Kapitel 17

Amanda

Ihre Mutter war völlig aus dem Häuschen gewesen, als sie ihr bei ihrem heutigen Lunch-Treffen erzählt hatte, dass sie sich nicht nur Informationsmaterial einer Therapiegruppe besorgt hatte, sondern sogar vorhatte, heute Abend zu einem der Treffen zu gehen. Da ihr Vater wieder einmal aufs Meer hinausgefahren war und ihre Mom keines seiner gesunden Gerichte kochen musste, hatten sich die beiden Frauen spontan dazu entschlossen, in der neuen Pizzeria essen zu gehen, die Amanda noch nicht kannte. Sie hatten sich bei einer köstlichen Pizza mit Meeresfrüchten und einem Glas Rotwein erzählt, was die Woche so mit sich gebracht hatte, und Amanda war wieder einmal nur mit der halben Wahrheit herausgerückt. Dass sie sich vor zwei Tagen mit Jane gestritten hatte, weil sie vergessen hatte, ihr neues Shampoo zu besorgen, und sie seitdem nicht mehr miteinander sprachen, ließ sie weg. Auch, dass sie am Sonntag nicht in der Lage gewesen war, ihre Mitarbeiter voll zu entlohnen, behielt sie selbstverständlich für sich. Es hatte ihr schrecklich leidgetan, ihren Leuten mitzuteilen, dass sie knapp bei Kasse war und sie bitten zu müssen, von nun an nur noch an fünf Tagen die Woche zu kommen, im Wechsel natürlich. Es sollten schon immer zehn bis zwölf Helfer am Tag da sein, sonst würden sie am Abend nicht genug geerntet haben, und die Lieferanten könnten nicht die gesamte Ladung abholen. Sie fühlte sich furchtbar, ihren guten Ar beitern zu sagen, dass sie versuchen sollten, ein wenig schneller zu pflücken, denn das hatte sie nie gewollt, dieses Akkordpflücken, doch gerade ging es einfach nicht anders.

Sie hatten es verstanden. Sie hatten ihr versichert, dass sie es auch so schaffen würden, dass sie ihr treu bleiben, dass die Zeiten bestimmt wieder besser werden würden. Sie hatten sich mit achtzig Prozent ihres Lohns zufriedengegeben und ihr gesagt, dass sie sich für die restlichen zwanzig Zeit lassen konnte, bis die Wirtschaft sich erholt hatte. Doch sie hatte es in ihren Gesichtern gesehen. Sie waren besorgt, enttäuscht, einige von ihnen sogar sauer, besonders Chino, der aber wie alle anderen sein Geld nahm und sich verabschiedete. Sie konnte nur hoffen, nicht für immer. Doch am nächsten Tag war er wieder da gewesen und am Mittwoch auch wieder. Und das war auch der Tag gewesen, an dem sie sich endlich mit Sergio zusammengesetzt und ihm von ihrer Idee erzählt hatte.

»Wir könnten groß Werbung dafür machen, ich glaube fest daran, dass wir viele Familien anlocken könnten, besonders an den Wochenenden und später in den Sommerferien.« Die begannen Anfang Juni.

»Aber Señora Parker, geht das denn so einfach? Wo sollen die Leute denn pflücken? Mitten auf dem Feld zwischen uns Arbeitern?«

»Nein, nein. Ich habe mich bereits erkundigt und sogar schon die Anträge gestellt, um eine Genehmigung zu erhalten. Wir müssten dafür einen extra Bereich einrichten, ihn vom Rest der Farm abtrennen. Ich dachte mir, dass wir gleich hier neben dem Haupthaus einen solchen Bereich bilden könnten. Wir könnten Körbe an die Besucher verteilen, in die sie direkt hineinpflücken. Am Ende wiegen wir die Erdbeeren ab und berechnen pro Pfund vier bis fünf Dollar. Das ist zumindest der Preis, den ich bei den meisten anderen Bio-Farmen gesehen habe.« Sie war in den letzten Tagen herumgefahren und hatte sich umgesehen, hatte alles ausgerechnet, war zum Amt für Agrarwirtschaft gefahren und hatte sich über die nötigen Vorkehrungen informiert. Dabei hatte sie herausgefunden, dass sie zum Beispiel einen Besucherparkplatz und Gästetoiletten benötigte, was sich aber alles irgendwie einrichten ließ. Sie hatte an kaum etwas anderes mehr denken können, weshalb sie dann leider auch versäumt hatte, Dinge wie neues Shampoo, Joghurt oder Tiefkühlpommes zu besorgen, die Jane so gerne aß. Allerdings fand sie, dass ihre Tochter sich gar nicht zu beschweren brauchte, immerhin war sie alt genug und konnte den Einkauf ja auch mal übernehmen.

Sergio hatte sie lange angesehen, bevor er etwas erwidert hatte. Dann jedoch hatte sein Mund sich zu einem Lächeln verzogen, und er hatte gesagt: »Das könnte funktionieren. Wir müssten bei all der Konkurrenz nur besonders auf uns aufmerksam machen. Vielleicht könnten wir die Besucher mit irgendetwas anlocken, was sonst keiner anbietet.«

Sie freute sich richtig, dass ihr Vorarbeiter genau wie sie Blut leckte. »Hast du eine Idee?«

»Hmmm … Was mögen Kinder?«

Sie überlegte. »Streichelzoos, Zuckerwatte, Eiscreme …« Sie hatte tatsächlich eine Farm mit einem kleinen Streichelzoo entdeckt, und dann hatte sie gesehen, dass die meisten der Pick-your-own-Farmen sogar Eintritt verlangten, nur damit man zum Pflücken auf die Farm durfte. Allerdings hatten die dann auch so tolle andere Dinge im Angebot, wovon sie selbst noch weit entfernt war. Deshalb würde sie auf ein Eintrittsgeld verzichten, zumindest zu Beginn.

Bei dem letzten Wort nickte Sergio euphorisch. »Eiscreme mit frischen Erdbeeren.«

Sie war sich zwar sicher, dass auch andere Farmen das anboten, doch der Vorschlag gefiel ihr. Sie wusste zwar noch nicht, wie sie das bewerkstelligen sollte, vor allem, weil sie natürlich keinen Softeisautomaten oder Ähnliches hatte und so etwas sicher nicht kostengünstig war, doch der Ansatz war super. Da könnte man bestimmt was draus machen.

Sie begannen zu planen und hatten am Ende des Tages die Beete neben dem Haupthaus – ca. in der Größe eines Fußballfeldes – abgetrennt. Glücklicherweise nahmen ihre Pflücker sich immer erst die hinteren Felder vor, ehe sie sich nach vorne arbeiteten, und so waren diese Beete noch prall gefüll t.

Sie lächelte zufrieden. Jetzt brauchte sie nur noch die Genehmigung, zwanzig Parkplätze, wofür sich die alte ungenutzte Rasenfläche auf der anderen Seite des Hauses eignete, Gästetoiletten, die sie einfach von den Arbeitertoiletten abzweigen würde, ein paar weitere schöne Ideen, zwei oder drei Schilder und ein bisschen Hilfe, dann würde sie das Ding schon schaukeln.

Als sie jetzt beim Mittagessen ihrer Mutter davon erzählte, war diese gleich begeistert und bot ihre Unterstützung an.

»Danke, Mom, ich werde bestimmt darauf zurückkommen.«

»Ich finde es gut, dass du das nun auch anbieten möchtest. In der Hinsicht muss man sich wohl einfach anpassen, wenn man mit den anderen mithalten will.«

Besser hätte sie es selbst nicht ausdrücken können. Sie trank einen Schluck Wein, der ihr guttat und der bewirkte, dass sie nicht mehr ganz so nervös war wegen des Treffens am Abend. Das war noch fünfeinhalb Stunden hin, und sie wünschte, es wäre nicht mehr so lang, denn sie befürchtete, dass sie einen Rückzieher machen könnte.

Sie erkundigte sich nun nach ihren Schwestern, mit denen ihre Mom beinahe täglich kommunizierte. Myra lebte in Toronto, nachdem sie vor einigen Jahren einen Kanadier namens Bobby kennengelernt und sich hoffnungslos in ihn verliebt hatte. Ihre jüngste Schwester Ella war aus beruflichen Gründen nach New York gezogen.

Ihre Mutter lachte. »Myra hat mir gestern Abend erzählt, ihr Bauch sei jetzt schon so dick, dass sie sich fühlt wie ein runder Luftballon, und dass sie überhaupt nichts mehr selbst schafft. Bobby muss ihr die Schuhe anziehen, den Haushalt erledigen und fünfmal am Tag für sie kochen, weil sie ständig Appetit verspürt.«

Amanda erinnerte sich an ihre eigene Schwangerschaft vor sechzehn Jahren zurück. Sie hatte damals einen rege lrechten Heißhunger auf alles Frittierte gehabt. Vor allem Zwiebelringe hätte sie tonnenweise verdrücken können, und der arme Tom musste dann nachts die Auswirkungen ihres Bläh bauchs ertragen. Sie musste lächeln. Es war so lange her.

»Und Ella ist viel beschäftigt wie immer«, fuhr ihre Mutter fort. »Sie hat vor, demnächst eine dritte Filiale aufzumachen.«

»Oh, wow. Das wusste ich noch nicht.« Sie hatte zwar auch Kontakt zu ihren Schwestern, skypte aber höchstens alle zwei Wochen mal mit ihnen. Sie war ja selbst viel beschäftigt. Doch sie freute sich für Ella, die so erfolgreich mit ihren eigenen Läden für Hundebedarf war. Sie verkaufte die verrücktesten Spielzeuge, die süßesten Jäckchen und das köstlichste Hundefutter, das hatte sie zumindest von Ella ge hört und es auf Fotos gesehen. Ob ihre neun Jahre jüngere und schon immer etwas flippige Schwester den Geschmack des Hundefutters beurteilen konnte, weil sie es selbst probiert hatte, wusste sie nicht, konnte es sich aber gut vorstellen.

Ella und Myra waren damals ihre Brautjungfern gewesen am wohl schönsten Tag ihres Lebens, an dem ihr Traummann sie zur Frau nahm. Wieder musste sie lächeln, als sie daran zurückdachte, doch kurz darauf seufzte sie schwer. Die Erinnerungen taten einfach noch immer zu sehr weh.

»Ich finde es richtig, dass du dir endlich Hilfe gesucht hast, mein Kind«, hörte sie ihre Mutter sagen und riss sich aus ihren Gedanken.

»Ja, vielleicht. Ich sage dir jetzt aber, was ich auch schon Sally gesagt habe. Ich gehe da heute Abend hin und schaue mir an, ob es was für mich ist. Wenn ich aber feststelle, dass es das nicht ist, werde ich es bei dem einen Mal belassen, und ich möchte, dass ihr das dann auch akzeptiert.« Erwartungsvoll sah sie ihre Mutter an, die sogleich nickte.

»Ja, natürlich. Aber wenigstens gibst du dir endlich einen Ruck und gehst einen Schritt in die richtige Richtung.«

Na, wenn ihre Mutter meinte … Etwas Ähnliches hatte auch Sally gesagt, als sie am Sonntagabend bei ihr gegessen hatte, ohne Jane natürlich. Sie selbst war sich da noch nicht so sicher.

Nach dem Lunch, zu dem ihre Mom sie Gott sei Dank einlud, fragte diese, ob sie noch mit zu ihr kommen oder ob sie etwas mit ihr unternehmen wolle. Doch Amanda sagte, dass sie noch ein paar Besorgungen zu machen hatte, verabschiedete sich, fuhr zur Drogerie, kaufte Damen-Einwegrasierer, Rasiergel, eine wohlduftende Bodylotion, ein Haarfärbemittel – von allem die günstigste Marke –, das teure Shampoo für Jane und eine Tüte ihrer Lieblingschips als Friedensangebot. Dann fuhr sie zurück zur Farm und nahm das Geld aus dem Topf am Stand, der als Kasse diente. Wenn sie unterwegs war, ließ sie meistens ein paar Schalen Erdbeeren auf dem Tisch stehen und vertraute darauf, dass ehrliche Kunden, die sie mitnahmen, auch dafür bezahlten. In dem Topf waren acht Dollar, zwei Schalen fehlten – das passte. Acht Dollar waren nicht viel, aber damit hatte sie zumindest das Geld für die Haarfarbe wieder, die sie so dringend nötig hatte. Die grauen Ansätze waren nämlich nicht mehr zu übersehen.

Sie beschloss, sich für eine Weile mit aufs Feld zu stellen, um Erdbeeren zu pflücken. Das tat sie sonst nicht, und sie merkte, wie besorgt ihre Erntehelfer sie ansahen, doch jede gepflückte Beere war von Bedeutung. Nach zwei Stunden tat ihr der Rücken weh, und sie empfand große Empathie für ihre fleißigen und immer bemühten Pflücker. Sie ging ins Haus und holte ihnen frische Limonade. Dann verbarrikadierte sie sich im Bad und schloss die Tür ab. Es war zwar außer ihr keiner da, doch Jane brachte manchmal unangekündigt Calvin mit nach Hause, und es musste ja nicht sein, dass er sie beim Beinerasieren ertappte. Das tat sie nämlich jetzt, während sie die Haarfarbe einwirken ließ. Sie hatte sich viel zu lange nicht um ihr Aussehen gekümmert, nicht nur ihre Haare bedurften Zuwendung, ihre Beine sahen aus wie die eines Grizzlybären, und unter den Achseln wucherten richtige Dschungel. Doch an diesem Abend, an dem sie endlich mal wieder unter Leute ging, wollte sie sich wenigstens auch wieder wie ein Mensch fühlen.

Als sie um sieben Minuten vor sieben vor dem Gemeindehaus stand, überkam sie ein Gefühl von Angst und Übelkeit. Wie war sie nur darauf gekommen, hier mitmachen zu wollen? Sich einer Gruppe anschließen zu wollen, in der von nichts als dem Tod gesprochen wurde? Eine schlechte Idee, eine ganz schlechte Idee.

Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück zum Wagen. Doch sie stieg nicht ein. Den Schlüssel in der Hand, schaffte sie es nicht, ihn ins Schloss zu stecken.

Wenn sie es jetzt nicht wagte, würde sie es niemals tun, wusste sie. Und deshalb nahm sie all ihren Mut zusammen, atmete ein paarmal tief durch und ging zur Eingangstür des Backsteingebäudes. Doch dann war es ihr unmöglich, die Schwingtür aufzudrücken, und sie legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und betete zum lieben Gott, dass er ihr die Kraft schenken möge einzutreten.

Sie fokussierte wieder die Tür, biss sich auf die Unterlippe und überwand sich selbst. Und dann war es ganz anders, als sie gedacht hatte …

Sofort, als sie das Zimmer Nummer fünf betrat, fühlte sie sich willkommen. Eine große Frau namens Kelly kam auf sie zu und begrüßte sie. Sie stellte sich als Leiterin der Gruppe vor und sagte ihr, sie freue sich, dass sie heute zu ihnen gefunden hatte. Dann kamen noch ein paar andere Leute auf sie zu, Menschen jedes Alters, und sie konnte spüren, dass sie alle waren wie sie. Sie konnte in den Augen jedes Einzelnen denselben Schmerz sehen, den sie beim Blick in den Spiegel sah.

Nach und nach setzten sie sich in den Kreis, und dann sagte Kelly, dass sie beginnen wollten. Amanda nahm zwischen einem älteren Mann südländischer Herkunft und einer Frau mittleren Alters Platz. Zwei Stühle waren noch frei, doch keine Minute später betrat noch jemand den Raum und setzte sich. Er lächelte in die Runde, und Amanda blieb das Herz stehen.