Kapitel 13

Amanda

Sie tauchte die Schöpfkelle in die Schüssel und gab den flüssigen Teig in das geöffnete Waffeleisen, bevor sie es wieder schloss. Rechts neben ihr stapelten sich bereits die fertigen Waffeln und verströmten einen unglaublichen Duft. Sie brach eins der kleinen Herzen heraus und biss ab. Sie schmeckten sogar noch besser als sie rochen, und vor allem hatte sie sie mit viel Liebe gemacht. Tom hatte samstags immer gerne Waffeln gefrühstückt, und sie hatte es sehr lange nicht über sich bringen können, welche zuzubereiten. Doch heute war Amanda einfach danach gewesen, vor allem, weil sie auch gerne mal wieder eine Kleinigkeit nach draußen zu ihren fleißigen Helfern bringen wollte, in denen sie stets dankbare Abnehmer fand.

Vor etwa einer halben Stunde hatte sie geglaubt, die Haustür zu hören und schon gedacht, Jane wäre ohne ein Wort gegangen, doch als sie in den Flur trat, konnte sie sie in ihrem Zimmer hören und hatte sich wieder zurück in die Küche begeben.

Als aller Teig verbraucht war, deckte sie den Küchentisch mit zwei Tellern, einem Glas Erdbeermarmelade und dem guten Ahornsirup. Sie presste ein paar Orangen aus und stellte zwei Gläser Saft dazu. Dann ging sie hinaus in den Garten, schnitt ein Dutzend Tulpen ab und trat gerade zurück ins Haus, als Jane ihr entgegenkam.

»Oh, sehr gut, dass du wach bist. Ich habe Frühstück gemacht«, sagte sie und lächelte ihre Tochter an.

Die bedachte sie allerdings wie immer nur mit einem gelangweilten Blick. »Ich hab keinen Hunger.«

»Wie schade. Ich habe extra Waffeln gemacht. Die haben wir doch früher so oft zusammen gefrühstückt.«

»Es ist aber nicht mehr wie früher, Mom.«

»Das weiß ich doch. Ich dachte nur, wir sollten mal wieder ein bisschen mehr Zeit zusammen verbringen. Das fände ich sehr schön.«

»Ich bin mit Cal verabredet. Wir wollen in die Mall, ein bisschen shoppen. Ich bräuchte dringend ein paar neue Hosen, meine sind mir alle zu eng.«

Ja, ihr war auch aufgefallen, dass Jane in den letzten Monaten richtige weibliche Kurven bekommen hatte. Sie seufzte und ging zu ihrer Handtasche, die an einem Garderobenhaken hing. Sie gab Jane drei Zwanzigdollarscheine und sagte: »Hier, bitte schön.«

Doch Jane stöhnte sogleich. »Mom, das reicht höchstens für eine oder zwei!«

»Dann musst du versuchen, irgendwo ein paar Angebote zu ergattern. Mehr kann ich dir gerade leider nicht geben.« Eigentlich war es weit mehr, als sie zurzeit überhaupt erübrigen konnte.

Jane verdrehte die Augen. »Hättest du nicht den ganzen Supermarkt mit Frühstücksflocken leer gekauft, hätten wir auch Geld für Klamotten.«

Sie seufzte erneut. Es würde nichts bringen, es Jane zu erklären. Egal, was sie ihr jetzt sagte, sie würde es in den falschen Hals kriegen, also sagte sie gar nichts.

Sie sah ihrer Tochter dabei zu, wie sie in ihre schwarzen Boots stieg und die schwarze, übergroße Lederjacke vom Haken nahm, um sie sich überzuziehen. Sie hatte einmal Tom gehört und war Jane heilig.

»Willst du nicht wenigstens ein Glas frisch gepressten Orangensaft trinken?«

»Nein, danke.«

»Und was ist mit einer Waffel für den Weg? Du musst doch was essen.«

»Ich hol mir später was mit Cal.«

»Na gut.«

Jane starrte sie nun provokativ an. »Was ist denn, Mom?«, fragte sie genervt.

»Gar nichts. Ich mache mir nur Sorgen um dich.«

»Musst du nicht. Mir geht’s gut. Alles ist super.« Mit diesen Worten ging Jane aus dem Haus, stieg auf ihr Fahrrad und radelte davon.

Amanda schloss die Tür. Ihr war zum Weinen. Wann war ihre süße kleine Tochter nur so gemein geworden? Sie verstand ja, dass der Tod ihres Vaters an ihr nagte, und sie verstand auch, dass sie in der Pubertät und gerade nichts einfach war. Aber musste sie es denn ständig an ihr auslassen? Sie hatte ihr doch nichts getan! Oder? Hatte sie sie unbewusst beleidigt, gedemütigt oder Ähnliches?

Oft hatte sie versucht, nach einer Ursache für Janes Verhalten zu suchen, doch sie landete immer nur wieder an dem Tag, der alles veränderte. Der Tag, an dem Tom von ihnen ging.

Sie seufzte wohl zum zehnten Mal an diesem Morgen, ging zurück in die Küche und setzte sich allein an den Tisch. Sie trank erst ihr eigenes Glas Saft und dann auch noch das von Jane aus. Dann aß sie ohne großen Appetit eine Waffel, bevor sie den Tisch abdeckte und das wenige Geschirr in die Spüle stellte. Sie würde es nachher abwaschen, wenn sich der einsame Teller vom Mittagessen dazugesellte.

Eine ganze Weile blieb sie am Fenster stehen und starrte aufs weite Feld hinaus. Toms Traum war damals vor fünfzehn Jahren auch zu ihrem geworden. Wie glücklich sie auf dieser Farm gewesen waren, wie viele wundervolle Momente sie ihnen beschert hatte. Gut eine Viertelstunde konnte sie sich überhaupt nicht vom Fleck bewegen, dann jedoch tat sie einen Schritt und sammelte alle Wäsche ein, die irgendwo herumlag. Als sie mit dem Wäschekorb durch Janes Zimmer ging, sah sie ein Buch auf deren Schreibtisch liegen. Die Straße der Ölsardinen von John Steinbeck. Bestimmt musste Jane es für den Englischkurs lesen, von sich aus hätte sie sich garantiert kein solches Buch zugelegt oder überhaupt irgendeins. Amanda stellte den Korb ab und schlug den dünnen Roman auf. Sie erinnerte sich, es selbst zu Schulzeiten gelesen zu haben, wusste aber kaum noch etwas vom Inhalt, geschweige denn, ob es ihr gefallen hatte. Sie beschloss, es mit nach draußen zu nehmen, wo sie sich, sobald sie die Waschmaschine angestellt hatte, an ihren Verkaufstisch setzen und darauf hoffen würde, dass heute ein paar Kunden vorbeikamen, um frische Erdbeeren oder auch ein Glas Marmelade zu kaufen. Sie steckte es sich hinten in den Hosenbund und nahm den Korb wieder unter den Arm. Hier sammelte sie einen Pulli ein, auf dem Boden in der Zimmerecke ein paar T-Shirts, und über der Stuhllehne hing eine Hose. Natürlich waren all diese Dinge in Schwarz oder Dunkelgrau gehalten, und als Amanda die Jeans vor sich in die Höhe hielt, erkannte auch sie, dass sie Jane längst viel zu klein sein musste. Und sie bedauerte zutiefst, dass sie ihr nicht mehr Geld hatte geben können. Allerdings war Jane beinahe sechzehn und konnte sich jederzeit einen Job suchen, um ihr Taschengeld aufzubessern. Viele ihrer Klassenkameraden hatten Jobs, arbeiteten an der Supermarktkasse oder führten Hunde Gassi – sie sah sie täglich. Das jedoch Jane gegenüber anzusprechen würde sicher nur wieder in einem Streit enden, also ließ sie es lieber bleiben. Sie war ja froh, dass ihre Tochter ansonsten recht anspruchslos war. Um etwas Großes wie teure Markenschuhe, ein iPhone oder ein neues Fahrrad hatte sie sie noch nie gebeten. Wofür sie sehr dankbar war, denn nicht einmal sie selbst besaß ein teures Handy, ihr Ford Explorer war geleast, und sie war einfach nur froh, dass sie das Haus selbst gebaut und den Kredit dafür bereits vor einigen Jahren abbezahlt hatten. So konnte man ihr wenigstens nicht ihr Heim nehmen. Allerdings stand das Haus auf demselben Grundstück wie die Farm, und sollte sie diese verkaufen müssen, würde sie auch das Haus verlieren. Doch noch würde sie das alles nicht aufgeben, Toms Lebenswerk, ihr Zuhause. Und als sie nun mit zwei Tellern voller Waffeln hinausging, konnte sie an kaum etwas anderes denken als an diese Idee, die sich gestern Abend bei ihr eingeschlichen hatte und sie nicht wieder losließ. Sie würde gut recherchieren müssen, was alles dafür nötig wäre, aber vielleicht war es eine Option. Sie hoffte es sehr.

Sie wurde freudig von den Farmarbeitern begrüßt. Esmeralda, die gebeugt über den Erdbeerpflanzen stand und so schnell pflückte, dass man kaum mitzählen konnte, hielt sofort inne und nahm ihr die Teller ab.

»Wie nett von Ihnen, Señora Parker. Seht, was die Señora uns Leckeres bringt!«, rief sie den anderen zu, und gleich kamen alle herbei und nahmen sich mit freudigen Gesichtern und dankenden Worten Waffeln von den Tellern.

Im Nu war alles leergeputzt, und Amanda freute sich, dass sie wenigstens ihren Helfern eine Freude hatte machen können. Sie sah sie sich einen nach dem anderen an. Da waren Esmeralda, die Mitte vierzig und wohl die zuverlässigste Arbeiterin war, die sie je gehabt hatte. Sie war Alleinverdienerin, seit ihr Mann Iván beim Bau wegen unzureichender Sicherheitsmaßnahmen von einem Haus gefallen war und sich die Wirbelsäule verletzt hatte. Er saß jetzt im Rollstuhl, hatte sie erzählt, und er hatte seinen Arbeitgeber noch nicht einmal verklagen können, weil er bei dem Job nicht offiziell gemeldet war. Schwarzarbeit. Amanda wusste, dass die in Kalifornien viel betrieben wurde, vor allem nutzte man gerne Mexikaner oder andere Lateinamerikaner aus, die keine Chance hatten, sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen zu wehren. Tom und sie hatten es immer anders gehalten, hatten ihre Leute fair behandelt, weshalb viele von ihnen auch Jahr für Jahr wiederkamen und Bestleistung brachten.

Iván hatte eine Abfindung von dreitausend Dollar bekommen, damit er es ruhen ließ, hatte Esmeralda erzählt, und er hatte es ruhen lassen. Leider musste Esmeralda nun doppelt so viel arbeiten und hatte neben der Tätigkeit auf der Erdbeerfarm das ganze Jahr über irgendwelche Jobs als Erntehelferin. Sie ging bereits so gebeugt wie eine Achtzigjährige. Doch all das nahm sie in Kauf, um ihre Familie ernähren zu können: ihren Mann, ihre beiden Töchter Mirella und Dilara und ihren Sohn Romeo, der ja nun ebenfalls auf der Farm mitarbeitete. Im Laufe der Jahre hatte Esmeralda außerdem ihren Bruder Sergio, ihre Schwägerin Ricarda und ihre Nichte Felicitas dazugeholt, und Amanda hatte jeden von ihnen gerne eingestellt, da auf Esmeralda Verlass war. Sie war nicht enttäuscht worden, und inzwischen hatte sie Sergio sogar zum Vorarbeiter befördert.

Dann waren da noch zehn andere Erntehelfer, die meisten von ihnen zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt, am auffälligsten war wohl Chino, ein unglaublich gut aussehender, aber sehr temperamentvoller junger Mann. Amanda hatte schon mehrmals mitbekommen, dass es Streitigkeiten zwischen ihm und einigen der anderen gegeben hatte, und sie hatte Sergio neulich darauf angesprochen. Der hatte ihr gesagt, dass Chino ein schweres Leben gehabt hatte und gerne mal ein wenig streitlustig wurde, dass er aber im Grunde ein guter Junge war. Er hatte ihr versprochen, ein Auge auf ihn zu haben und ihr sofort Bescheid zu sagen, falls irgendetwas vorfallen sollte.

Ja, das waren sie, ihre fünfzehn Angestellten. Vor weni gen Jahren waren es noch knapp doppelt so viele gewesen, denn fünfundzwanzig bis dreißig Erntehelfer waren für eine Farm dieser Größe – nämlich zwanzig Acres – eigentlich nötig. Doch wie hätte sie die alle entlohnen sollen? Sie konnte kaum noch das Geld für diese fünfzehn aufbringen, die schon morgen wieder nach ihrem Gehalt verlangen würden.

Sie verabschiedete sich und ging rüber zur Sortierstation. Von dort holte sie sich zwei Paletten Erdbeeren und brachte sie zu dem kleinen Verkaufsstand, den sie in ihrer Einfahrt, direkt am Straßenrand, aufgebaut hatte. Ein großer Schirm schützte die Früchte und natürlich auch sie vor der Sonne. Tom hatte ihr vor Jahren ein Schild gebastelt, das mit einem dicken roten Pfeil auf den Verkauf hinwies, und es etwa zweihundert Meter entfernt an der Hauptstraße in den Boden gehämmert. Es war zwar schon ziemlich verblichen, doch es stand noch immer da.

Nun stellte sie die Ein-Pfund-Schalen mit den reifen tiefroten Früchten auf den hölzernen Verkaufstisch und das Preisschild daneben. Amanda baute ausschließlich Erdbeeren der Sorte Albion an, da diese an der kalifornischen Küste rund um Monterey so wunderbar wuchsen und weil sie selbst während der Erntezeit noch nachblühten, was bedeutete, dass man beinahe ein halbes Jahr lang ernten konnte. Außerdem waren sie fester und robuster als zum Beispiel die Sorten Seascape oder Chandler, was natürlich ein großer Vorteil war, denn so konnte man sie auch an Supermärkte verkaufen, die natürlich sehr auf lange Haltbarkeit bedacht waren.

Erdbeeren waren allgemein unglaublich pflegeleicht, alles, was sie brauchten, waren Sonne und Wasser, wobei das Wasser in Kalifornien in den letzten Jahren zur Mangelware geworden war und es Amandas finanzielle Situation auch nicht besser machte, dass man die Felder drei- bis viermal am Tag – je nach Temperatur – für fünfzehn Minuten bewässern musste.

Sie holte noch zwei Kartons aus dem Haus. Einen mit selbst gemachter Marmelade und einen mit dem süßen Erdbeersirup, der köstlich zu Pfannkuchen oder auf Vanilleeis schmeckte. Als sie auch diese aufgestellt hatte, setzte sie sich mit dem Buch an den Tisch und begann zu lesen. Nur fünf Minuten später sah sie einen Wagen ranfahren und parken. Ein Mann stieg aus. Er war höchstens ein paar Jahre älter als sie, trug einen Dreitagebart, Jeans und ein verwaschenes Ramones-T-Shirt. Und er lächelte sie strahlend an.

»Guten Morgen«, rief sie ihm zu und beobachtete ihn dabei, wie er auf den Stand zukam und sich dabei bewegte wie eine Mischung aus einem Holzfäller und einem Rockstar. Sein schokoladenbraunes Haar fiel ihm unter der Baseballkappe ins Gesicht, doch das machte ihn nur umso attraktiver. Sie merkte, wie ihre Wangen rot wurden. Solche Gedanken bezüglich eines Mannes, der nicht Tom war, hatte sie schon lange nicht gehabt. Sehr lange sogar.

»Guten Morgen«, erwiderte der Typ nun. »Wie läuft das Geschäft?«

»Sehr gut, danke«, sagte sie und fragte sich gleichzeitig, warum sie den Fremden anlog.

»Freut mich, das zu hören. Was verkaufen Sie denn hier Leckeres?« Er begutachtete die Produkte, die den Tisch zierten, und deutete auf die Flaschen. »Ist das etwa Erdbeersirup?«

»Ja, genau. Selbst gemachter.«

»Hört sich großartig an. Und sehr süß.« Er verzog das Gesicht, und sie musste lachen.

»Das ist er auch«, musste sie zugeben.

»Perfekt! Davon nehme ich eine Flasche. Meine kleine Tochter wird den lieben.«

Er hatte eine Tochter? Das machte ihn in Amandas Augen gleich noch ein wenig sympathischer.

»Ganz bestimmt«, meinte sie. Jane hatte ihn früher auch sehr geliebt.

»Der ist sicher lecker auf Eis, kann ich mir vorstellen.« Er lächelte sie an. »Selbst gemachtem.«

Sie lächelte zurück. Der Mann war perfekt.

Er entschied sich noch für zwei Schalen Erdbeeren und ein Glas Marmelade, weil er die selbst gern aß, wie er ihr erzählte. Sie unterhielten sich ein paar Minuten, er bezahlte und wünschte ihr noch einen schönen Tag. Dann fuhr er davon. Sie starrte ihm nach und war sich sicher, sie sah ihn nie wieder. So war das doch immer, oder? Die Guten waren bereits vergeben, waren glücklich verheiratet und hatten kleine Töchter, denen sie Eis selbst machten.

Sie seufzte, vielleicht zum hundertsten Mal an diesem Morgen, und widmete sich wieder dem Buch, das sie sicher am Ende des Tages durchgelesen haben würde, denn so ein Tag am Erdbeerstand mit alle halbe Stunde mal einem Kunden war wohl das Langweiligste, was man sich vorstellen konnte.