10. Erwischt

Ich bin zwar ganz sicher nicht schwanger, muss aber doch noch einmal ins Labor. Doktor Rogers hat es nicht für nötig gehalten, mich darüber aufzuklären, was sie in meinem Blut finden will. Die Anweisung ist jedenfalls ellenlang. Sie ist undeutlich geschrieben und ich verstehe gar nichts. Ich nehme mal an, dass sie in mir alle Geschlechtskrankheiten auffinden will, die mein Lotterleben für mich bereit hält …

Ich behalte Recht. Die junge Frau am Empfang, die mir gestern noch zugezwinkert hat, weil sie dachte, ich sei schwanger, gibt mir heute mit der ernstesten Miene, die sie parat hat, die Anweisung wieder.

Rodrigue hingegen scheint sich zu freuen, mich wiederzusehen. Er beurteilt die Leute nicht nach ihren Analysen oder ihrer Kleidung, wofür ich ihm dankbar bin. Auch heute habe ich großartige Venen. Damit dürfte ich nicht allein sein. Ich bin sicher, dass er einen Fanclub von alten Botox-Tanten hat, die für ein paar Analysen hierher kommen, nur um ihn wiederzusehen.

Fünf Röhrchen später schüttelt er mir freundschaftlich die Hand.

„Also gut, Mademoiselle Maugham. Wir sehen uns morgen wieder?“

„Lieber nicht!“

„Nur ein Scherz. Aber kommen Sie wieder, wann immer Sie möchten, es wird mir immer eine Freude sein, Sie zu pieken!“

,Diese Laboranten haben wirklich ihre ganz eigenen Anmachmethoden …‘

Als ich das Labor verlasse, stelle ich fest, dass ich riesigen Hunger habe. Wie spät ist es jetzt? Wie immer habe ich keine Uhr. Meine letzte dürfte die mit Micky Maus darauf gewesen sein, die mir mein Vater geschenkt hat, als ich zwölf wurde … Ich finde mein Handy auf dem Boden meiner Tasche wieder. Es ist ausgeschaltet. Mist! Ich hatte völlig den Anruf vergessen, den ich während des Termins bei Doktor Rogers bekommen hatte. Mein Telefon geht an. Da ist eine Nachricht von Charles, außerdem zwei Anrufe in Abwesenheit und vier SMS, in denen er nachfragt, weshalb ich nicht antworte.

„Emma, ich bin’s. Entschuldige, dass ich dich jetzt erst benachrichtige, aber wir haben einen Termin im Kommissariat. Ich hoffe, du bekommst meine Nachricht noch rechtzeitig. Der Termin ist um 13 Uhr. Wenn du es nicht schaffst, frage nach Capitaine Pécha.“

Jetzt ist es 12 Uhr 59, was bedeutet, dass ich noch eine Minute habe, um die Stadt zu durchqueren. Ein kleiner Sprint nach der Blutentnahme wird mir sicher sehr gut tun. Tja, Pech für meinen Magen, er muss warten.

Schweißgebadet und ein bisschen fertig treffe ich eine halbe Stunde später ein. Am Empfang sieht man mich etwas erstaunt an, als ich mich zu erkennen gebe.

,Die Freundin von Charles Delmonte haben sie sich wohl anders vorgestellt!‘

„Am Ende des Ganges, rechte Tür.“

Ausgezeichnet. Ich klopfe. Eine heitere Frauenstimme bittet mich herein. Der Capitaine Pécha ist eine Frau. Heute ist mein Tag: erst die Gynäkologin und jetzt die hier. Sie sitzt hinter einem großen beigefarbenen Schreibtisch, der unter einem Papierberg fast einstürzt und von üblen, unbequemen Stühlen umgeben ist. Auf einem davon sitzt Charles. Er wirkt ernst in diesem bedrückenden Rahmen. Der Capitaine ist eine sehr hübsche Frau, klein, blond, tatkräftig und um die dreißig … Und offensichtlich ist sie für Charles’ Charme nicht ganz unempfänglich. Sie dürften dasselbe Alter haben, dieselben Vorbilder. In nur einer halben Stunde haben sie eine Beziehung aufgebaut. Es ist unerträglich, ich fühle mich wie eine schlecht gekleidete Cousine vom Land … Mehr schlecht als recht versuche ich, meinen Pullover unter der Jacke zu verbergen.

„Capitaine Pécha, Emma Maugham. Ich bitte um Entschuldigung, Capitaine, es ist mein Fehler, ich hatte sie erst im letzten Moment benachrichtigt.“

,Danke, Charles!‘

„Sehr erfreut.“

„Ebenfalls.“

„Setzen Sie sich doch, bitte.“

Ich hasse sie. Sie ist überhaupt nicht affektiert. Sie ist einfach angenehm, ganz natürlich. Sie macht Charles kein bisschen an, sondern schafft zwischen ihnen eine Art natürliche Sympathie. Was, wenn ich bereits der Vergangenheit angehöre?

„Kommen wir wieder zu unserer Sache, wenn Sie möchten.“

,Super, sie haben schon ,ihre‘ Sache.‘

„Aber ja“, presse ich zwischen den Zähnen hervor.

„Wie ich Ihrem … Monsieur Delmonte bereits gesagt habe, ermitteln wir weiterhin gegen Monsieur Dimitri Petrovska. Ich brauche Ihnen nicht zu verheimlichen, dass er bereits eine Akte bei uns hat …“

„Wundert mich nicht“, kommentiere ich, um mich ein wenig zu profilieren.

„Gemäß den Anweisungen des Staatsanwaltes haben wir uns also mit den zahlreichen Drohbriefen beschäftigt, die die verstorbene Madame Alice Duval bekommen hat.“

„Es war doch er, der sie geschrieben hatte?“

„Ja, vollkommen richtig, Mademoiselle, aber unter Ihrem Namen, Monsieur Delmonte. Gewiss war die Ärmste so sehr erschrocken, dass sie nicht einmal mehr die Schrift ihres Mannes unterscheiden konnte …“

„Sie befand sich lange in einem vegetativen Zustand“, sagt Charles mit tonloser Stimme.

„Ich weiß. Nun, mit dieser Angelegenheit ist es wie in einem Haifischbecken. Ich habe weitere Nachforschungen über die Protagonisten dieser dunklen Geschichte angestellt.“

„Soll heißen?“

„Über Sie selbst, über Madame Duval, Monsieur Petrovska und seine Schwestern, und über Mademoiselle.“

,Man ermittelt also auch gegen mich … Hauptsache, niemand findet heraus, dass ich meine Zeit abwechselnd im Krankenhaus und im Labor verbringe.‘

„Und?“

„Ich habe einige Briefe gefunden, die Sie beschuldigen. Wenig glaubhafte Briefe, die, das wird gerade bestätigt, offensichtlich auch aus der Feder von Dimitri Petrovska stammen.“

„Und worum geht es?“

„Juwelenschmuggel … Diese Briefe beschuldigen Sie, Juwelen in hohem Wert versteckt – und natürlich auch gestohlen – zu haben, und zwar in Skulpturen. Sagt Ihnen das etwas?“

Charles bleibt gefasst, aber ich kann nicht verhindern, dass ich zusammenzucke, als wäre ich schuldig. Ich weiß, dass Charles etwas Illegales getan hat. Nie hätte er die Juwelen, die er in der Statue fand, behalten und, noch weniger, mich tragen lassen dürfen … Er hätte einfach die Polizei benachrichtigen müssen.

„Sie wissen natürlich, denke ich mal, dass es sich um die berühmten blauen Diamanten handelt.“

„Ja. Es war auch nur eine rhetorische Frage.“

Kann sein, dass ich Gespenster sehe, aber ich hätte schwören können, dass sie ihn anmacht. Charles wiederum zeigt sein umwerfendes Grübchen. Will er sich damit entlasten oder ist auch er von ihr verzaubert?

„Ich gebe zu, ich bin ein Sammler.“

,War das eine Anspielung?‘

„Als ich die Diamanten in der ,Jungfrau‘ der Petrovska-Schwestern fand, dachte ich nicht einen Augenblick lang daran, die Polizei zu informieren. Ein so schönes Stück, das ist ein Fund, den man nur einmal in seinem Leben macht.“

,Für Capitaine Pécha gibt es da eine Anspielung, soviel ist sicher. Sie wird ja ganz rot vor Freude.‘

„Ach ja?“

„Also habe ich sie in Sicherheit gebracht. Und darauf gewartet, mehr über ihre Herkunft zu erfahren … Sie verstehen.“

„Aber ja, sicher. Weil Sie die Statue besaßen, hätten Ihnen die Diamanten auch gar nicht verborgen bleiben können.“

,Ich träume! Er hat gerade zugegeben, dass er die Justiz behindert und einen Beweis in einer Ermittlung wegen Juwelenschmuggels vorenthalten hat, und diese Pute ,versteht‘ das?‘

„Aber … äh … Die Sache mit dem Schmuggel … Ist das nicht gravierend?“

Ich muss wohl den guten Bullen in ihr wecken wollen. Mein Gemeinsinn. Und zweifelsohne Eifersucht …

„Um ehrlich zu sein, nicht wirklich. Nach der Tragödie, die Madame Duval das Leben gekostet hat, wurden die Juwelen wiedergefunden und ihrem Eigentümer zurückgegeben. Merkwürdigerweise scheint es, als wäre dies ein Einzelfall gewesen. Die anderen Statuen der Petrovska-Schwestern waren leer. Für den Augenblick also rate ich Ihnen, das auszunutzen. Sie beide.“

„Wie meinen Sie das?“

„Da Monsieur Delmonte dazu fähig war, diese Diamanten zu verstecken, glaube ich, Mademoiselle, dass sie bei Ihnen waren. In meinem Beruf nennt man das Hehlerei.“

Ich bin verblüfft.

Bis sie in Lachen ausbricht.

„Ich scherze nur. Sie werden keiner Sache beschuldigt, beruhigen Sie sich!“

Langsam ärgert mich das alles hier. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt gekommen bin. Sie scheint mir meine Verärgerung anzusehen und wird wieder ernst.

„Wie ich bereits sagte, der Juwelenschmuggel erscheint in dieser Sache eher beiläufig. Sie selbst haben mir mitgeteilt, dieser Spur vergeblich nachgegangen zu sein, Monsieur Delmonte.“

„Ich habe tatsächlich nichts gefunden.“

„Es ist merkwürdig. Man könnte meinen, dies war nur ein Vorwand, um Ihnen zu schaden. Warum war Dimitri Petrovska so wütend auf Sie und ist es immer noch, Monsieur Delmonte?“

„Diese Frage stelle ich mir auch.“

„Was mich persönlich beunruhigt, denn aus dieser Perspektive heraus ist nicht abzusehen, ob er damit aufhören wird. Hat er denn bekommen, was er wollte?“

Keiner von uns hat eine Antwort auf diese Frage und so schweigen wir einen Augenblick lang. Dann steht Capitaine Pécha auf, wir können gehen. Sie versichert uns, sie würde uns über den weiteren Verlauf der Ermittlungen auf dem Laufenden halten, und ermutigt uns, ihr alles Verdächtige mitzuteilen. Mir scheint, die Hand, die sie Charles reicht, ist um einiges herzlicher als die, die ich schüttele. Ich überlege, ob ich mein Revier markieren und Charles’ Hand nehmen sollte. Aber ich stehe über den Dingen, erhebe mich und bewege mich würdevoll in Richtung Ausgang. Dann spüre ich Charles’ Arm unter meinen gleiten … Capitaine Pécha lächelt mich an. Sie hat verstanden.

Als wir gerade hinausgehen wollen, hält Charles inne.

„Capitaine Pécha?“

„Monsieur Delmonte?“

„Und diese DNA-Geschichte?“

„Im Moment kommen wir da nicht weiter. Sie haben uns angegeben, weder einen Sohn noch einen Bruder zu haben … Möglicherweise ist es nur reiner Zufall.“

„Aha.“

Ich weiß nicht, wie ich diesen letzten Laut verstehen soll. Ist er enttäuscht, dass man diese Spur nicht weiterverfolgt? Ist er erleichtert? Hat er sich bereits an den Gedanken gewöhnt, vielleicht ein Kind zu haben?

Trotz der neuen Richtung der Ermittlung bleibe ich misstrauisch. Eine hübsche Frau ist ohne Zweifel besser als ein korrupter Bulle. Auf der Straße befrage ich Charles, der mittlerweile meine Hand hält und keine Anstalten macht, diese wieder loszulassen.

,Umso besser!‘

„Vertraust du ihr?“

„Capitaine Pécha? Ja, sie macht einen guten Eindruck auf mich.“

„Das ist mir nicht entgangen.“

„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“, sagt Charles und seine Augen funkeln, während er mich spöttisch anlächelt.

,Ich schwöre, es gefällt ihm, mich eifersüchtig zu machen!‘

„Vielleicht … Hätte ich denn einen Grund?“, frage ich und tue verärgert.

„Auf keinen Fall. Nun, ich finde es auch eigenartig, es mit einer hübschen, sympathischen Frau zu tun zu haben anstatt mit einem dickbäuchigen Capitaine.“

„Ah! Damit hattest du auch nicht gerechnet!“

„Nein, aber es war doch eine schöne Überraschung, nicht wahr?“

„Du sagst es. Sie jedenfalls schien mir sehr begeistert darüber, dich kennengelernt zu haben …“

„Ja, aber ich glaube, sie weiß nun, woran sie ist. Was die Ermittlung betrifft, habe ich das Gefühl, sie stellt die richtigen Fragen“, sagt Charles nun ernster.

„Aber Dimitri! Wissen sie denn, wo er sich aufhält?“

„Leider nein. Wir sprachen darüber, bevor du kamst. Sie haben alle Anwesen durchsucht, die er in Frankreich besitzt, und nichts gefunden. Er ist verschwunden.“

„Und im Ausland?“

„Sie versuchen gerade, einen internationalen Haftbefehl zu erwirken. Aber solche Verfahren dauern immer ihre Zeit.“

„Und seine Schwestern?“

„Auch sie, beide unauffindbar.“

„Wenn die Petrovskas nicht mehr in Paris sind, können wir ein wenig aufatmen, stimmt’s?“

„Wir können aufatmen, da hast du Recht.“

Möglicherweise bin ich paranoid, aber dieses „Da hast du Recht“ klingt nicht echt. Er muss es bemerkt haben, denn er wiederholt es, während er mir in die Augen sieht. Aber glaube ich wirklich daran?