Kapitel 37
Jane
Sie lag auf ihrem Bett und hörte Musik über ihre Kopfhörer. Zum wohl tausendsten Mal lauschte sie dem Song Daddy von Coldplay und sang dazu leise mit.
»Daddy, if you’re out there, Daddy, all I want to say … You’re so far away, oh, you’re so far away … That’s okay, it’s okay … I’m okay …«
Die Tränen liefen ihr unaufhaltsam. Denn nichts war okay. Sie war nicht okay.
Ihr Daddy war weg. Cal war weg. Sie hatte niemanden mehr.
Wozu war dieses Leben also überhaupt noch gut?
Am Tag zuvor hatte sie all ihren Mut zusammengenommen und war auf Cal zugegangen, hatte ihn zu Hause besucht. Ihn gefragt, ob sie nicht einfach weitermachen konnten wie bisher. Ob sie nicht wieder Freunde sein konnten.
Er hatte geantwortet, dass er das nicht wolle. Dass er mehr wolle. Doch das konnte sie ihm nicht geben, denn sie liebte ihn einfach nicht auf dieselbe Weise, wie er sie liebte, das würde sie niemals, und das sagte sie ihm. Das war es dann für Cal gewesen und für ihre Freundschaft auch.
Seitdem weinte sie ununterbrochen. Wieso war das Leben nur so unfair? Warum nahm es ihr einfach jeden Menschen, der ihr etwas bedeutete? Klar, da war noch Romeo, mit dem sie auch reden konnte, aber das war nicht dasselbe. Cal war immer da gewesen, seit Ewigkeiten, und besonders in der Zeit, in der es ihr so schlecht gegangen war. Er hatte sie aufgefangen.
Wie weit würde sie fallen, jetzt, wo er nicht mehr da war?
Natürlich gab es da auch noch ihre Mutter. Doch das Verhältnis zwischen ihnen war schwierig geworden. Während sie sich früher ganz super verstanden hatten, war da jetzt eine Barriere. Eine Mauer, die keine von ihnen durchbrechen konnte, wie es schien. Manchmal fragte sie sich, wer wohl die meiste Schuld daran trug, dass es war, wie es war, und meistens kam sie zu dem Schluss, dass es ihr eigenes Verschulden war. Doch dann kam ihre Mom daher und brachte so Sachen, wie diesen Kerl anzuschleppen, und dann war sie sich doch nicht mehr so sicher.
Wieso hatte sie sich von allen Männern Kaliforniens nur in Sams Vater verknallen müssen? Was für einen blöden Scherz hatte sich das Schicksal da erlaubt?
Da sie die ganze Woche nicht in der Schule gewesen war, hatte Cal sie auf dem Laufenden gehalten, zumindest bis zum Donnerstag. Er hatte ihr erzählt, was in der Montgomery Gesprächsthema Nummer eins war, und das war die Tatsache, dass Sam sich von Jeremy getrennt hatte. Cal hatte ihr Screenshots von der Gomery geschickt, wo es schwarz auf weiß stand. Sie konnte es noch immer kaum glauben, hatte aber zum ersten Mal ein wenig Respekt für Sam übrig, denn mit dem prügelnden, snobistischen Idioten Jeremy Schluss zu machen war das absolut Größte gewesen, was dieses Mädchen hatte tun können.
Heute Abend würde sie herkommen. In ihr Haus. Zusammen mit ihrem Dad und ihrer kleinen Schwester. Sie würden in ihr Heim eindringen und es verseuchen – und sie hatte dem Ganzen auch noch zugestimmt! Als ihre Mom sie gefragt hatte, ob es okay wäre, hatte sie Ja gesagt, aber auch nur, weil ihr zu dem Zeitpunkt einfach alles egal gewesen war. Und im Grunde war es das auch jetzt noch.
Das Dumme war, dass sie angefangen hatte zu heulen, als ihre Mom vorgeschlagen hatte, Cal auch einzuladen. Sie hatte vor ihrer Mutter geweint, das hatte sie nicht vorgehabt. Vor ihr wollte sie stark sein, der Zombie sein, der sie eh schon für alle war, der, dem niemand mehr etwas antun konnte, weil er eh schon tot war. Innerlich zumindest.
Manchmal wünschte sie, sie wäre mit ihrem Dad gestorben. Und nun gab es hier auch gar nichts mehr, das lebenswert war.
Sie stand auf, wischte sich die Tränen ab und ging ins Wohnzimmer, wo sie sich ans Klavier setzte. Ihr Dad hatte eine ganze Zeit lang versucht, ihr das Spielen beizubringen, doch damals hatte sie einfach keine Lust dazu gehabt, es zu lernen. Viel lieber hatte sie sich draußen aufgehalten und die Natur erkundet. Unglaublich, dass sie jetzt so ein Stubenhocker geworden war.
Sie legte die Finger auf die Tasten und drückte sie herunter, eine nach der anderen. Vor ihr auf dem Notenständer lagen die Noten von Your Song , den sie seit Tagen übte. Doch es wollte ihr noch immer nicht gelingen, einigermaßen gute Töne herauszuholen. Es hörte sich einfach nur schief an, und sie hatte es auch echt nicht drauf, sich auf mehrere Finger gleichzeitig zu konzentrieren, geschweige denn auf beide Hände. Sie würde es wohl nie lernen.
Sie wusste nicht, wie lange sie am Piano saß und an ihren Dad dachte, der so wundervoll gespielt hatte. Er war einfach perfekt gewesen – in so vielerlei Hinsicht. Doch plötzlich klingelte es, und der schrille Ton riss sie aus ihren Erinnerungen.
Sie hörte, wie ihre Mom, die schon den ganzen Tag total aufgeregt war, die Tür öffnen ging. Dann vernahm sie eine tiefe Männerstimme und ein kleines Mädchen, das aufgeregt erzählte, von Fischen im Aquarium und von einem Puzzle, das sie beendet hatte, und von Erdbeeren, die sie pflücken wollte. Sie redete ohne Pause, und Jane musste widerwillig lächeln. So wenig sie Sam und Carter mochte, hatte sie die Kleine irgendwie in ihr Herz geschlossen. Manchmal fragte sie sich, wie ihr Leben wohl aussehen würde, wenn sie Geschwister hätte. Ob sie sich dann weniger einsam fühlen würde?
Sie erhob sich und ging zur Tür, weil sie wusste, dass ihre Mom das von ihr erwartete. Und weil sie, ehrlich gesagt, heute nicht schon wieder so eine Szene wie bei Carters letztem Besuch machen wollte. Einmal reichte.
»Hi«, sagte sie aus drei Metern Entfernung, und Sam hob ebenfalls eine Hand zur Begrüßung.
»Hallo, Jane. Wie geht es dir?«, fragte Carter.
Sie zuckte nur die Achseln. Und dann wurde sie plötzlich von Astor umarmt, was sich so unerwartet schön anfühlte, dass sie sich beinahe wünschte, sie würde nie aufhören.
»Hey, Süße«, sagte sie zu ihr.
»Ich hab mein Puzzle fertiggeschafft. Ganz ohne Hilfe. Das mit Dorie. Es hatte fünfhundert Teile.«
Sie erinnerte sich, dass Astor ihnen während des Essens bei Bubba Gump davon erzählt hatte. Sie wusste nicht, wie lange man normalerweise für ein Puzzle mit fünfhundert Teilen brauchte, weil sie seit ewigen Zeiten nicht gepuzzelt hatte, aber weil Astor so stolz wirkte, sagte sie ihr: »Das ist cool. Ich gratuliere.«
Als sie in Richtung ihrer Mutter schaute, sah sie, wie die sie ganz bewegt anblickte. Wahrscheinlich hatte sie gedacht, dass sie alle Herzlichkeit verloren hatte.
»Kommt doch herein«, sagte ihre Mom schnell zu ihren Gästen, als sie ihren Blick wahrnahm. »Ich führe euch herum.«
Die nächsten zehn Minuten wurde ein Rundgang durch das Haus gemacht, wobei Jane schon mal in die Küche verschwand und die Gläser aus dem Schrank holte. Sie brachte sie zum Tisch im Esszimmer, das sich unten neben ihrem Zimmer befand und sonst nie benutzt wurde. Dort angekommen sah sie, dass der bereits gedeckt war, in der Mitte standen ein Blumenstrauß und zwei Kerzen.
Also brachte sie die Gläser wieder zurück und traf auf dem Weg auf ihre Mom.
»Ich wollte den Tisch decken, aber das hast du ja schon.«
Ihre Mom musterte sie wieder so … gerührt. Dann sagte sie: »Das war wirklich lieb von dir. Vielleicht magst du gleich das Essen rüberbringen?«
»Okay.«
Ihre Mom legte eine Hand auf ihren Oberarm und sagte: »Danke.«
»Schon gut.«
Die nächste Stunde schlugen sie sich die Bäuche voll, und Jane probierte zum ersten Mal das Pesto, von dem ihre Mom immer so schwärmte. Normalerweise aß sie jegliche Art von Pasta mit Ketchup, aber sie musste zugeben, dass es wirklich lecker schmeckte. Das schienen auch Carter und Sam zu finden, die ihrer Mom Komplimente machten. Nur Astor hatte lieber die Tomatensoße haben wollen. Ihre Mom sah total zufrieden aus, und sie wirkten fast wie eine happy Family, wie sie so dasaßen und redeten und lachten und sich gegenseitig lobten. Jane jedoch sagte kaum ein Wort, und sie bemerkte, dass auch Sam auffällig ruhig war. Wahrscheinlich ging es ihr nicht allzu gut wegen der Trennung, was verständlich war. Sie fragte sich, ob Carter wohl wusste, was mit seiner Tochter los war. Eltern waren die meiste Zeit über doch so verdammt ahnungslos.
Irgendwann hatte sie genug, und deshalb fragte sie, sobald sie das Dessert aufgegessen hatte, ob sie in ihr Zimmer gehen dürfe.
Ihre Mom sah Carter an, der nickte, wofür sie ihm fast dankbar war, und sie bekam das Okay.
»Ja, gut. Aber vielleicht magst du mir vorher noch mit dem Abwasch helfen?«
»Das kann ich doch übernehmen«, sagte Carter.
Ihre Mom sah ihn an. »Gerne, wenn du möchtest.«
»Klar.«
Die beiden schmachteten einander an, dass es ihr echt too much wurde. Sie stand vom Tisch auf und wollte gerade aus dem Esszimmer gehen, als sie Astor fragen hörte, ob sie zum Spielen nach draußen gehen dürfe.
»Oh. Ja, von mir aus«, sagte Carter.
»Ich komm mit«, hörte sie Sam sagen. »Vielleicht hast du ja auch Lust, Jane?«
Sie drehte sich zu ihr um und sah sie stirnrunzelnd an. Warum sollte sie mit rausgehen? Doch Sam schaute ihr eindringlich in die Augen und deutete unauffällig mit dem Kopf in Richtung Haustür. Wenn sie sich schon solche Mühe gab, das alles so geheimnisvoll zu machen, dann steckte wohl wirklich mehr dahinter. Also seufzte sie und stimmte zu.
»Klar, warum nicht?«
Astor freute sich richtig und zog jede von ihnen an einer Hand vor die Tür. Draußen lief sie gleich zur Schaukel, und Jane sah, dass Esmeralda am Verkaufstisch saß.
»Hallo, Mädchen«, rief diese ihnen zu. »Wärt ihr so lieb, kurz für mich zu übernehmen? Ich muss mal ganz dringend wohin«, sagte sie mit ihrem starken lateinamerikanischen Akzent.
Jane sah auf ihr Handy. Es war fünf nach sieben. Um halb acht schlossen sie den U-Pick-Bereich und die Kasse, also sagte sie der Mexikanerin, die sie schon ihr Leben lang kannte, dass sie jetzt übernehmen würde und dass sie Feierabend machen könne, wenn sie wolle.
»Du bist ein Schatz, Janie. Dilara hat doch heute Geburtstag, dann hab ich noch ein bisschen mehr Zeit mit ihr.«
»Grüß sie von mir.« Esmeraldas Tochter war fast genauso alt wie sie, wusste Jane, und es tat ihr leid, dass Esmeralda ihren ganzen Geburtstag verpasst hatte.
»Das mache ich, danke.«
Sobald Esmeralda aufgestanden war, hockte Jane sich auf ihren Platz und sagte Sam, dass sie sich auf den freien Stuhl daneben setzen konnte.
Das tat sie, sagte jedoch kein Wort, beobachtete nur ihre kleine Schwester. Eine Weile schwiegen sie. Die letzten Kunden bezahlten ihre Erdbeeren, und dann war da nichts als Stille, nur ab und zu unterbrochen von Astor, die ihnen irgendwas zurief.
Irgendwann hörte sie Sam laut ein- und wieder ausatmen. Dann sagte sie: »Ich bin nicht mehr mit Jeremy zusammen.«
»Ich weiß«, erwiderte Jane.
»Oh.« Sam schien überrascht.
»Es stand in der Gomery .«
»Ich dachte nicht, dass du die liest. Oder dass du dich für Klatsch und Tratsch interessierst.«
»Tu ich auch nicht. Jemand hat mir ein paar Screenshots geschickt.« An Cal zu denken machte sie nur wieder traurig. Doch Sam schien es nicht besser zu gehen.
»Na ja, ich wollte es dir nur erzählt haben«, meinte Sam.
Sie nickte. »Ich finde es gut, dass du den Typ aus deinem Leben gestrichen hast.«
»Ja, ich auch. Und es tut mir alles schrecklich leid. Was er getan hat. Und dass ich nichts getan habe.« Sam fühlte sich schuldig, das konnte sie ihr ansehen.
»Okay«, sagte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel.
Sam holte ihr Smartphone aus der Hosentasche. »Kann ich dir was zeigen?«
»Ähm …« Bevor sie antworten konnte, hielt das Mädchen ihr schon ihr Telefon hin. Auf dem Display sah Jane eine blonde Frau, die einen riesigen Eisbecher in der Hand hielt und in die Kamera lachte. Sie sah Sam unglaublich ähnlich.
Sam sah kurz zu Astor rüber, wohl um sicherzugehen, dass sie beschäftigt war und nichts mitbekam, dann wandte sie sich wieder ihr zu und sprach sehr leise. »Das ist meine Mom. Sie ist vor etwas über drei Jahren gestorben, bei einem Autounfall, als sie von Santa Barbara zurückkam, wo meine Tante wohnt«, erzählte sie, und Jane fragte sich, worauf sie wohl hinauswollte. Einfach nur chatten wollte sie sicher nicht. Sie ließ sie weiterreden. »Wir hatten so ein Ding, haben uns immer Fotos voneinander und von unserem Essen geschickt, wenn wir getrennt waren. Sie war ziemlich oft verreist.« Sam machte eine Pause, dann wurde sie, wenn möglich, noch ein wenig ernster und zeigte mit dem Finger auf das Display. »Siehst du das da im Hintergrund?«
Sie musste ganz nah herangehen. »Wolkenkratzer«, sagte sie.
»Genau.« Sie sah ihr ins Gesicht. »In Santa Barbara gibt es keine Wolkenkratzer.«
»Shit.«
Sam nickte. »Ich glaube, ich wurde von allen belogen. Meine Mom war gar nicht in Santa Barbara bei Tante Brenda, bevor sie gestorben ist.«
»Und was denkst du, wo sie dann war?«
»Ich hab wirklich keine Ahnung.«
»Sam, warum erzählst du ausgerechnet mir das alles? Wir können einander nicht ausstehen.«
Sam steckte das Handy weg und sah wieder zu Astor. Ohne ihren Blick abzuwenden, sagte sie: »Weil du der stillste und in dich gekehrteste Mensch bist, den ich kenne. Weil ich einfach hoffe, dass du es für dich behältst.«
Sie schwiegen gut zwei Minuten, dann fügte Sam hinzu: »Und weil ich nicht ganz allein herausfinden kann, was damals passiert ist. Ich bitte dich um deine Hilfe, Jane.« Als sie sie jetzt ansah, hatte Sam ganz feuchte Augen.
Sie verspürte den Drang, sie in den Arm zu nehmen, aber sie hassten sich doch, oder?
Dennoch, es war sehr mutig von Sam, mit dieser Sache zu ihr zu kommen. Und vor allem fühlte sie zum ersten Mal Solidarität. Sie wusste, wie mies es für Sam sein musste, nicht einmal zu wissen, wie genau ihre Mutter umgekommen war. Das musste einen völlig fertigmachen.
Und in diesem Moment waren sie keine Feindinnen mehr, sondern Verbündete.
»Okay, ich helfe dir«, sagte sie ihr also und legte ihr einen Arm um die Schulter, obwohl sie das überhaupt nicht vorgehabt hatte. »Ich kenne jemanden, der gut darin ist, solche Sachen herauszufinden. Der hat die richtigen Tools, um Hintergründe zu erforschen und so weiter.« Sie wusste, dass Aiden ihr helfen würde, wenn sie ihn nett bitten würde. Vielleicht sollte sie ihm nicht unbedingt sagen, wem sie damit einen Gefallen tun wollte.
Sam nickte und sah sie dankbar an. »Das werde ich dir nie vergessen.«
Sie nickte ebenfalls, und dann sahen sie Astor dabei zu, wie sie hoch in die Lüfte schwang. Sie wusste, dass Carter bald kommen und sagen würde, dass es Zeit war aufzubrechen, doch bis dahin war sie das unbeschwerteste und glücklichste Mädchen auf der Welt.