sitzen, trank den letzten Schluck ihres Mineralwassers aus und nahm wahr, wie jedes Mädchen im Umkreis von zehn Metern Jeremy hinterherblickte. Kein Wunder, sein dunkelblondes Haar saß mal wieder perfekt, unter seiner Jeans zeichnete sich ein süßer kleiner Knackarsch ab, und als er sich nun noch einmal zu ihr umdrehte, zeigte er ihr sein schönstes Lächeln. Dieses Lächeln gehörte allein ihr. Und sie wusste wieder, wie glücklich sie sich schätzen konnte.