Kapitel 7

Jane

Freitagvormittag an der Montgomery High. Sie betrachtete wie jeden Tag das Bild ihres Dads in ihrem Spind, starrte es ein paar Sekunden an, bevor sie ihr Biologiebuch herausnahm und die metallene Tür schloss. Sie drehte sich um und stieß mit einem Typen aus dem Lacrosse-Team zusammen, Jeremy Blunt, den sie nicht ausstehen konnte, da er arroganter nicht hätte sein können. Er war einer von den Beliebten, und so verhielt er sich auch. Als würde ihm die ganze Welt zu Füßen liegen.

»Pass doch auf, du Freak!«, hörte Jane ihn sagen und seine Freunde im Hintergrund lachen. Er sah sie an, als hätte sie die Cholera.

»Halte bloß Abstand von der, sonst steckst du dich noch mit dem Zombievirus an«, sagte einer seiner Kumpels, und alles lachte nur noch lauter. Jetzt blieben auch ein paar der vorbeilaufenden Schüler stehen, um das Spektakel zu beobachten.

Das Zombiemädchen hatte den Star-Attackman infiziert.

»Ach, lasst mich doch in Ruhe, ihr Idioten!«, brachte sie heraus und lief weinend davon. Sie wollte gar nicht heulen, aber die Tränen rannen aus ihren Augen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

Kurz darauf wurde sie am Arm gepackt. Calvin hielt sie auf und sah ihr besorgt ins Gesicht. »Was ist passiert?«, fragte er, doch er brauchte gar nicht auf ihre Antwort zu warten. Ein Blick zu der lachenden Meute sagte ihm alles, was er wissen musste.

»Lass mich los, Cal, ich will hier einfach nur weg«, sagte sie mit gebrochener Stimme.

Er lockerte seinen Griff, und sie machte sich frei. Sie eilte davon, doch als sie Cals Stimme hörte, machte sie Halt und drehte sich noch einmal um. Ihr bester Freund stand nun den Lacrosse-Spielern gegenüber und schrie ihnen in ihre Gesichter: »Macht Spaß, sich über die Schwachen lustig zu machen, hä?«

»Was willst du denn?«, fragte Jeremy und kam ein paar Schritte auf Cal zu. »Willst du dich in meine Angelegenheiten einmischen? Wir können das gerne nach der Schule draußen austragen.«

»Nein, danke, ich schlage mich nicht mit Behinderten.«

»Nennst du mich behindert?«, fragte Jeremy und trat noch einen Schritt näher, sodass ihn und Cal nur noch ein paar Zentimeter trennten.

»Ich weiß nicht, wie ich Hirnamputierte sonst bezeichnen sollte«, meinte Cal abschätzig.

Jeremy starrte ihn jetzt mit bösen, funkelnden Augen an. »Nach Schulschluss auf dem Parkplatz. Und wenn du nicht kommst, werde ich dich finden, du kleine Kakerlake. Und ich werde dich zerquetschen, bis nichts mehr von dir übrig ist.«

Calvin sah ihn mit einem abfälligen Grinsen an, drehte sich um und machte ’nen Abgang.

»Was hast du dir da nur eingebrockt, Cal?«, fragte Jane, als er sie erreicht hatte und sie nebeneinander den Gang entlangliefen. Ihre Beine zitterten wie Espenlaub.

»Ach, vor Jeremy hab ich keine Angst. Der tut nur so obercool, das hat er schon immer.«

»Kennst du ihn etwa näher?«

Er zuckte mit den Schultern. »Wir waren beste Freunde in der Grundschule.«

Sie konnte Cal nur anstarren. Das hatte sie wirklich nicht gewusst. Sie hatten unterschiedliche Grundschulen besucht, und er hatte es nie auch nur mit einem Wort erwähnt.

»Ich muss hier rein«, sagte er nun, als sie bei der Tür zum Mathekurs ankamen. »Kann ich dich allein lassen?«

»Ja klar. Treffen wir uns zum Lunch?«

»Treffen wir uns jemals nicht?«, fragte er und lächelte sie an, bevor er im Klassenzimmer verschwand.

Schnellen Schrittes und ohne sich umzublicken, huschte sie zum Biokurs und setzte sich in die hinterste Reihe. Ihr Herz pochte noch immer wie verrückt. Eigentlich hätte sie sich langsam an die abschätzigen Blicke und die erniedrigenden Worte der anderen gewöhnen müssen, doch konnte man das jemals? Zumindest tat es noch immer weh, und sie hoffte nur, dass der Tag ganz schnell zu Ende ging.

In der Mittagspause saßen Cal und Aiden bereits am Tisch, als Jane die Cafeteria betrat. Sie sah sie von Weitem, stellte sich schnell an die Essensausgabe, um sich einen Teller Spaghetti mit Tomatensoße zu holen, und ging dann rüber zu den beiden. Cal betrachtete gerade Aidens neues Tattoo, das der stolz präsentierte.

»Wow, das sieht echt cool aus«, sagte sie und meinte es so.

»Danke, danke. Ich finde es auch mega.«

»Wie teuer war das?«, erkundigte sie sich.

»Hundertfünfzig.«

Sie überlegte. Sie hatte noch hundertzwanzig Dollar in der alten Bonbondose, die sie aus dem Disneyland hatte. Ihr Dad hatte ihr die süßen Drops gekauft, als sie vor vier Jahren einen Wochenendausflug dorthin unternommen hatten. Nur sie beide. Das war, als ihre Mom und ihre Grandma zusammen ein Wellnesswochenende in Big Sur machen wollten. Seit die Bonbons aufgelutscht waren, benutzte sie die Dose als Spartopf.

»Und wie lange hat das gedauert?«, wollte sie wissen.

»Gut drei Stunden«, erzählte Aiden.

Sie betrachtete das Dreieck auf seinem Unterarm mit dem Balken in der Mitte und fragte spontan: »Und du kennst jemanden, der einem ein Tattoo macht, ohne dass man einen Ausweis oder eine Bescheinigung der Eltern oder so was vorzeigen muss?«

Aiden lächelte breit. »Ich bin der lebende Beweis.«

Calvin sah sie stirnrunzelnd an. »Was hast du vor, J. P.?«

»Ich will mir auch eins stechen lassen«, sagte sie entschlossen. Sie hatte schon länger darüber nachgedacht, und nach dem, was heute Morgen auf dem Schulflur passiert war, war sie sich sicherer denn je. Sie würde sich ein Tattoo zulegen! Bestimmt würde sie das stärker machen.

»Das ist doch verrückt. Deine Mom wird ausrasten.«

Sie nickte und lächelte. Oh ja, das wäre noch ein netter kleiner Nebeneffekt.

»Du solltest dir das wirklich noch mal gründlich überlegen, J. P.«

»Das hab ich bereits. Aiden? Kannst du mir bitte die Nummer von dem Typen geben?«

Aiden nahm ihr ihr Smartphone ab, tippte etwas hinein und schien sich mächtig zu freuen. Wahrscheinlich, weil sie sich dann so richtig über das Thema austauschen könnten.

Er gab ihr das Handy zurück. »Er heißt Thunder, und er ist wirklich gut. Sag ihm, dass ich dich schicke, dann gibt er dir vielleicht einen Rabatt.«

»Okay. Danke.« Sie strahlte Cal an, der weniger begeistert war, das konnte sie ihm ansehen. Doch es war ihre Entscheidung, es war ihre Haut, in der sie sich schon so lange nicht mehr wohlfühlte. Vielleicht würde ein Tattoo das ja ändern. Und sie wusste schon genau, was sie sich stechen lassen wollte.

Nach der Mittagspause hatte sie keine Lust mehr auf Unterricht. Der Tag war völlig hinüber. Sie würde sich bestimmt sowieso nicht auf den Geschichtsstoff konzentrieren können. Und deshalb nahm sie ihren Rucksack und ihren Zeichenblock und setzte sich damit auf die Tribüne des Lacrosse-Platzes. Dort verbrachte sie die nächsten Stunden, hörte Musik über ihr Smartphone und zeichnete ein paar Entwürfe für ihr Tattoo. Als sie damit fertig und zufrieden war, schlug sie eine neue Seite auf und setzte den Stift an. Sie schrieb öfter mal ihre Gedanken auf in Form von Gedichten, und auch jetzt machte ihre Hand sich selbstständig, ohne dass sie viel überlegen musste.

Warum?

Ich sitze hier und denke an dich

Im Innern weine ich bitterlich

Will es nicht zeigen, meine Gefühle verstecken

Will die Schmerzen nicht wieder aufwecken

Ich sehe dich vor mir, wie du in eine Erdbeere beißt

Und ich will doch nur, dass du eines weißt

Du bist immer in meinem Herzen

Bis abbrennen alle Kerzen

Bis die Welt untergeht

Bis mich irgendwer versteht

Ich fühl mich so allein

Ohne dich will ich nicht sein

Du fehlst mir so sehr

Zu leben fällt mir schwer

Wollen wir nicht wieder zusammen Erdbeeren essen?

Ich werde dich niemals, niemals, niemals vergessen

Eine kleine Träne lief ihr übers Gesicht und fiel auf das Blatt Papier. Sie wischte den Tropfen mit dem Ärmel ihrer schwarzen Kapuzen-Sweatjacke weg. Und dann hörte sie durch ihre Musik hindurch Stimmen. Sie blickte zum Feld und sah die Cheerleaderinnen trainieren. Sie hatte sie gar nicht kommen sehen und wusste nicht, wie lange sie schon da waren, doch sie wusste eines: Sie machten sie krank. Besonders eine von ihnen. Samantha Green, die ebenso wie sie einen Elternteil verloren hatte, und zwar ihre Mutter vor ein paar Jahren.

Wie konnte das Mädchen so fröhlich, so unbeschwert sein? In ihren pinken Outfits mit ihren gelenkigen, superschlanken blonden Freundinnen, die alle geklont zu sein schienen. Wie schaffte Samantha es, sich jeden Morgen aufzuraffen und sich das seidige lange Haar zu kämmen? Wie schaffte sie es weiterzuleben?

Samantha nahm ihren Blick wahr, und sie starrten sich mehrere Sekunden lang an, bevor ein paar der Lacrosse-Spieler auf dem Feld erschienen und Samantha etwas zuriefen. Sie sah plötzlich ganz blass und besorgt aus und lief mit den Jungen davon, ihre Freundinnen im Schlepptau.

Jane runzelte die Stirn, und dann schielte sie auf ihr Handy, kapierte, dass der Unterricht zu Ende war, und erinnerte sich wieder an Jeremys Drohung. Jeremy, der mit Samantha zusammen war, die gerade völlig panisch davongeeilt war.

Sie erhob sich, packte schnell ihre Sachen zusammen und rannte der Truppe der Beliebten hinterher. Zum Parkplatz hinüber, wo sie schon von Weitem sehen konnte, was im Gange war. Wo der arme Cal gerade einen heftigen Faustschlag ins Gesicht einstecken musste.