Kapitel 15

Jane

Als sie am späten Morgen bei Cal geklingelt hatte, hatte er ihr gleich geöffnet und sich einen Finger auf die Lippen gelegt. »Pssst, meine Mom schläft«, hatte er geflüstert und dabei in Richtung Wohnzimmer gesehen.

Jane hatte genickt und war eingetreten in das Haus, das in den letzten Jahren zu so etwas wie ihrem zweiten Zuhause geworden war. Es war nicht halb so schön oder halb so aufgeräumt wie ihres, jedoch fand sie das manchmal sogar beruhigend. Dass eben nicht alles in bester Ordnung war, sondern ein großes Durcheinander, so wie das Gefühlschaos in ihrem Innern.

Als sie den Flur entlanggegangen war, hatte sie Cals Mutter Lorelai auf der Couch im Wohnzimmer liegen gesehen. Sie trug noch immer ihre Kellnerinnenuniform, und einer ihrer Arme hing herunter und berührte den Boden. Stirnrunzelnd hatte sie Cal angesehen. Er hatte nur die Achseln gezuckt und gesagt: »Sie ist heute Morgen um halb sieben von ihrer Nachtschicht im Diner gekommen, hat sich da hin gepackt und ist sofort eingepennt.«

Sofort wohl nicht, dachte Jane. Denn auf dem Tisch standen zwei Bierflaschen, die Mary vorher noch geleert hatte, wie es aussah.

»Bist du da etwa schon wach gewesen? Um halb sieben?«, erkundigte sie sich. Sie wusste, dass Cal sonst am Wochenende gerne mal bis mittags schlief.

»Ja. Konnte nicht so gut schlafen letzte Nacht. Mir tat alles weh.«

»Kann ich mir vorstellen.« Sie betrachtete Cal nun genauer. Sein gestern schon mies aussehendes Auge war heute blau und total angeschwollen. Dafür sah man von dem Schlag auf die Nase kaum noch etwas.

Sie gingen in Cals Zimmer, dessen Wände vollbehangen waren mit Postern ferner Orte. Am besten gefiel ihr das von Los Angeles, die Skyline vor den Bergen bei Sonnenuntergang. Obwohl sie in Kalifornien lebte, war sie noch nie dort gewesen. Sie war einmal in Anaheim gewesen, wo sich Disneyland befand, und natürlich in San Francisco, was aber beides schon ewig her war. Doch das war mehr als das, was Cal bisher gesehen hatte, der war nämlich über Carmel und Monterey noch nie hinausgekommen, wenn man mal von dem Ausflug zu einer Orangenplantage in Bakersfield in der siebten und zum Museum für afroamerikanische Geschichte in Fresno in der neunten Klasse absah. Manchmal starrten sie gemeinsam auf die Poster und planten zukünftige Trips, die sie irgendwann machen wollten. Jane wollte nach L. A . und nach Chicago, Cal nach Las Vegas, New York City und zu den Niagarafällen. Und natürlich wollten sie zusammen am Strand von Miami chillen und die Leute beobachten, wie sie in den Hotels mit den leuchtenden Schriftzügen an der Ocean Avenue ein- und ausgingen. Dabei wollten sie tonnenweise Eis essen und dann einfach nur stundenlang den Himmel beobachten und in den Wolken irgendwelche Figuren entdecken. Das war ein Spiel, das sie gern spielten. Einmal hatte Jane sogar ihren Dad in einer kleinen, weit entfernten Wolke erkannt.

»Hast du den Artikel in der Gomery gelesen?«, fragte Cal.

Sie sah ihn verwirrt an. Wieso glaubte er, dass sie plötzlich angefangen hätte, sich für das Klatschblatt der Schule zu interessieren? Es gab nichts, das sie weniger interessierte, als wer gerade mit wem Schluss gemacht hatte oder wer neu ins Cheerleading-Team aufgenommen wurde.

»Ja, ja, ich weiß, du gibst nichts auf Klatsch und Tratsch. Ich dachte nur, du würdest vielleicht doch mal einen Blick drauf werfen wollen, weil es darin doch um mich geht. Es ist sogar ein Foto von mir abgebildet. Zwei, besser gesagt.«

Jetzt machte sie doch große Augen, und da sie selbst die App nicht auf dem Smartphone hatte, sagte sie: »Zeig her!«

Cal rutschte auf dem Bett rüber zu ihr und setzte sich genau wie sie mit angewinkelten Beinen ans Kopfende. Er rief die Seite auf und hielt ihr sein Handy hin.

Sie nahm es ihm aus der Hand. Er hatte recht, es ging um ihn. Genauer gesagt ging es um die Prügelei gestern auf dem Schulparkplatz. Und es waren tatsächlich Fotos abgebildet. Eins von Jeremy in seiner Lacrosse-Kluft, Cals Bild aus dem letzten Jahrbuch und dann noch eins, wie er blutend auf dem Boden lag.

»Sind die bescheuert? Wieso posten die denn so was? Das ist so unfair, dass dich jetzt auch noch die ganze Schule so sieht«, regte sie sich sofort auf.

»Sieh es mal so, ich bin der Titelheld des Tages.«

»Cal«, entgegnete sie und betrachtete ihn, als hätte er die Welt nicht verstanden. »Du bist hier nicht der Held, sondern der totale Loser.«

»Wenigstens bin ich mal in der Zeitung, das war ich noch nie.« Er grinste und versuchte, es scherzhaft zu sehen, sie konnte das aber nicht. Sie war noch immer so sauer auf die blöden Lacrosse-Spieler, allen voran Jeremy Blunt, und die hirnamputierten Cheerleaderinnen, die einfach nur dumm herumgestanden hatten. Auch hatte sie einen Hass auf Eleanor und Sookie, weil sie ihren besten Freund so demütigten.

»Also, ich finde, du solltest damit zu Principal Curry gehen und ihm von dem Vorfall erzählen. Und auch davon, dass so schamlos darüber berichtet wird. Dann bekommen Jeremy und die blöden Reporterinnen vielleicht endlich mal das, was sie verdienen.« Sie kochte vor Wut.

Cal legte eine Hand auf ihre. »Beruhig dich, J. P. «

Sie versuchte tief durchzuatmen, versuchte leiser zu reden, damit sie Lorelai nicht weckte.

»Gehst du nun zu Curry?«, fragte sie dann, schon ein wenig ruhiger.

»Zum Rektor? Damit Jeremy mich gleich noch mal fertig macht? Oder einer seiner Lacrosse-Kumpels? Die haben alle einen doppelt so dicken Bizeps wie ich.«

Jetzt musste sie grinsen. »Eher dreimal so dick.«

Cal lachte. »Du sagst es.«

»Trotzdem, Cal.« Sie wurde wieder ernster. »Irgendwas müssen wir doch tun. Oder?«

»Ich denke, wir sollten uns lieber von denen fernhalten und hoffen, dass sie uns von nun an einfach nur wieder ignorieren.«

Sie seufzte schwer. Vielleicht hatte er recht. Womöglich war das wirklich die beste Option, zumindest wenn man da ohne gebrochene Knochen rauskommen wollte.

»Was wollen wir machen?«, fragte Cal dann, und sie entschieden sich dazu zu lesen. Sie lasen gerne zusammen, in der Stille, richtige Bücher, gute Bücher, nicht solche, wie sie sie für den Englischkurs lesen mussten. Vor ein paar Tagen hatte Jane mit Unterwegs von Jack Kerouac angefangen, ein Roman, den Cal ihr empfohlen und den er selbst schon so oft gelesen hatte, dass er ganz zerfleddert war. Es ging darin um jemanden, der durch ganz Amerika reiste, und man konnte sich mit ihm an all die fernen Orte träumen, die man selbst gerne mal sehen wollte. Cal las ein Buch, das sein Bruder Don ihm geschickt hatte, Lean on Pete von Willy Vlautin. Don war im zweiten Jahr auf dem College, sie hatte aber nicht das Gefühl, als würde Cal ihn sehr vermissen. Einmal hatte er ihr anvertraut, dass er ganz froh war, dass sein großer Bruder weg war, denn so war das Essen nicht mehr ganz so knapp.

Sie lasen also eine Weile, und irgendwann fragte Jane, ob sie in die Mall fahren wollten.

»Klar, warum nicht.«

»Wir könnten uns im Food Court was Mexikanisches oder etwas bei McDonald’s holen.«

»Ich hab leider kein Geld«, sagte Cal wie so oft, und das, obwohl er doch mehreren kleinen Jobs nachging. Zum Beispiel mähte er den Rasen für einige Nachbarn, und dann gab er ein paar jüngeren Schülern Nachhilfe – er war ein Einser-Schüler in Englisch, Spanisch und Geografie –, doch irgendwie schienen er und seine Mom trotzdem immer pleite zu sein. Sie hoffte, dass die Situation sich nun, da Lorelai wieder Arbeit hatte, besserte.

Sie verließen also gegen Mittag das Haus und fuhren auf ihren Fahrrädern zur Mall, die heute unerwartet leer war.

»Es findet doch gerade das große Lacrosse-Spiel statt«, erinnerte Cal sie.

»Ach, das ist heute?«

»Japp.«

»Tut mir sooo leid, dass ich dich davon abgehalten habe hinzugehen. Bestimmt hättest du da gerne zugeguckt«, sagte sie sarkastisch.

»Ach, für dich verzichte ich gerne drauf«, erwiderte Cal und zwinkerte ihr mit seinem heilen Auge zu. Er tat ihr so leid, das blaue Auge musste verdammt wehtun. Und die Leute starrten ihn an, als wäre er ein Krimineller oder als hätte er irgendeine unheilbare Krankheit.

Wie immer wollte Cal zuallererst in die Buchhandlung. Er ging ein paar Regalreihen durch und tippte auf einen Roman von Cormac McCarthy. »Der hier hat eins der besten Bücher aller Zeiten geschrieben. Die Straße. Ist ein bisschen wie The Walking Dead , Ende der Welt und so, nur ohne Zombies. Es würde dir gefallen.«

»Klingt gut.«

»Es ist gut. Ich würde es dir geben, aber leider hat Don es mit zum College genommen und weiterverliehen. Wahrscheinlich werde ich es nie wiedersehen.« Er ging das Regal durch. »Leider scheinen sie es hier auch nicht zu haben.«

»Das macht doch nichts. Wir haben eh kein Geld für Bücher, oder? Außerdem habe ich gerade erst das andere coole Buch angefangen.«

»Hast recht. Aber irgendwann und irgendwo werde ich es für dich auftreiben, das musst du nämlich unbedingt gelesen haben.«

»Okay.« Sie lächelte ihn an. Wenn er sagte, dass sie es unbedingt lesen sollte, vertraute sie ihm da voll und ganz. Er kannte sie schließlich besser als jeder andere.

»Okay, sollen wir jetzt nach Hosen für dich suchen?«, fragte Cal, und sie machten sich auf.

Nachdem sie in einen Klamottenladen gegangen waren, wo Jane ein paar Jeans anprobiert und sich für eine dunkelgraue entschieden hatte, sagte Cal: »So gerne ich dir auch beim Shoppen zusehe, muss ich gestehen, dass ich gleich verhungere, J. P. «

»Okay, dann lass uns zum Food Court gehen. Worauf hast du Lust?«

»Sollen wir uns Pommes teilen?«, fragte ihr Kumpel, und sie war sich sicher, dass er das nur vorschlug, weil Pommes die preisgünstigste Mahlzeit waren.

»Ich hab Geld von meiner Mom. Lass uns was Richtiges essen.«

»Das hast du aber für Jeanshosen bekommen, oder nicht?«

»Ja, schon. Aber die Jeans, die ich eben bei TJ Maxx gekauft hab, war reduziert und hat nur fünfzehn Dollar gekostet. Ich finde bestimmt noch eine zweite im Angebot.«

»Alles klar. Ich helfe dir suchen, wenn ich dafür einen Burrito bekomme«, bot Cal an.

»Burritos also – abgemacht!«

Sie gingen zu Taco Bell und bestellten sich zwei 7 Layer Burritos, ein paar Cheese Roll Ups für einen Dollar das Stück und Chips mit Salsa. Dazu nahmen sie einen Becher Mountain Dew, den sie sich teilten. Sie suchten sich einen Ecktisch, stellten das Tablett zwischen sich und langten zu.

»Was hat deine Mom eigentlich zu dem blauen Auge gesagt?«, erkundigte Jane sich mit vollem Mund.

»Noch gar nichts. Sie hat mich nämlich noch überhaupt nicht gesehen. Heute Morgen zumindest hat sie mich gar nicht wahrgenommen, als ich sie vom Flur aus gegrüßt hab. Sie war wohl einfach zu müde.«

»Oh Shit. Und was willst du ihr erzählen, wie das zustande gekommen ist?«

»Ich bin beim Fahrradfahren mit dem Gesicht in einen Ast reingefahren, der von einem Baum direkt in die Straße hing«, sagte er und hob die Schultern.

»Keine üble Story. Glaubst du, sie nimmt es dir ab?«

»Keine Ahnung.« Er legte seinen Burrito aufs Einwickelpapier und sah auf einmal ganz betrübt aus. »Ehrlich gesagt glaube ich, dass es ihr ziemlich egal sein wird. Sie wird sicher nur froh sein, dass keine Arztrechnungen zu bezahlen sind.«

Jetzt wurde auch Jane ernst. »Soweit hätte es aber kommen können, weißt du? Jeremy hätte dir richtig was brechen können.« Sie dachte daran zurück, wie er über ihm gestanden und auf ihn eingeschlagen hatte, ohne jedes Mitgefühl.

»Ja, ich weiß.«

Sie schwiegen eine Minute, dann sagte Cal: »Danke, dass du gleich da warst.«

»Natürlich, Cal. Zum Glück hab ich mitbekommen, dass da was abging.«

Cal nickte, nahm seinen Burrito wieder in die Hände und biss ab. »Das ist wirklich lecker«, sagte er.

»Finde ich auch.«

»Ich bin echt froh, dich zu haben, Jane.«

Sie blickte auf. So nannte er sie sonst nie.

»Ich bin auch froh, dich zu haben, Cal. Du bist der beste Freund, den man sich wünschen kann.«

Bildete sie es sich nur ein, oder sah Cal plötzlich wieder traurig aus?

Einen Moment später lächelte er aber schon wieder und meinte: »Isst du deinen Cheese Roll Up noch?« Er deutete auf die eingerollte Tortilla, in deren Mitte sich himmlischer geschmolzener Käse befand. Sie schob Cal ihren letzten rüber und erntete ein breites, dankbares Lächeln.

Oh, Cal, dachte sie. Wenn du dich über einen Ein-Dollar-Roll-Up so freust, muss es wirklich schlimm um dich stehen. Sie nahm sich vor, ihm von nun an immer auch etwas zu essen mit zur Schule zu nehmen und ihn öfter mal zum Dinner zu sich nach Hause einzuladen. Ihre Mom hätte bestimmt nichts dagegen. Nur ob sie die Story mit dem Ast und dem blauen Auge glauben würde? Vielleicht sollten sie lieber noch eine Weile warten, bis es etwas abgeschwollen war.

Sie lächelte zurück. Ja, Cal war wirklich der beste Freund, den man haben konnte. Er war immer für sie da, sogar an richtig miesen Tagen, er urteilte nie über sie, fragte sie nicht aus, wenn sie über ein Thema nicht reden wollte, er lieh ihr die spannendsten Bücher, trug Schwarz mit ihr und sah sie nie mit diesem mitleidigen Blick an, den sie abgrundtief verabscheute. Er sah sie, wie sie wirklich war. Sah in ihre Seele, und wenn er nur genau hinschaute, konnte er sich selbst dort drin erkennen, denn er war längst zu einem bedeutenden Teil von ihr geworden.

Niemals wollte sie mehr ohne ihn sein. Sie konnte sich überhaupt keinen Tag ohne Cal vorstellen.

»Na, was ist?«, fragte er nun. »Wollen wir weiter nach Jeans suchen?«

Sie standen auf, brachten ihr leeres Tablett weg, und Cal hielt ihr seine Hand hin, in die sie ihre legte, als wäre es das Normalste der Welt. Sie waren wirklich die besten Freunde, die allerbesten, und das durfte ruhig jeder wissen.