Kapitel 29

Carter

März 2018

»Du verstehst das nicht, Carter«, sagte seine Frau und sah ihn mit Augen an, in denen er Scham und Schuld sah, jedoch keine Reue.

»Oh doch, ich verstehe sehr gut«, sagte er. »Du hast dich für den anderen entschieden. Du liebst mich nicht mehr.«

Sie wagte es nicht, ihn anzusehen. Sie saß auf dem Bett, während er davor auf und ab ging, völlig fertig und nicht in der Lage, seine Gefühle zu kontrollieren.

Er war nicht dumm. Schon vor einer Weile hatte er bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Dass Jodie öfter als sonst unterwegs war, zu ihrer Schwester fuhr, sich mit Freundinnen traf, zumindest war es das, was sie ihm sagte. Und zuerst hatte er geglaubt, dass sie einfach ein bisschen Zeit für sich brauchte oder vielleicht auch ein wenig Abstand zu ihm. Dass sie sich darüber klar werden musste, was sie vom Leben noch erwartete.

Für ihn war es immer sonnenklar gewesen, er wollte nichts als seine Familie: Jodie, Sam und Astor, mehr brauchte er nicht zum Glücklichsein. Doch Jodie war schon immer anders gewesen. Der Job als Grundschullehrerin schien sie nicht zu erfüllen, das Kleinstadtleben schien ihr nicht zu gefallen, das hübsche Einfamilienhaus mit dem weißen Zaun, in das sie noch vor Sams Geburt gezogen waren, war nicht der Ort, an dem sie alt werden wollte. Immer hatte er Verständnis aufgebracht, hatte sie ziehen lassen, wenn sie an größere Orte mit mehr Menschen und mehr Action reisen wollte. Allein. Er hatte sie gelassen, die Kinder gehütet und sich nicht ein einziges Mal beklagt. Doch irgendwann schien auch er ihr nicht mehr genug gewesen zu sein.

Und dann hatte er es irgendwann nicht mehr ausgehalten. Als sie eines Morgens unter der Dusche gestanden hatte, hatte er ihr Smartphone in die Hand genommen, und ihm war bewusst geworden, dass er nicht einmal ihren persönlichen Zahlencode kannte, um es zu entsperren. Er hatte es mit ihrem Hochzeitstag und dann mit den Geburtstagen der Mädchen versucht. Schließlich hatte er 2015 eingegeben, das Jahr, in dem sie mit ihrer Schwester nach New York gereist war – »den besten Urlaub ihres Lebens« hatte sie die Woche genannt. Und da war das Handy geöffnet gewesen, und er hatte all die Nachrichten lesen können, die sie mit einem anderen Mann ausgetauscht hatte.

Als sie aus dem Bad gekommen war, hatte er sie mit Tränen in den Augen angesehen. »Wie konntest du uns das antun?«, hatte er gefragt und dabei wie immer zuallererst an Sam und Astor gedacht.

Angewidert hatte sie ihn angestarrt. Nicht ertappt, sondern, als hätte er irgendwas Schlimmes angestellt. Dabei war sie doch diejenige, die ihn betrog seit – wer weiß, wie lange schon!

»Du durchsuchst mein Handy?«, hatte sie ihn ange schrien.

»Du betrügst mich mit einem anderen?«, hatte er die Gegenfrage gestellt.

Und alles, was sie geantwortet hatte, war: »Ja.«

Tja, und nun, ein paar Wochen später, waren sie wieder in ihrem Schlafzimmer, und er versuchte, ihre Ehe, ihre Familie, ihre gemeinsame Zukunft zu retten.

Doch sie saß einfach nur da und starrte auf den Boden.

»Du verstehst das nicht«, sagte sie noch einmal.

»Nein, Jodie. Das tue ich nicht, ehrlich nicht. Ich verstehe nicht, was dir in unserer Beziehung fehlt. Ich habe wirklich immer geglaubt, dass wir glücklich wären.«

»Ich bin aber nicht glücklich, Carter«, antwortete sie.

»Dann sag mir, was ich tun kann, um das zu ändern.« Er ging vor ihr auf die Knie und legte seine Hände flehend in ihren Schoß. »Jodie, bitte, sag mir, wie wir das wieder hinbekommen können. Wir sind eine Familie, das kann dir doch nicht egal sein. Du kannst das alles doch nicht einfach so wegwerfen wollen.«

Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Stattdessen starrte sie zum Fenster und sagte: »Ich weiß nicht, ob wir es wieder hinbekommen können. Du verstehst einfach nicht, was ich brauche.«

Wenn sie ihm noch einmal sagte, dass er sie nicht verstand, würde er durchdrehen!

»Dann sag es mir! So sag es mir doch!«

Sie schüttelte den Kopf und stand vom Bett auf. »Ich kann nicht. Ich weiß nicht … was ich will. Ich muss es erst herausfinden.« Sie ging hinüber zum Schrank und holte die kleine Reisetasche heraus, mit der sie in den letzten Monaten so oft davongefahren war. Sie schien sie bereits gepackt zu haben. »Ich fahre direkt nach dem Unterricht und bin Sonntagabend zurück. Dann können wir reden, okay?«

»Und dann weißt du, was du willst?«, fragte er.

»Vielleicht. Ich muss jetzt gehen.«

»Gehst du zu ihm?«

Jetzt sah sie ihn endlich an. »Carter, bitte, mach es doch für uns beide nicht noch schwerer.«

»Ich mache es …?« Er fühlte sich, als wäre sein ganzes Leben vorbei, als hätte sie es in tausend Einzelteile zerrissen wie ein Puzzle. »Jodie, bitte bleib«, flehte er.

Sie schüttelte den Kopf, hatte nun ebenfalls feuchte Augen. »Ich kann nicht, Carter. Es tut mir leid.« Mit diesen Worten ging sie aus dem Zimmer und aus dem Haus und ließ ihn ohne Antworten zurück. Er wusste nicht, wohin sie fuhr oder zu wem, wusste nicht, wer der andere Mann in ihrem Leben war und ob sie ihn mehr liebte als ihn. Aber eines wusste er: Er würde nicht so einfach aufgeben. Wenn sie am Sonntag zurückkam, würde er sie an all die wunderbaren Momente erinnern, die sie zusammen erlebt hatten. Ihre Traumhochzeit am Strand von Carmel, die Geburt von Sam und die von Astor, die gemeinsamen Ausflüge, die Tage im Garten, an denen sie in der Sonne faulenzten und die Welt stillzustehen schien. Er würde kämpfen! Ja, das würde er.

Es sei denn, er hatte den Kampf bereits verloren, und sie hatte sich längst entschieden. Dann wüsste er nicht, was er tun sollte. Er konnte sich ein Leben ohne Jodie und seine Töchter überhaupt nicht vorstellen. Und er wusste, dass die Stunden bis Sonntagabend ihm wie Jahre vorkommen würden.

Er hatte ein paar Stunden lang an einem Bücherregal gearbeitet, das ein Professor Murphy für seine Sammlung an Nachschlagewerken über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg haben wollte. Er hatte das Regal bei ihm in Auftrag gegeben und ihn gefragt, ob er es binnen zwei Wochen fertig haben könnte, da dann sein Umzug in eine Altbauwohnung in Monterey stattfinden sollte, und Carter hatte ihm zugesagt, dass er es bis dahin schaffen würde. Allerdings war er sich jetzt sicher, dass er schon weit früher fertig werden würde. Fünf Tage noch, maximal, dann würde er Professor Murphy das gute Stück übergeben können. Der würde sich sicher freuen, er war ein angenehmer Kerl, ein älterer Geschichtsprofessor, der dabei war, sich zur Ruhe zu setzen. Carter lächelte und legte sein Werkzeug beiseite. Er musste sich mit diesem Stück nicht beeilen, und für die anderen Aufträge konnte er sich auch Zeit lassen. Und das war gut. Denn er konnte sich momentan gar nicht so richtig auf seine Arbeit konzentrieren, weil sich da immer eine bestimmte Person in seine Gedanken schlich. Und er hatte auch nicht vor, sie zu verscheuchen.

Er musste an die letzte Woche zurückdenken. Nach dem Kuchenbasar waren sie alle zusammen essen gegangen, was er als wirklich nett empfunden hatte. So hatten sie sich alle ein bisschen besser kennenlernen können, und sogar die Teenager hatten sich zivilisiert verhalten, obwohl er das Gefühl gehabt hatte, als wären die beiden nicht gerade Freunde. Doch als er Sam später darauf angesprochen hatte, hatte sie ihm versichert, dass alles bestens war. Sie und Jane hätten bisher einfach nicht sehr viel miteinander zu tun gehabt, sie würden aber sicher gut miteinander auskommen. Da war er sehr beruhigt gewesen, da er sich wirklich schon Sorgen gemacht hatte. Immerhin musste es für alle Familienmitglieder in Ordnung sein, wenn Amanda und er sich zukünftig öfter treffen wollten. Und das hatte er vor. Er überlegte seit Tagen, wie er sie um ein Date bitten konnte, ein Date zu zweit, nur sie allein. Doch bisher hatte er sich nicht so richtig getraut. Erst recht nicht, nachdem Amanda sich am Donnerstag in der Gruppe ein wenig geöffnet hatte. Sie hatte den anderen erzählt, dass sie ihren Mann durch Lungenkrebs verloren hatte und dass sie noch immer nicht so richtig mit der Trauer zurechtkam. Und das hatte ihn ein wenig abgeschreckt. Er fühlte zwar, dass sie auch etwas für ihn empfand, jedoch wollte er nichts übereilen und womöglich alles kaputt machen. Das, was sie miteinander verband, war so unglaublich zerbrechlich, er musste jetzt einfach geduldig und sensibel sein, und am Ende würde hoffentlich etwas wirklich Gutes dabei herauskommen.

Auf jeden Fall war er froh, dass alle Kinder von Anfang an mit einbezogen waren, denn er wollte nichts vor ihnen verheimlichen. Sie hatten auch ein Recht darauf mitzuentscheiden, wie ihr zukünftiges Leben aussehen sollte. Jodie hatte es ihnen nicht gewährt, doch er würde es immer tun. Weil seine Töchter ihm das Allerwichtigste waren. Und deshalb schloss er jetzt auch die Garage ab und stieg in seinen Pick-up, und er fuhr zu Walmart, wo es diese Woche Astors Lieblingstiefkühlpizza im Angebot gab.

Eine halbe Stunde später stand er gerade vor den Tiefkühlschränken und fischte mit viel Geschick die letzten Mozzarellapizzen heraus, als er jemanden seinen Namen rufen hörte. Mit einem breiten Lächeln drehte er sich um.

Amanda stand vor ihm und sah bezaubernd aus in einem Outfit, das so schlicht war und nur aus Jeansshorts und einem hellblauen T-Shirt bestand, doch in seinen Augen war sie einfach das hübscheste Wesen auf Erden.

»Pass auf, dass du da nicht stecken bleibst«, sagte sie und lachte.

»Amanda, hi«, sagte er. »Keine Sorge, ich habe Übung darin. Die Mozzarellapizzen befinden sich immer ganz hinten.«

»Darf ich raten? Es ist die Lieblingssorte einer deiner Töchter, und du fährst extra den weiten Weg zu Walmart, um sie zu besorgen?«

»Gut geraten. Na ja, und weil sie diese Woche im Angebot ist.«

Amanda deutete auf ihren Wagen, in dem sich vier Sixpacks Cola light und etliche Tüten Tiefkühlpommes befanden.

»Oh. Na, dann muss ich mir ja nicht ganz so doof vorkommen, weil ich ein paar Dollar sparen will«, sagte er und kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

»Wir sind alleinerziehend, da müssen wir auf jeden Cent achten, oder?«, sagte sie, und er war unendlich froh, dass es ihr genauso erging. Natürlich war er nicht froh, dass sie wusste, was es bedeutete, jeden Cent zweimal umdrehen zu müssen. Doch er war froh, weil jetzt keiner von ihnen zu hohe Erwartungen haben würde, was teure Restaurants oder andere Date-Möglichkeiten betraf.

»Ganz genau.« Er legte den Stapel Pizzapackungen, den er noch immer wie ein Idiot in den Händen hielt, endlich in den Wagen und fragte: »Wie geht es dir?«

»Mir geht es gut, danke. Und dir?«

»Auch gut.«

»Du warst eine Weile nicht bei mir. Hast wohl deine Erdbeeren im Supermarkt gekauft, hm?«

Er merkte sofort, dass sie versuchte, scherzhaft rüberzukommen, obwohl sie doch eigentlich nur wissen wollte, wieso er seit dem letzten Donnerstag nicht zur Farm gekommen war und sich auch sonst nicht gemeldet hatte, obwohl sie inzwischen ihre Handynummern ausgetauscht hatten.

»Ich war ziemlich beschäftigt«, ließ er sie wissen. »Ich habe da einige neue Aufträge reinbekommen.«

»Oh. Okay.«

Er sah ihr ihre Unsicherheit an, und er konnte auf keinen Fall zulassen, dass sie sich so fühlte. So, als hätte sie irgendetwas falsch gemacht, wobei das doch überhaupt nicht der Fall war.

»Wenn ich ehrlich sein soll, hatte ich ein bisschen Angst, mich bei dir zu melden. Nach dem, was du am Donnerstag in der Gruppe gesagt hast.«

Sie sah verwirrt aus. »Was genau meinst du? Dass ich noch immer trauere?«

Er nickte.

»Aber, Carter, was erwartest du? Dass ich meinen Mann so einfach vergesse? Er ist gerade mal seit anderthalb Jahren tot und ich …«

»Nein! Oh Gott, nein, Amanda. Du verstehst mich total falsch. Du hast jedes Recht zu … Ich wollte nur nicht, dass …« Er seufzte und schloss die Augen. Atmete einmal tief durch. »Ich glaube, ich hatte einfach Angst, dass ich dich verschrecken könnte, wenn ich dir zu nahekomme. Obwohl ich das wirklich gern würde«, fügte er hinzu. »Ich bin mir nur nicht sicher, ob es der richtige Zeitpunkt ist. Ob du schon so weit bist.«

Jetzt war es raus. Zweimal hatte er nun gesagt, dass er Angst hatte, und anders konnte man es auch gar nicht ausdrücken. Das war es, was er fühlte. Mehr als nur ein wenig nervös sah er sie an.

»Oh«, war aber alles, was sie sagte. Doch dann kam sie plötzlich – völlig unerwartet – auf ihn zu und küsste ihn.

Sie küsste ihn!

Und er war starr vor Überraschung.

Dann verabschiedete sie sich genauso plötzlich und war weg, ehe er begreifen konnte, was gerade geschehen war.

Sie hatten sich geküsst. Neben dem Tiefkühlpizzafach. Er sah ihr verdutzt nach und musste lachen, vor Erleichterung und vor Freude. Er hatte nie geahnt, wie romantisch eine Begegnung im Supermarkt sein konnte. Von nun an würde er Tiefkühlpizzen wohl mit völlig anderen Augen sehen.