Kapitel 22
Carter
»Ach, du meine Güte, das soll ich sein?«, fragte er gespielt schockiert und schlug sich die Hände vors Gesicht.
Astor begann zu gackern. »So siehst du nun mal aus, Daddy. Ich kann doch nicht Prince Charming zeichnen, wenn die Aufgabe ist, meinen Vater bildlich darzustellen.«
Na, das war ja eine tolle Aufgabe, dachte er. Was hatte sich Astors Klassenlehrerin da nur wieder einfallen lassen? Herausgekommen war zumindest eine Figur mit einem doppelt so dicken Bauch, wie er ihn hatte, überdimensional großen Ohren und einem Lächeln, das dem von Ernie aus der Sesamstraße glich.
»Okay, Daddy. Jetzt muss ich dir noch ein paar Fragen stellen.«
»Wozu soll das Ganze noch mal gut sein?«, hakte er nach.
»Es geht um unsere Familiengeschichte. Wir müssen einen Elternteil beschreiben. Oder auch beide, ich will aber nur dich beschreiben. Und dann müssen wir bald auch noch einen Stammbaum anfertigen.«
Etwas, das Astor gesagt hatte, hatte ihn aufhorchen lassen.
»Weshalb willst du denn deine Mom nicht beschreiben, Süße?«, erkundigte er sich so behutsam wie möglich.
»Weil sie doch nicht mehr da ist. Ich kann ihr doch gar keine Fragen stellen.«
»Ich könnte sie dir beantworten.«
Astor kaute auf ihrem Bleistiftende herum. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich kann sie auch nicht zeichnen.«
»Du könntest sie von einem Foto abzeichnen.«
»Die Fotos sind aber alle alt. Wir wissen nicht, wie sie heute aussehen würde«, sagte seine kleine, viel zu schlaue Tochter. Und sie hatte recht. Jodie könnte zwanzig Kilo zugenommen, ihr blondes Haar rot gefärbt oder sich tätowieren lassen haben. Niemand konnte das wissen. Drei Jahre konnten einen Menschen völlig verändern, das wussten sie beide nur zu gut.
»Ach, ich glaube, so genau nimmt Mrs. Roth das nicht. Ich meine, sieh mich doch an! Ich sehe auf deinem Bild nicht halb so gut aus wie in echt«, wagte er noch einen letzten Versuch und gab sich Mühe, diesen scherzhaft rüberzubringen.
Astor kicherte wieder. »Oh, Daddy. Ich glaube, du bildest dir ein bisschen zu viel auf dein Aussehen ein.«
Er musste ebenfalls lachen und zuckte mit den Schultern. Dann stand er auf und ging zum Kühlschrank. »Möchtest du auch eine Schokomilch?«
»Haben wir keine Erdbeermilch?«, fragte sie.
Bei dem Wort Erdbeeren musste er wieder an sie denken. Wenn sie nicht gelogen hatte, würde er sie in nur zwei Stunden wiedersehen. Doch es hatten schon viele gesagt, dass sie wiederkommen würden und hatten es nicht getan. Allerdings war es diesmal anders. Denn er wusste zur Not ja, wo er sie finden konnte.
»Leider nicht, ich besorge aber welche. Oder wir machen sie einfach selbst, aus frischen Erdbeeren. Was hältst du denn davon, wenn wir beide am Samstag mal zu einer Farm rausfahren und Erdbeeren selbst pflücken würden?« Er wusste nicht, warum er so nervös wurde, als er die Worte aussprach, doch so war es, und er konnte nichts dran ändern.
»Jaaa, das macht bestimmt voll Spaß.«
»Das glaube ich auch.«
»Wo ist denn die Erdbeerfarm?«
»Gar nicht so weit von hier. Ich war neulich schon mal da.«
»Du hast ohne mich Erdbeeren gepflückt?« Astor wirkte ein wenig beleidigt.
Schnell beruhigte er sie. »Nein, natürlich nicht. Ich habe dort nur frische Erdbeeren gekauft und den leckeren Sirup und die Marmelade auch, erinnerst du dich?«
»Ich erinnere mich nur, dass du gesagt hast, du hast die Sachen an einem Stand gekauft. Ich wusste nicht, dass es eine Farm war.«
»Doch, war es. Und ab Samstag kann man dort auch selbst pflücken. Es findet anscheinend sogar eine große Eröffnungsfeier statt.« Er hatte am Straßenrand ein riesiges buntes Plakat gesehen, und daran hatten ein paar rote und rosafarbene Ballons gehangen.
»Cool. Gibt’s da dann auch noch was anderes als nur Erdbeeren?«
»Lass es uns herausfinden.«
»Okay.« Astor nahm das Glas mit der Schokomilch entgegen und trank es in einem Zug aus. Sie hinterließ einen Schokobart. Carter reichte seiner Kleinen ein Stück Küchenpapier und bedeutete ihr, ihn wegzuwischen. »Können wir dann auch noch mal den leckeren Sirup kaufen?«, fragte sie.
»Klar.«
»Kommt Sam dann auch mit?«
»Das weiß ich nicht. Ich denke aber, eher nicht. Am Samstag ist doch ein Lacrosse-Spiel, oder?« Außerdem hatte sie sich wieder mit Jeremy vertragen und würde ihre Zeit bestimmt lieber mit ihm verbringen wollen. Er musste zugeben, dass er sehr froh war, dass die beiden ihre Probleme aus der Welt geschafft zu haben schienen. Viel länger hätte er sich nicht angucken können, wie sein Liebling litt.
Astor zuckte die Achseln. »Kann sein. Hat diese Frau ihn nicht selbst gemacht?«
»Welche …« Kurz war er verwirrt. Ach, es ging wieder um den Sirup. Astor sprang manchmal von einem Thema zum anderen und wieder zurück, es war nicht immer leicht, ihr zu folgen. »Die Verkäuferin am Stand, meinst du? Die Erdbeerfarmerin?«
»Ja. Du meintest doch, du hast ihr von mir erzählt, oder?«
Er nickte. Astor vergaß nie etwas, das man preisgab. »Also, ja, ich habe dich ihr gegenüber erwähnt. Und am Samstag kannst du sie ja dann persönlich kennenlernen, und ich muss ihr keine Geschichten mehr über dich erzählen.« Ihm fiel ein, dass er das ja auch in der Gruppe getan hatte. Doch er würde seiner kleinen Tochter nicht sagen, dass er die Erdbeerfarmerin auch daher kannte. Das brauchte sie nicht zu wissen, und Amanda gegenüber wäre es unfair, vor allem, da sie ja selbst noch nicht ganz sicher zu sein schien, welchen Weg sie gehen wollte.
»Okay. Hat sie nun?«
»Hat sie was?«
»Den Sirup selbst gemacht?«
»Ich denke schon.«
»Krieg ich noch mehr Schokomilch?«, fragte Astor dann, und er schenkte ihr ein.
»Das ist aber genug für heute. Übrigens passt heute Abend Mrs. Haymond auf dich auf, weil Sam Musikprobe hat. Ich hoffe, das ist okay für dich?«
»Au ja. Mrs. Haymond erzählt die besten Geschichten. Sie war mal in einen jüdischen Jungen verliebt, der ihr weggenommen und in irgendein Lager gesteckt wurde. Sie hat ihn nie wiedergesehen. Dann hat sie, als sie mit ihren Eltern nach Amerika gekommen ist, ihren Mann, Mr. Haymond kennengelernt, und weil ihr Dad nicht mit ihm einverstanden war, sind sie zusammen fortgelaufen und haben heimlich geheiratet.«
Er konnte Astor nur sprachlos anstarren. Das alles hatte Mrs. Haymond ihr erzählt? Er hoffte nur, sie war nicht zu sehr ins Detail gegangen. Vielleicht würde er mal unter vier Augen mit ihr sprechen müssen. Besser früher als später.
Andererseits freute er sich ja, dass die Mädchen so gut mit ihrer älteren Nachbarin auskamen. Zumal sie zu Jodies Mutter überhaupt keinen Kontakt mehr hatten. Seine eigenen Eltern, die heute in Südkalifornien lebten, kamen zwar hin und wieder zu Besuch, doch die verhielten sich mit Ende sechzig keinesfalls so, wie man sich Großeltern vorstellte. Dafür waren sie viel zu jung geblieben. Sein Dad hörte Pink Floyd und CCR, und seine Mom legte ihren Freundinnen die Karten und sagte ihnen die Zukunft voraus. Nein, die beiden waren wirklich nicht die typische Grandma und der typische Grandpa mit weißem Haar und Geschichten aus der Vergangenheit, die sie ihren Enkeln erzählten. Deshalb freute es ihn umso mehr, dass Mrs. Haymond direkt gegenüber wohnte und diese Rolle eingenommen hatte.
Als er Astor also anderthalb Stunden später zu ihr rüberbrachte, versprach er, nicht später als halb zehn wieder zurück zu sein. Astor gab der alten Dame eine stürmische Umarmung, und die beiden verschwanden im Haus. Jetzt hatte er Mrs. Haymond gar nicht gebeten, dass sie Astor keine allzu schrecklichen Geschichten über das Deutschland ihrer Jugend erzählen sollte, doch er hoffte, dass ihr guter Menschenverstand ihr schon sagen würde, wann es zu viel für eine Neunjährige war.
Auf dem Weg überlegte er, wie alt Ilse Haymond wohl sein mochte. Wenn sie sich damals im Zweiten Weltkrieg schon verliebt hatte, musste sie heute um die neunzig sein, oder? Wow, dafür war sie aber noch ziemlich fit, körperlich wie mental. Er hoffte, sie würde ihnen noch eine ganze Weile erhalten bleiben.
Als er auf den Parkplatz vor dem Gemeindezentrum fuhr, sah er einen dunkelroten Ford Explorer einparken – und Amanda saß am Steuer. Er konnte nicht anders, als zu lächeln und parkte gleich neben ihr. Dann stieg er mit pochendem Herzen aus und zwang sich, ihr ganz locker entgegenzutreten.
»Hi, Amanda. Wie schön, dass du tatsächlich wiedergekommen bist.«
Stirnrunzelnd sah sie ihn an. Heute trug sie eine Jeansjacke über einem dunklen Kleid und hatte ihr Haar zu einer Art Schlaufe gedreht.
»Du scheinst überrascht zu sein«, sagte sie. »Hast du etwa nicht geglaubt, dass ich wiederkommen würde?«
»Ich hatte es gehofft«, erwiderte er, und sie lächelten einander an. Gemeinsam gingen sie ins Gebäude. Er hatte das Gefühl, es erklären zu müssen, damit sie nicht dachte, er hätte an ihren Worten gezweifelt. »Versteh mich bitte nicht falsch, ich habe das eben nicht persönlich gemeint. Es ist nur so, dass viele Leute nur ein einziges Mal kommen und wir sie nie wiedersehen.«
»Ich hab schon verstanden. Es ist ja auch nicht leicht, sich seinen eigenen Dämonen zu stellen. Ich habe aber ein wirklich gutes Gefühl bei der Gruppe.« Sie sah ihn auf eine Weise an, die sein Herz schmelzen ließ.
Was machte diese Frau nur mit ihm?
Er wusste nicht genau, warum, aber in diesem Moment fasste er sich mit der Daumenkuppe an seinen Ehering, und irgendwie fühlte es sich falsch an. Nicht das Flirten, oder wie auch immer man das nennen konnte. Nein, zum ersten Mal fühlte es sich falsch an, dass er den Ring noch immer trug. Und er fragte sich, wieso er ihn nicht schon längst abgenommen hatte. Weil er ihn bisher davor geschützt hatte, sich auf etwas Neues einzulassen? Weil er damit jede andere Frau davon abgehalten hatte, sich ihm zu nähern?
Doch Amanda schien kein Problem damit zu haben. Zudem trug sie ja selbst einen Ehering. Zumindest glaubte er, dass es einer war. Doch andererseits war er sich ziemlich sicher, dass auch sie nicht mehr verheiratet war, er spürte es einfach.
Er hielt ihr die Tür auf und sofort wurden sie von den schon Anwesenden begrüßt. Hilda hatte heute Muffins mit Macadamianüssen und weißer Schokolade mitgebracht und verriet Melissa gerade das Rezept. Ahmet baute einen Turm aus Baklava auf, und Belinda unterhielt sich mit einer jungen Frau, die schon länger nicht mehr da gewesen war. Ashley war ihr Name, wenn er sich richtig erinnerte.
Amanda setzte sich auf denselben Platz wie letzte Woche und er sich auf seinen, von wo aus er sie gut im Blick hatte. Auch heute gab sie nichts von sich preis, er dagegen ließ die Gruppe daran teilhaben, wie Astor ihn heute wegen des Schulprojekts mit Fragen gelöchert hatte.
»Sie soll einen Elternteil beschreiben und nimmt es dabei sehr genau. Sie hat mich nach meiner Schuhgröße, meinem Lieblingsgericht als Kind und nach meinem ersten Kuss gefragt. Und wie oft ich im Leben schon verliebt war.« Er senkte den Blick, weil die Antwort darauf ihn selbst noch immer mitnahm. »Ich habe ihr gesagt, dass ich nur ein einziges Mal wirklich verliebt war. In ihre Mom.«
Ein paar in der Gruppe seufzten, Melissa machte »Awww«, und Ahmet sagte: »Die wahre Liebe, es gibt sie nur einmal.«
»Wisst ihr, ich habe Jodie bereits auf der Highschool kennengelernt und war nie mit einer anderen Frau zusammen.« Erst als er die Worte ausgesprochen hatte, begriff er selbst, was sie bedeuteten. Was sie bedeuten könnten. Dass er nie eine andere Frau körperlich geliebt hatte. Und so war es auch gewesen, bis zu Jodies Tod. Danach war er so unglaublich wütend und verzweifelt gewesen, dass er an sehr schlechten Tagen viel zu viel getrunken und sich ein paarmal auch auf einen One-Night-Stand mit irgendeiner Fremden aus der Kneipe eingelassen hatte. Danach hatte er sich jedes Mal schrecklich gefühlt, aber sehr viel mieser hätte er sich eh kaum mehr fühlen können.
Er nahm Amandas Blick wahr, der auf ihm ruhte, und er merkte, wie er errötete. Schnell lachte er und sagte: »Na, wie auch immer, bei uns zu Hause wird es nie langweilig. Was gut ist, denn das lenkt mich von meinen Sorgen ab und davon, zu viel darüber nachzudenken, wie … wie alles so weit kommen konnte.«
Einige der anderen stimmten ihm zu. Sie alle wussten, was er meinte.
»Und Sam … wisst ihr, meine Sam, sie sieht Jodie jeden Tag ähnlicher. Was es nicht gerade leichter macht, sie zu vergessen.«
Jetzt schaltete Kelly sich ein. »Aber Carter, du sollst Jodie doch gar nicht vergessen. Sie ist ein Teil von dir und wird es immer bleiben. Bedenke, dass du Astor und Sam nicht hättest ohne sie.«
»Ja, das stimmt wohl. Und dafür sollte ich dankbar sein.« Er setzte sich aufrecht. »Dafür bin ich dankbar.«
»Das ist schön«, meinte Kelly. »Falls du fertig bist, möchte sich vielleicht noch jemand mitteilen?« Sie sah in die Runde. Als ihr Blick Amanda streifte, rutschte diese unruhig auf ihrem Stuhl herum. Doch dann meldete sich Ahmet und erzählte, wie sehr er seine Tochter vermisste, die in der kommenden Woche Geburtstag hätte, und er konnte Amanda aufatmen sehen.
Eine Stunde später standen sie beide wieder bei einem Becher Kaffee zusammen und wussten nicht so genau, was sie sagen sollten.
»Wie laufen die Vorbereitungen für deinen U-Pick- Bereich?«, fragte er.
Sie lächelte ihn an, ja, sie schien richtig erleichtert, dass die Zeit der tiefgründigen Gespräche vorbei war. »Die laufen wunderbar. Wir sind so gut wie fertig, und ich freue mich schon richtig auf Samstag.«
»Wir freuen uns auch«, ließ er sie wissen.
»Ihr?«
»Astor und ich. Ich habe ihr von der großen Eröffnungsfeier erzählt. Ich hab das Schild am Straßenrand gesehen.«
»Oh. Das hat meine Tochter gemacht. Eigentlich mehrere davon. Wir haben sie überall in der Gegend verteilt und hoffen, viele Vorbeifahrende auf unser Angebot aufmerksam zu machen.«
»Ich drück die Daumen. Also, Astor freut sich schon riesig aufs Erdbeerpflücken.«
Sie lächelte, sagte aber nichts mehr.
Es entstand wieder eine Stille, die er zu füllen versuchte, weil er auf keinen Fall wollte, dass Amanda sich unbehaglich fühlte und ging.
»Darf ich dich etwas fragen?«
Ein wenig ängstlich sah sie ihn an.
»Oh Gott, nichts Schlimmes«, versicherte er ihr. »Ich wollte eigentlich nur wissen, ob du mir ein einfaches Rezept für einen Kuchen verraten kannst.«
»Für einen Kuchen?«
»Ja. Nächste Woche findet da nämlich so ein Kuchenbasar an der Schule meiner Tochter statt, für einen guten Zweck, und jeder soll einen selbst gebackenen Kuchen beisteuern. Das mit dem Kochen bekomme ich inzwischen einigermaßen hin, aber Kuchenbacken ist mir noch immer nicht geheuer. Jedes Mal, wenn ich es versuche, hole ich entweder einen Stein aus dem Ofen heraus oder etwas, das schon bei der leichtesten Berührung auseinanderfällt.«
Sie musste lachen. »Warum fragst du nicht Hilda?«
Das war eine sehr gute Frage …
»Die Meisterbäckerin? Weil ich mich nicht traue?« Er zog eine Grimasse und kratzte sich am Hinterkopf. »Die hält mich für total daneben, wenn ich nicht mal einen einfachen Rührkuchen hinbekomme.«
Amanda grinste. »Ich schreibe dir ein Rezept auf und gebe es dir am Samstag mit, okay? Ein ganz einfaches.« Plötzlich schien sie zu überlegen. »Wann, sagtest du, ist der Kuchenbasar?«
»Ich glaube, ich habe noch gar keinen Tag genannt. Der ist am Dienstag.«
»Kommt mir irgendwie bekannt vor. Wird mit den Einnahmen nicht ein Kinderspielplatz restauriert?«
»Genau.«
»Hmmm … könnte es sein, dass unsere Töchter auf dieselbe Schule gehen?«
»Das könnte gut möglich sein.« Er hatte doch gewusst, dass er sie irgendwo schon mal gesehen hatte. »Sam ist auf der Montgomery High.«
»Meine Jane auch.«
»Was für ein Zufall.«
»Ja, wirklich.«
Eigentlich war es gar kein so großer Zufall, dass ihre Töchter auf dieselbe Highschool gingen, immerhin gab es im Umkreis nur zwei. Doch es war schon ein wenig schräg, dass sie beide Töchter auf der Montgomery High hatten und längst hätten aufeinandertreffen können. Doch das Schicksal hatte seine eigenen Pläne für die Menschen.
»Kommst du denn auch zu dem Basar am Dienstag?«, wollte er wissen.
»Eigentlich hatte ich das nicht vor, weil Jane das bestimmt nicht … ähm, weil ich dann doch gerade erst das Selbstpflücken neu anbiete. Aber womöglich schaffe ich es ja doch. Mal sehen.«
»Ich würde mich freuen«, sagte er, befürchtete aber im selben Moment, es könnte ihr zu viel werden, wenn sie sich am Samstag und am Dienstag und am Donnerstag schon wieder sahen. Er blickte auf die Uhr. »Es tut mir so leid, aber ich muss leider erneut früh los. Heute ist Astor nämlich bei unserer neunzigjährigen Nachbarin, und die ist sicher schon fix und fertig.«
»Kein Problem, ich muss auch los. Es gibt noch viel zu tun.«
»Schön, dass du es heute trotzdem einrichten konntest herzukommen«, sagte er.
Sie lächelten einander an und verabschiedeten sich von den anderen. Hilda gab ihnen noch ein paar Muffins mit, und sie gingen zu ihren Autos.
»Es war nett, dich wiederzusehen«, sagte er, bevor Amanda einstieg.
»Fand ich auch«, erwiderte sie.
»Wir sehen uns am Samstag?«
Sie nickte, setzte sich auf den Fahrersitz, ließ den Motor an und fuhr davon. Carter blieb noch eine Minute stehen und sah ihr nach, dann zwang er sich, auch einzusteigen und nach Hause zu fahren.
Als er bei Mrs. Haymond klingelte, spielten Astor und sie gerade Scrabble. Er gab der alten Dame einen von Hildas Muffins ab und fragte, ob er im Gegenzug fürs Babysitten irgendetwas für sie tun könne.
Sie lächelte ihm zu und schüttelte den Kopf. »Ach, nein, ich mache das doch gerne. Astor und ich haben immer viel Spaß zusammen. Ich freue mich, wenn ich Gesellschaft habe.«
»Am Samstag fahren wir zu einer Erdbeerfarm, wo es ein Fest gibt und wo man selbst pflücken kann. Haben Sie Lust, uns zu begleiten?«, schlug er vor, weil er plötzlich großes Mitleid verspürte.
»Das ist sehr nett, danke schön, aber am Samstag bin ich mit meiner Freundin Mildred zum Bingo verabredet.«
Er lächelte, da er sich wohl völlig grundlos Sorgen gemacht hatte. Mrs. Haymond wusste sich anscheinend zu beschäftigen.
»Alles klar, dann vielleicht ein andermal. Und falls wir uns bis Samstag nicht mehr sehen: Viel Spaß beim Bingo!«
»Danke, mein Lieber. Gute Nacht, meine Kleine«, verabschiedete sie sich von Astor.
»Gute Nacht, Mrs. Haymond.« Astor drückte sie behutsam.
Carter und seine Tochter, die eigentlich längst im Bett hätte sein sollen, überquerten die Straße. »Na, was hat sie dir heute für Geschichten erzählt?«, fragte er beiläufig.
»Sie hat davon erzählt, wie sie im Krieg den Soldaten Pakete an die Front geschickt hat mit leckeren Sachen und selbst gestrickten Socken. Und wie sie daraufhin zwölf Heiratsanträge bekommen hat.«
Er musste lachen. Ach, gute Mrs. Haymond, vielleicht sollte sie ein Buch über all ihre Erlebnisse schreiben. Gutenachtgeschichten für Kinder waren es zwar nicht gerade, aber eine spannende Autobiografie könnte es auf jeden Fall werden.
»Wie war’s heute, Daddy?«
»Es war sehr gut, danke der Nachfrage«, antwortete er und hatte sofort wieder ein Lächeln auf den Lippen, als er an Amanda dachte.
Amanda, die er schon in zwei Tagen wiedersehen würde. Er war gespannt, was Astor von ihr halten würde. Aber was machte er sich eigentlich für Gedanken? Die Frau besaß eine Erdbeerfarm und stellte den besten Erdbeersirup der Welt her – Astor würde sie lieben, anders konnte es gar nicht sein.