Kapitel 21
Samantha
Sie saß an dem Fenstertisch im Stardust Diner und hatte einen eigenen großen Teller Cheese Fries vor sich stehen, mit extra Jalapeños. Dazu einen leckeren Erdbeermilchshake. Und Jeremy saß neben ihr und lächelte sie an, während sie sich eine himmlische Fritte nach der anderen in den Mund steckte.
Und das Beste: Das alles war kein Traum!
Wie oft hatte sie davon geträumt, sie selbst sein zu dürfen, mal nicht auf Kalorien achten zu müssen und von Jeremy dafür auch noch das Okay zu bekommen. Wie oft hatte sie in den vergangenen neun Tagen davon geträumt, wieder mit ihren Freunden an einem Tisch zu sitzen, zu reden und zu lachen. Und jetzt war es wahr geworden – und selbst wenn sie sich in den Arm zwickte, wachte sie nicht auf.
Gegen Mittag hatte es an der Tür geklingelt. Wie jeden Tag der Woche war sie schwer aus dem Bett gekommen, und an diesem Sonntag hatte sie sogar noch um halb eins versteckt unter ihrer Decke gelegen und sich im Selbstmitleid gesuhlt. Als das Klingeln nicht aufgehört hatte, war sie selbst zur Tür gegangen. Von Astor und ihrem Dad keine Spur, wahrscheinlich unternahmen sie wieder irgendwas Nettes zusammen, Astor musste man immer beschäftigen, sie liebte es, sich draußen aufzuhalten. Sam dagegen hätte ihr Zimmer am liebsten nie wieder verlassen.
Doch als sie jetzt die Tür öffnete, stand Jeremy davor. Mit einem Lächeln im Gesicht und einem Blumenstrauß in der Hand.
Weiße Rosen, die liebte sie.
Im ersten Moment wusste sie nicht, was sie empfinden sollte. Scham, weil sie noch im Pyjama war und sich nicht einmal die Haare gekämmt, die Zähne geputzt oder das Gesicht gewaschen hatte? Wut, weil Jeremy sie die letzten neun Tage wie Dreck behandelt hatte und jetzt einfach hier auftauchte, als wäre nichts gewesen? Verwirrung – denn, warum war er überhaupt hier aufgetaucht? Erleichterung, weil ihre Beziehung vielleicht doch noch zu retten war? Hoffnung, weil sie ihr altes Leben womöglich wieder zurückbekommen würde? Oder einfach nur Freude, weil Jeremy mit den Blumen dastand und dabei so unglaublich gut aussah?
Weil er da war.
»Jeremy. Was machst du denn hier?«, fragte sie vorsichtig.
»Ich wollte dich besuchen. Fragen, ob du heute schon was vorhast. Und …« Er versuchte, einen Blick ins Haus zu werfen. »Bist du allein?«
Kurz kamen fiese Erinnerungen hoch. Wollte er etwa wieder allein mit ihr sein, weil …
»Keine Sorge, ich will nur reden«, nahm er ihr schnell ihre Bedenken.
Sie hielt ihm die Tür auf und ließ ihn eintreten. Verwuschelt, wie sie war, bat sie ihn ins Wohnzimmer und sagte ihm, dass er sich setzen könne, wohin er mochte. In ihr Zimmer jedoch würde sie ihn nicht bringen. Was auch immer er wollte, so schnell würde sie nicht vergessen, was er getan hatte. So einfach konnte sie ihm nicht verzeihen.
Er setzte sich auf einen der beiden Sessel. Sie waren braun und sollten unbedingt mal durch neue ersetzt werden. Aber das war jetzt nebensächlich.
»Worüber willst du mit mir reden?«, fragte sie und setzte sich auf die Lehne des anderen Sessels, der auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches stand, ganz weit von Jeremy entfernt.
»Ich möchte mich entschuldigen. Es tut mir ehrlich leid, wie ich mich verhalten und dich die Woche über behandelt habe. Ich war wohl in meinem Stolz verletzt.« Er machte eine Pause und sah ihr in die Augen. »Kannst du mir verzeihen?«
Jetzt war sie ehrlich überrascht. Soweit sie sich zurückerinnern konnte, hatte Jeremy sich noch nie auf diese Weise entschuldigt. Bei irgendwem. Er hatte vielleicht mal ein »Sorry« ausgerufen, wenn er jemanden angerempelt oder sich bei einem Date verspätet hatte, das war’s aber auch schon gewesen.
Sie wusste, wenn sie ihm jetzt ein »Nein« als Antwort geben würde, hätte sie ihre Chance auf ein Wiederaufleben ihrer Beziehung für immer vertan. Also sah sie ihn lange an, nickte dann und sagte: »Ich verzeihe dir.«
»Danke.«
»Ich kann aber nicht so einfach vergessen, was du letzten Freitag … wie du dich mir gegenüber verhalten hast.«
»Wird nicht wieder vorkommen«, stellte er klar und machte mit einem Blick deutlich, dass sie nicht länger darauf herumhacken sollte.
»Okay.«
Er lächelte breit, stand dann auf und kam auf sie zu. »Schön, dass wir wieder zusammen sind. Ich hab dich vermisst.«
Hatte sie eine Wahl? Wollte sie irgendetwas anderes, als das Mädchen an der Seite dieses Jungen zu sein?
»Ich hab dich auch vermisst«, sagte sie und ließ sich von ihm küssen. Und da merkte sie erst, wie sehr ihr das alles wirklich gefehlt hatte. Jeremy, seine Küsse, mit ihm zusammen zu sein. Er war der eine Mensch in ihrem Leben, der immer da war. Seit zwei Jahren immer da war.
»Kommst du mit ins Kino? Gareth und Zoey haben gefragt, ob wir mitwollen. Oder hast du schon was anderes vor?«
Außer Lernen und Weinen hatte sie nichts geplant. Das Letztere fiel ja nun glücklicherweise weg, und das Lernen konnte warten.
»Kino klingt perfekt. Ich geh mich schnell fertig machen, ja?«
Jeremy nickte zufrieden. »Ich warte.«
Sie blieb noch einen Moment stehen, wollte ihm sagen, dass es nicht wieder so sein konnte wie vorher. Dass sie noch immer nicht bereit war und dass er das akzeptieren musste. Dass er sie nicht immer bevormunden sollte, weil sie ein eigenständiger Mensch mit einer eigenen Persönlichkeit war. Letztendlich sagte sie aber doch nichts, um die neu gewonnene und noch immer ziemlich zerbrechliche Harmonie nicht gleich wieder zu zerstören.
So schnell sie konnte lief sie in ihr Zimmer, schlüpfte in eine Jeans und Jeremys Lieblingsbluse, die das gleiche Türkis hatte wie ihre Augen, kämmte sich das Haar und ließ es sich offen über die Schultern fallen, so, wie Jeremy es am liebsten hatte. Im Bad putzte sie sich schnell noch die Zähne und schminkte sich gekonnt innerhalb weniger Minuten, und schon war sie bereit.
Jeremy wartete im Flur auf sie und hielt ihr mit einem Funkeln in den Augen eine Hand hin, in die sie ihre legte. Und dann machten sie sich auf zum Kino.
Im Kino saßen sie in der hintersten Reihe. Und während Gareth und Zoey wild herumknutschten und ihre Hände überall hatten, gab Jeremy sich mit einigen harmlosen Küssen zufrieden. Sam war erleichtert und hatte Hoffnung, dass nun alles besser werden würde.
Als sie danach in den Diner gegangen waren und Jeremy sie gefragt hatte, ob er für sie Cheese Fries bestellen sollte, hatte sie freudig genickt und auch noch einen Milchshake zur Bestellung hinzugefügt, nur um zu sehen, ob Jeremy daran etwas auszusetzen hatte. Doch er hatte gar nichts entgegnet und ihr auch keinen eindeutigen Blick zugeworfen wie sonst. Ein Blick, der aussagte: »Willst du das wirklich? Denk dran, dass du morgen noch in dein Cheerleading-Outfit passen musst. Denk dran, dass ich nur sehr schlanke Mädchen mag.«
Und hier saßen sie nun, und alles fühlte sich an wie immer, nur ein bisschen besser. Sie lachten über irgendwelche dummen Witze, die Gareth riss und hörten sich eine erstaunliche Geschichte an, die Zoey über ihre Nachbarn erzählte, bei denen die Polizei angerückt war, weil sie anscheinend auf einem angrenzenden Feld Mohn anbauten, aus dem sie Heroin herstellten.
»Na toll, da hattest du die beste Connection gleich nebenan und hast nicht mal was davon gewusst«, sagte Jeremy lachend und kopfschüttelnd, und Sam wusste nicht, ob er nur Spaß machte oder es ernst meinte.
Doch ihr war gerade alles egal. Sie genoss es einfach nur, nicht mehr ausgeschlossen zu werden. Dazu genoss sie ihre Cheese Fries, die so unglaublich gut schmeckten – vielleicht war es aber auch nur das Gefühl von Geborgenheit, das sie so wunderbar köstlich machten. Geborgen sein und geliebt werden, waren das nicht die Dinge, die jeder Mensch am meisten brauchte?
Am Montag in der Schule legte Jeremy wie früher einen Arm um ihre Schultern, als sie zusammen den Schulflur entlanggingen. Niemand wagte mehr, Sam schief anzusehen. Alle waren wieder nett zu ihr, immerhin war sie wieder mit Jeremy Blunt zusammen, dem Star des Lacrosse-Teams – jeder konnte es sehen. Und sie war stolz wie nie. Glücklich, erleichtert, ja, eine ganze Ladung an Sorgen war ihr von den Schultern gefallen.
Am Abend zuvor, als sie freudestrahlend nach Hause gekommen war, hatte ihr Dad, dem sie lediglich eine Nachricht geschickt hatte, um ihm mitzuteilen, dass sie ins Kino ging, sie neugierig betrachtet.
»Alles wieder in Ordnung mit Jeremy?«, hatte er sie gefragt, und sie hatte genickt und gesagt, dass alles wieder gut war. Sie war nur froh, dass sie ihm nichts von dem Vorfall bei Jeremy und der Trennung erzählt hatte, denn dann hätte er sich sicher nicht so für sie gefreut. Manchmal war es klüger, Dinge für sich zu behalten. So schützte man sich am besten.
Als sie sich in der Mittagspause zum ersten Mal nach einer Woche wieder zu den anderen an den Tisch setzte, war es fast, als wäre nie etwas geschehen. Als hätte sich alles nur in ihrer Einbildung abgespielt oder wäre ein böser Traum gewesen, aus dem sie jetzt erwacht war. Cassidy und Holly redeten mit ihr, als hätten sie es an jedem anderen Tag auch so gemacht, und die Jungs sahen in ihr einfach nur die Freundin ihres Anführers. Doch eine Person sah sie anders an als sonst, und das war Tammy. In ihren Augen entdeckte Sam etwas, das vorher nicht da gewesen war. Wenn sie es doch nur deuten könnte.