Kapitel 36
Amanda
Singend stand sie in der Küche und bereitete das Abendessen zu. Es war Memorial-Day-Wochenende, und sie war ziemlich aufgeregt, denn sie hatte Carter und seine Töchter zum ersten Mal zu sich nach Hause eingeladen. Ein wenig unsicher war sie gewesen, was Jane anging, hatte sie dann aber frei heraus gefragt, ob es okay wäre, und zu ihrer Überraschung hatte sie keine Einwände gehabt, sondern einfach nur ein »Von mir aus« gemurmelt.
Und jetzt pochte ihr Herz von Minute zu Minute schneller, während sie die getrockneten Tomaten für das Pesto aufkochte, eine Weile einweichen ließ und sie dann klein schnitt, um sie im Zerkleinerer zu pürieren. Zusammen mit Mandeln, Knoblauchzehen, Balsamico, Tomatenmark, Olivenöl, ein wenig Zucker und einigen Kräutern und Gewürzen würde die Mischung ein wirklich köstliches und erfrischendes Pesto ergeben, das sie öfter mal zubereitete. Sie hatte immer gern ein Glas davon im Kühlschrank, um es sich einfach unter ein paar Nudeln zu mischen oder es auf Brot zu essen. Leider gehörten die gemeinsamen Abendessen mit Jane ja der Vergangenheit an, und selbst wenn sie mal zusammen aßen, dann wollte ihre Tochter nichts als Pommes oder Pizza oder irgendein anderes Fast Food essen, und das war gar nicht Amandas Ding. Sie mochte es frisch und gesund, mit viel Gemüse und Kräutern aus dem kleinen Garten hinterm Haus. Das Rezept für dieses Pesto hatte sie von einer guten alten Bekannten namens Hattie, die leider nicht mehr unter ihnen weilte. Sie war Mandelfarmerin gewesen, und sie hatten sich über das Internetforum der »Farmers of California« kennengelernt, in den letzten Jahren hatten sie sich richtig angefreundet, einander E-Mails geschickt und sogar Weihnachtskarten ausgetauscht. Im Oktober 2019 dann hatte sie eine Mail von Hatties Enkelin bekommen, die ihr mitteilte, dass die Gute von ihnen gegangen war. Die junge Frau namens Sophie hatte ihr geschrieben, dass sie die Mandelfarm übernommen habe, und Amanda wusste, dass das Hattie sehr glücklich gemacht hätte. Denn sie hatte ihr oft erzählt, wie sehr sie ihre Enkelin vermisste, die Kalifornien schon vor einer ganzen Weile verlassen hatte.
Liebe, alte Hattie. Sie war bereits achtundachtzig gewesen, und Amanda wusste ja, dass sie ein gutes Leben gehabt hatte, und doch hatte es sie sehr mitgenommen. Ja, es war ein trauriges Jahr gewesen, der Tod hatte sie damals eingeholt und schien ihr alle lieben Menschen nehmen zu wollen. Noch heute dachte sie mit einem Lächeln an Hattie zurück, jedes Mal, wenn sie eine Mandel aß oder eben dieses besondere Pesto zubereitete.
Zur Sicherheit wollte sie auch noch eine Tomatensoße machen, falls die Kinder das Pesto nicht mochten, und dazu würde es einen großen Salat geben. Fürs Dessert hatte sie einen Erdbeerkuchen und ihre allseits beliebte Erdbeerwolke, eine erfrischende Quarkcreme, geplant – was würde sich mehr anbieten bei all den reifen Früchten, die direkt vor ihrer Haustür wuchsen?
Am Morgen war sie im Supermarkt gewesen, dem kleinen hier in Carmel, und dort hatte sie mitbekommen, wie zwei der anderen Erdbeerfarmerinnen der Gegend sich darüber beklagten, dass ihre Früchte in diesem Jahr besonders stark vom Ungeziefer befallen waren. Amanda selbst hatte dieses Problem noch nie gehabt, und sie fragte sich des Öfteren, ob es wohl an den Zwiebeln lag. Denn bekanntlich hielten Zwiebeln, wenn man sie zwischen die Erdbeeren pflanzte, das Ungeziefer fern, und früher war die Farm ja mal eine Zwiebelfarm gewesen. Vielleicht befanden sich ja immer noch ein paar davon in der Erde, auf jeden Fall aber schien die Tatsache nachhaltig etwas zu bewirken, worüber sie einfach nur dankbar war. Tom hatte damals wirklich alles richtig gemacht mit dem Kauf des Grundstücks, anders konnte man es nicht sagen.
Sie probierte das Pesto, pfefferte noch ein wenig nach und stellte es in den Kühlschrank. Dann machte sie sich daran, die frischen Tomaten klein zu schneiden.
»Oh Gott, was machst du denn für einen Aufwand?«, hörte sie es und schloss die Augen. Oh bitte, dachte sie, lass sie sich wenigstens heute mal benehmen.
Sie drehte sich um und sagte ihrer Tochter: »Das mache ich gar nicht. Es gibt etwas ganz Schlichtes: Spaghetti.«
»Aber du machst extra ’ne Tomatensauce, oder? Warum nimmst du nicht einfach die aus dem Glas?«
»Weil die selbst gemachte besser schmeckt.«
»Wenn du meinst. Wann kommen die nachher?«
»Um halb sechs.«
»Ich hoffe, sie bleiben nicht allzu lange.«
»Jane …« Sie atmete tief ein. »Sie werden sicher nicht allzu lange bleiben, da Astor erst neun Jahre alt ist und irgendwann ins Bett muss, auch wenn morgen Feiertag ist.« Sie sah ihre Tochter an, deren Haar wie immer völlig verwüstet war und die ein The-Walking-Dead -T-Shirt trug. Jane sah aus, als würde der Weltuntergang kurz bevorstehen, vor allem ihr Gesicht drückte genau dies aus. »Bist du immer noch böse auf mich?«, fragte Amanda nach. Sie hatte es so satt. »Ich hab dir doch gesagt, dass Carter und ich uns einfach nur ein bisschen besser kennenlernen wollen. Wir werden nicht gleich heiraten, okay?«
Sie verstand Jane ja, das tat sie so gut, und doch konnte sie für sie nicht immer zurückstecken. Sie wollte sich ihr Glück einfach nicht nehmen lassen.
Doch Jane schüttelte den Kopf und hatte auf einmal ganz feuchte Augen. »Das ist es nicht. Hat nichts mit dir zu tun«, sagte sie nur, und Amanda glaubte, sie würde gleich anfangen zu weinen.
Wie gerne wäre sie jetzt auf Jane zugegangen und hätte sie umarmt. Doch sie wusste ja, dass sie sie nur wieder weggestoßen hätte.
»Oh. Okay«, war also alles, was sie sagte. Dann hatte sie eine Idee, wie Jane der Abend vielleicht ein wenig besser gefallen würde. »Du kannst gerne Calvin auch zum Dinner einladen, falls er Zeit hat.«
Jetzt drehte Jane sich um und ging ohne ein Wort davon. Kurz darauf hörte sie wieder mal ihre Tür zuknallen.
Sie presste die Lippen aufeinander und spürte selbst Tränen aufsteigen. Womit hatte sie das nur verdient? Wieso musste ihre Tochter sich ihr gegenüber immer so verhalten? So, als wäre sie überhaupt keine Bezugsperson mehr für sie – dabei war doch alles, was sie wollte, einfach nur ihre Mutter zu sein.
Sie musste das Messer ablegen, weil ihre Sicht so verschwommen war. Sie riss sich ein Stück von der Küchenrolle ab und setzte sich an den Tisch, wo sie sich für einen kurzen Moment gehen ließ, ihren Kopf in ihre Arme legte und ein paar Tränen vergoss.
Wie sollte sie sich etwas mit Carter aufbauen, wenn Jane so absolut dagegen war? Was war sie für eine Mutter, wenn sie eine Beziehung einging, die ihre Tochter so unglücklich machte? Oh, wie sie hoffte, dass Jane Carter eine Chance geben würde, sehen würde, wie wunderbar er war und was für eine Bereicherung für ihr Leben. Dass er sie so unglaublich glücklich machte. Und Sam und Astor – sie könnten alle Freundinnen werden. Keine Schwestern, darauf war Amanda gar nicht aus, falls Jane das befürchtete, doch sie könnten einander wirklich guttun. Schließlich hatten sie alle das Gleiche durchgemacht und wussten, wie es sich anfühlte, wenn plötzlich die heile Welt zusammenbrach, die man kannte.
Sie atmete ein paarmal tief durch und fasste sich wieder. Nein, sie würde Carter nicht aufgeben. Denn ihre heile Welt war ebenfalls zusammengebrochen, und zum ersten Mal seit Langem fühlte sie sich wieder hoffnungsvoll. Dieses Gefühl sollte nicht gleich wieder verschwinden – es fühlte sich viel zu schön an.
Und vor allem konnte sie wieder atmen. Die Tage, in denen sie vor Schmerz und Hoffnungslosigkeit nach Luft gerungen hatte, gehörten der Vergangenheit an.
Sie stellte sich wieder an die Arbeitsplatte und nahm das Messer in die Hand. Dabei fiel ihr Blick auf ihren Ringfinger, auf dem noch immer ihr Ehering steckte.
Vielleicht war es für sie auch an der Zeit, ihn abzunehmen.
Im Radio lief I Still Haven’t Found What I’m Looking For von U2, und ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, als sie dabei an Carter und sein U2-T-Shirt dachte.
»Ach, ich glaube, ich habe schon gefunden, wonach ich gesucht habe«, sagte sie dem Radio oder dem Schicksal oder Tom. Oder wer auch immer gerade zuhörte.