Kapitel 9

Amanda

Sie stand an der Supermarktkasse und träumte vor sich hin, als sie eine Stimme hörte.

»Hey, Amy, alles okay?«

Sie rüttelte sich wach und sah Sonya, der Supermarktkassiererin, ins Gesicht. Sie kannte sie schon seit Ewigkeiten, denn Sonya war, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, ihre Babysitterin gewesen.

»Alles okay«, antwortete sie.

»Sieht mir aber nicht danach aus. Ich muss gestehen, ich bin ein bisschen besorgt um dich. Du siehst blass aus.«

»Ich bin nur müde. Ich schlafe zurzeit nicht sehr gut.« Und das war noch untertrieben. Sie machte nachts kaum ein Auge zu, so sehr belastete sie ihre finanzielle Situation. Ständig musste sie daran denken, dass sie ihre Erntehelfer bald nicht mehr würde bezahlen können und dass sie vielleicht sogar die Farm aufgeben müsste. Und was würde dann aus ihr werden? Aus ihr und Jane?

»Trink vor dem Zubettgehen einen Becher warme Milch mit Honig, das hilft bei mir immer«, riet Sonya ihr.

Wenn das so einfach wäre …

Sie lächelte Sonya an. »Ich werde es versuchen.«

»Ihr scheint zurzeit aber auf Frühstücksflocken zu stehen, was?«, fragte die Kassiererin lachend.

Amanda sah auf ihren Einkauf hinunter, der über das Fließband fuhr. Sie sammelte die Kingsizepackungen ein und stellte sie in ihre mitgebrachten XXL -Tragetaschen.

»Du weißt doch, Kinder mögen zum Frühstück kaum was anderes.« Das war nur die halbe Wahrheit. Jane aß Frühstücksflocken zwar wirklich gerne, und das nicht nur zum Frühstück, doch das war nicht der Grund dafür, dass Amanda gleich eine ganze Ladung Froot Loops, Apple Jacks und Strawberry Krispies kaufte. Der eigentliche Grund, weshalb sie sich extra auf zum fünfzehn Meilen entfernten Walmart gemacht hatte, war, dass die Frühstücksflocken gerade im Angebot waren und sie sparen musste, wo sie nur konnte.

Sie wünschte Sonya einen schönen Abend, lud die zwanzig Kellogg’s-Packungen in ihren Kofferraum und setzte sich hinters Steuer. Sie atmete aus. So weit war es also schon gekommen, sie mussten hamstern, knausern, jeden Cent zweimal umdrehen. Ihren Eltern durfte sie das gar nicht erst erzählen, die würden sich gleich furchtbare Sorgen machen und ihr unter die Arme greifen wollen. Und das gedachte sie auf jeden Fall zu verhindern. Denn sie musste es allein schaffen, musste auch ohne Tom klarkommen können. Für ihre Tochter sorgen können. Jane, die sie mit ihrer finanziellen Lage erst recht nicht vertraut machen würde.

Sie schaltete das Radio an. Es lief gerade ein alter Song, den sie sehr mochte. Please Forgive Me von Bryan Adams, der sie sofort wieder an Tom erinnerte, weil sie ihn in den guten alten Zeiten oft zusammen gehört hatten. Und jetzt merkte sie erst, wie sehr dieser Song passte, wie gut er das ausdrückte, was sie fühlte. Denn sie konnte nun mal nicht aufhören, Tom zu lieben, und sie hoffte, er verzieh ihr, dass sie es nicht schaffte, ohne ihn weiterzumachen. Sie sang die Zeilen mit, obwohl sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie den Text auswendig konnte.

»Please forgive me, I know not what I do, please forgive me, I can’t stop loving you …«

Sie saß in ihrem Auto auf dem Supermarktparkplatz und sang sich die Seele aus dem Leib, und dabei flossen ihr die Tränen unaufhaltsam. Irgendwann bemerkte Amanda, dass eine Frau im Nebenauto sie schockiert anstarrte. Sofort wurde sie still und wischte sich die Tränen weg. Die Situation war ihr äußerst peinlich, auch wenn sie die Frau nicht kannte und sie vielleicht sogar nie wiedersehen würde. Doch sie schämte sich plötzlich selbst dafür, wer sie geworden war. Eine Frau, die am helllichten Tag in ihrem Wagen saß und um ihre große Liebe weinte, die doch schon vor achtzehn Monaten gestorben war. Die Liebe war tot, Tom war tot, und ein Teil von ihr war es ebenfalls. Doch so war das nun mal, das war es, was das Schicksal für sie bestimmt hatte. Etwas anderes hatte das Leben ihr nicht mehr zu bieten, und deshalb sollte sie verflucht noch mal anfangen, irgendwie damit klarzukommen. Etwas anderes blieb ihr doch überhaupt nicht übrig.

Sie stellte das Radio aus und fuhr vom Parkplatz, ohne noch mal in Richtung der Frau zu gucken, die sich denken musste, sie hätte gerade eine Verrückte beobachtet.

Auf dem Rückweg beschloss Amanda spontan, bei Sally vorbeizuschauen. Sally war ihre beste Freundin seit Jugendtagen und besaß einen kleinen Blumenladen in Monterey, wo sie ja auf dem Weg nach Hause quasi durchfahren würde. Zuerst überlegte sie, auch bei ihren Eltern Halt zu machen, aber das wäre zu viel des Guten. Öfter als einmal in der Woche konnte sie ihre Mutter und deren lieb gemeinte, aber doch ziemlich vehemente Ratschläge wirklich nicht ertragen.

Sie fuhr ihren Ford auf den Parkplatz des kleinen offenen Einkaufszentrums, wie sie in Kalifornien so häufig vorkamen, und lief über den Platz, auf dem ein Springbrunnen stand, von dem das Wasser sachte herabplätscherte. Als sie näher hinsah, konnte sie erkennen, dass sich darin Schildkröten befanden. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie dort zuvor schon welche gesehen hatte und freute sich richtig über deren Anwesenheit. Spontan setzte sie sich auf den Rand des steinernen Brunnens und beobachtete die niedlichen kleinen Tiere dabei, wie sie schwammen. Eine der Schildkröten versuchte, auf eine andere zu steigen, und Amanda musste lachen. Sie waren einfach zu süß.

Sie löste sich von ihnen und ging auf Sally’s Flowers zu. Beim Betreten des hübschen kleinen Ladens ertönte eine Melodie. Es war der Titelsong der Serie O. C., California , die Sally schon immer geliebt hatte. Als sie jünger waren, hatten sie sie sich oft zusammen angesehen und dabei von Seth und Ryan geschwärmt. Sally war total verknallt in den blonden Ryan gewesen, und sie hatte Glück gehabt, nur wenige Jahre später ihren eigenen Traummann zu finden, der der Serienfigur sogar in einigem ähnlich war. Neil war ebenfalls gut gebaut und temperamentvoll, wobei er sich aber nicht wie Ryan ständig auf irgendwelche Prügeleien einließ. Ganz im Gegenteil, er war der vernünftigste Mensch, den man sich vorstellen konnte, und er hatte Tom und ihr während ihrer Anfangsphase auf der Farm in vielerlei Hinsicht geholfen. Als Bauleiter hatte er nicht nur ihr Haus gebaut, er hatte auch, besonders was die Lagerhalle und den Vertrieb anging, viele gute und vor allem kostengünstige Ideen eingebracht. Neil und Tom waren beste Freunde geworden, und Neil hatte es ziemlich schlimm mitgenommen, als Tom … plötzlich nicht mehr da gewesen war.

»Amy! Welch schöne Überraschung!«, rief Sally ihr zu. Sie stand gerade hinter dem Tresen und band einen wunderschönen Blumenstrauß, der ganz in Weiß und Orange gehalten war. »Wie komme ich denn zu der Ehre, dass du mich völlig ohne Vorankündigung besuchen kommst?«

»Ich war in der Nähe und dachte, ich schaue mal vorbei.«

»Und in der Nähe heißt was?«, fragte Sally, kam kurz um den Tresen herum, um sie zu umarmen und nahm dann eine weiße Lilie in die Hand. Sie hielt sie neben eine orangefarbene Rose, dann neben ein paar Margeriten und überlegte, während sie auf ihrer Unterlippe kaute, wie sie es beim Grübeln so oft tat. Dann probierte sie es mittig zwischen zwei or angefarbenen Gerbera und nickte zufrieden.

»Das sieht wirklich toll aus«, versuchte Amanda vom Thema abzulenken.

Doch ihre Freundin ließ sich nicht abschütteln. »Nun sag mir schon die Wahrheit.«

»Ich war bei Walmart. Sie haben Frühstücksflocken im Angebot.«

»Aaah. Und da hast du natürlich zugeschlagen und gleich zehn Packungen gekauft?«

»Zwanzig«, sagte sie so leise, dass man es kaum verstehen konnte.

Sally blickte von ihrem Blumengebinde auf. »Steht es inzwischen so schlecht um euch?«

»Die Farm frisst all meine Ersparnisse auf. Ich weiß auch nicht, was ich noch machen könnte, um wieder mehr Einnahmen zu haben.«

»Wie wäre es denn, wenn du neben den Erdbeeren noch was anderes anbaust? Oder wenn du neben der Marmelade und dem Sirup noch ein paar weitere Produkte herstellst?«

Das waren alles gut gemeinte Vorschläge, aber daran hatte Amanda natürlich selbst schon gedacht. Und nichts davon kam infrage. Um noch eine weitere Frucht oder ein Gemüse anzubauen, fehlten ihr der Platz und das Kapital. Und noch ein weiteres Produkt herzustellen könnte sie nicht aus der Misere holen, in der sie steckte. Dazu hing sie einfach schon zu tief drin.

»Das sind leider keine Optionen«, sagte sie ihrer Freundin also.

Sally sah sie mit einem mitleidigen Blick an. »Und wenn du einen Kredit aufnimmst?«

»Ich hab’s schon versucht. Die Bank will mir keinen gewähren.«

»Mist! Hmmm … Es gibt da natürlich immer noch die Möglichkeit, dir was von deinen Eltern zu leihen. Die würden dir bestimmt helfen.«

»Das werde ich unter keinen Umständen tun«, stellte sie klar.

»Oder wir könnten dir unter die Arme greifen. Um wie viel geht es hier denn genau?«

»Das ist lieb von dir, Sal, aber ich will wirklich erst mal alles versuchen, um es allein zu schaffen.«

»Sieht für mich so aus, als hättest du das längst«, meinte Sally, die nie ein Blatt vor den Mund nahm.

Sie sah sie warnend an. Wenn ihre Freundin so weitermachte, würde Amanda ungemütlich werden. Denn sie hatte ihren Stolz.

»Du und dein blöder Stolz«, sagte Sally, weil sie sie einfach zu gut kannte.

Eine Kundin betrat den Laden und kam zum Bezahlen auf den Tresen zu, weshalb Amanda nicht mehr zum Antworten kam, was vielleicht auch besser war.

Als die Frau mit einem Lächeln und einem Topf wunderschöner rosa Hyazinthen wieder weg war, sah Sally sie eingehend an. »Du gefällst mir zurzeit gar nicht«, sagte sie.

»Ich habe mir diese finanziellen Stolpersteine nicht ausgesucht, Sal.«

»Das meine ich nicht. Ich finde, du wirkst sehr unausgeglichen. Sind es ehrlich nur die finanziellen Sorgen?«

»Nur? Na, du bist gut. Steck du mal in meiner Lage. Ich weiß nicht mal, wie ich am Sonntag meine Erntehelfer entlohnen soll.«

»Mein Angebot steht, Amy. Und im Übrigen sehe ich dir genau an, dass da noch was anderes ist. Versuch gar nicht erst, es vor mir zu verheimlichen.«

Sie seufzte schwer. »Ja, da ist noch so einiges anderes. Jane behandelt mich wie Dreck, meine Mutter geht mir auf die Nerven, und ich vermisse Tom so sehr, dass es kaum zu ertragen ist. Heute habe ich einen unserer früheren Lieblingssongs gehört und dabei geweint wie ein Schlosshund.« Dass sie dabei laut mitgesungen und die Blicke anderer auf sich gezogen hatte, ließ sie lieber weg.

»Ach, Süße. Das tut mir so leid, dass es bei dir so mies läuft. Willst du nicht vielleicht mal zusammen mit Jane bei uns zum Essen vorbeikommen? Wir könnten einen Spieleabend veranstalten, so wie früher.«

»Ich glaube nicht, dass Jane da Lust zu hat. Sie interessiert sich für überhaupt nichts mehr und am allerwenigsten für Aktivitäten, die mich einschließen.«

»Vielleicht ruf ich sie dann einfach selbst mal an und frag, ob sie mitmachen möchte.«

»Du kannst es gerne versuchen«, sagte sie, obwohl sie nicht glaubte, dass es irgendetwas brachte.

Sally wickelte ein Band um die Blumenstiele und schnürte es fest. Dann stellte sie den fertigen Strauß ins Wasser und wandte sich wieder ihr zu. »Weshalb nervt dich deine Mom?«

»Ach, die meint ständig, ich soll eine Therapie beginnen. Um besser mit Toms Tod fertigzuwerden.«

»Sorry, aber da bin ich sogar mal auf ihrer Seite«, sagte ihre beste Freundin ihr.

Amanda schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nichts für mich. Wirklich nicht. Ich finde schon die Vorstellung schrecklich, einem Fremden gegenüberzusitzen, der mich anstarrt und sich Notizen macht, während ich ihm von meinen Gefühlen erzähle.«

»Okay, das klingt wirklich grausig. Aber es gibt da doch noch andere Möglichkeiten. Hast du zum Beispiel mal über eine Gruppentherapie nachgedacht?« Sally band sich ihr schulterlanges rotes Haar zu einem Pferdeschwanz.

»Ich soll gleich vor einer ganzen Gruppe Fremder meine Gefühle offenbaren? Das wäre ja noch viel grauenvoller.«

»Karen aus der Eisdiele besucht einmal in der Woche das Gemeindezentrum, um an einer Trauergruppe teilzunehmen. Sie sagt, sie hat ihr sehr geholfen, mit dem Tod ihres Sohnes fertigzuwerden.«

»Ich weiß nicht … Ich glaube nicht, dass das das Richtige für mich ist.«

»Aber Süße, du musst dir endlich helfen lassen. Es ist anderthalb Jahre her, und du trauerst wie am ersten Tag. Gib der Sache doch wenigstens eine Chance. Du wirst da zu nichts gezwungen. Karen sagt, man kann selbst entscheiden, wann und inwieweit man sich den anderen mitteilt, oder ob man das überhaupt tun will. Guck es dir doch wenigstens mal an. Wenn es gar nichts für dich ist und du dich unwohl fühlst, musst du ja kein zweites Mal hingehen.«

Sie lächelte ihre Freundin an. Sie meinte es doch nur gut. »Okay, vielleicht. Ich kann ja mal beim Gemeindezentrum vorbeifahren und mir ein paar Infos holen.«

»Das ist die richtige Einstellung.« Sally sah sie liebevoll an. »Ich fände es wirklich schön, wenn du nicht mehr allein wärst mit deinem Schmerz.«

»Ich hab doch dich«, sagte sie.

»Ich habe aber nicht dasselbe durchgemacht wie du, nicht einmal annähernd. Manchmal ist es gut, sich unter Gleichgesinnte zu begeben.«

Sally sagte das so, als würde sie an einer Star-Trek -Convention teilnehmen wollen. Aber sie verstand schon, was sie meinte. Sie versprach also, sich zu informieren und Sonntagabend zum Dinner vorbeizukommen, ob nun mit Jane oder ohne.

»Ich muss mich dann mal auf den Weg machen«, sagte sie. »Grüß Neil und Davie von mir.«

»Danke, das mache ich. Davie nervt uns zurzeit jeden Tag damit, dass er einen Hund haben will. Mach dich also auf was gefasst.«

Ach, dachte sie, wenn das alle Sorgen waren, die Sally hatte, dann sah ihr Leben doch ziemlich rosig aus.

Sie umarmten sich noch einmal, und Amanda fuhr los. Sie machte einen kleinen Umweg und hielt vor dem Gemeindezentrum, doch schon, als sie das längliche Backsteingebäude betrat, überkam sie ein mulmiges Gefühl. Weil sie es ihrer Freundin versprochen hatte und auch, um ihrer Mutter etwas Positives zu berichten, nahm sie sich einen Flyer.

Hast du einen geliebten Menschen verloren?

Du bist nicht allein.

Komm vorbei und werde Teil unserer Trauergruppe.

Immer donnerstags um 19:00 Uhr in Raum 5.

Kuchenspenden sind willkommen.

Oh Gott, das klang einfach schrecklich. Die Vorstellung, bei Kaffee und Kuchen einem Haufen fremder Menschen von Tom zu erzählen, ließ sie erschaudern. Sie steckte den Flyer in die Handtasche und verschwand schnell wieder. Auf dem Heimweg fuhr sie an einem großen Schild vorbei, das dort am Nachmittag noch nicht gestanden hatte. Es machte Werbung für die Wiley-Farm, die ankündigte, dass man dort von nun an Erdbeeren selbst pflücken konnte.

Amanda spürte Wut aufsteigen. Das machten so viele Farmer der Gegend. Und sie wusste, dass es gute Einnahmen mit sich brachte, denn besonders an den Wochenenden liebten die Leute es, aufs Land zu fahren und Früchte selbst zu ernten. Nicht nur schmeckten sie dann gleich doppelt so gut, sondern es gab ihnen auch die Gelegenheit, einen kleinen Ausflug zu machen, Zeit mit der Familie zu verbringen. Sie selbst war früher des Öfteren zusammen mit Tom und Jane rausgefahren, um eine Apfelplantage oder auch eine Blaubeerfarm zu besuchen, wo man sein Obst selbst pflücken konnte. Und was sie jetzt so wütend machte, war die Tatsache, dass noch eine Farm der Gegend mit dem Trend ging, und dass so etwas auf ihrer eigenen Farm leider nicht möglich war, weil sie die vorgeschriebenen Bedingungen nicht erfüllte.

Sie fuhr weiter und versuchte krampfhaft zu überlegen, was sie heute zum Abendessen zubereiten sollte – und plötzlich dämmerte es ihr!

Tom hatte so oft gesagt: »Was nicht passt, wird passend gemacht!« Warum ließ sie sich also weiter abhalten von blöden Vorschriften? Vielleicht gab es da ja doch eine Möglichkeit, selbst auch mit dem Trend zu gehen. Vielleicht war es ihre letzte und einzige Chance, die Farm zu retten.