5

Ich lugte um den Außenrand der Küchenjalousie herum nach draußen. Es sah so aus, als mache Mike sich in einem Büchlein kurze Notizen, während er um den Minivan herumstrich. Mein Herzschlag wurde schneller und schneller, bis mir war, als müsse ich mich übergeben. Wie es sich darstellte, waren Charlie und ich erledigt.

»Was zum Teufel machst du da, Abbey? Der Toast steht in Flammen!« Charlie schnappte sich das Backblech einschließlich des brennenden Toasts und warf beides ins Spülbecken. Bevor ich es hätte verhindern können, hatte sie das Küchenfenster aufgerissen, damit der Rauch entweichen konnte. Der Rauchmelder fing an zu piepen, und es dauerte eine ganze Minute, bis ich den Knopf gefunden hatte, mit dem ich das Gerät wieder zum Schweigen brachte.

Mike hob den Kopf, als er hörte, dass ein Fenster geöffnet wurde, und sah mir geradewegs in die Augen.

»Mist.« Ich duckte mich und ging vom Fenster weg, und dabei hustete ich mir fast die Lunge aus dem Leib, so beißend war der Geruch des eingeäscherten Toastbrots.

»Was ist da draußen so interessant, dass du alles um dich herum vergisst?« Charlie wollte sich selbst ein Bild davon machen. »Uns hätte die Wohnung abbrennen können.«

»Es ist Mike, der Polizist, von dem ich dir erzählt habe.« Ich legte meine Hand auf ihren Arm, um sie zurückzuhalten.

»Warum zum Teufel schnüffelt der da draußen herum? Sag nicht, du hast ihm erzählt, wo wir wohnen. Himmel, Donnerwetter noch mal, Abbey!«

»Das habe ich ihm selbstverständlich nicht erzählt. Er hat sich den Minivan genauer angesehen. Vielleicht hat man unser Nummernschild identifiziert.«

Es klopfte laut an der Wohnungstür.

Charlie starrte mich an. »Lass dich nicht blicken, und lass mich das machen.«

Ich huschte in mein Schlafzimmer und sah zu, dass die Tür einen winzigen Spalt geöffnet blieb, damit ich die Unterhaltung mitverfolgen konnte.

»Hallo.« Gekonnt verlieh Charlie ihrer Stimme einen verführerischen Klang. Ich strengte mich maßlos an, Mikes Antwort mitzubekommen, doch klang seine Stimme lediglich wie ein leises, sonores, erotisches Brummen.

»Es tut mir schrecklich leid, aber Abbey ist gerade weggegangen. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

Ich stellte mir vor, wie Charlie Mike mit den Wimpern anklimperte. Zu schade, dass er ein Bulle war! Er war nach sehr langer Zeit der erste anständig aussehende Typ, der sich in irgendeiner Weise für mich interessierte, selbst wenn es ihm nur darum gehen mochte, mir Handschellen anzulegen. Nicht, dass es mir etwas ausgemacht hätte, Räuber und Gendarm mit Mike zu spielen, vorausgesetzt natürlich, es hätte sich dabei um die richtige Art von Spiel gehandelt …

Neuerlich ertönte das sonore Brummen, und ich schlich mich näher an den Türspalt, um besser hören zu können.

»Vielleicht kommen Sie besser herein, Detective. Wir stecken aber doch wohl nicht in Schwierigkeiten, oder?«

Das Blut dröhnte mir in den Ohren, als ich die Schritte an meiner Tür vorbei in Richtung Wohnzimmer vernahm. Charlie bot ihm eine Tasse Tee an, die er aber nicht wollte. Dann setzten sie sich offenbar hin, denn ich hörte das Knarren der kaputten Sprungfeder in unserem altertümlichen Sofa.

»Ich habe Grund zu der Annahme, dass Sie und Ihre Schwester in der Lage sind, mir bei einer Ermittlung behilflich zu sein, Miss Gifford. Abbey hat mir erzählt, dass Sie einen gewissen Mr. Freddie Davis persönlich kennen?«

Meine Handflächen wurden ganz feucht, als ich das Ohr gegen die Tür presste, um Charlies Antwort mitzubekommen. Ich versuchte, durch den Spalt zu spähen, konnte zu meinem Leidwesen aus meiner Spionierposition aber nicht ins Wohnzimmer hineinsehen.

»Ach ja, wir kennen ihn aber nicht gerade gut. Er ist eher eine flüchtige Bekanntschaft.« Ihre Stimme klang abweisend und kühl. Eines musste ich meiner Schwester lassen, sie hatte Nerven wie Drahtseile. Sie war schon immer dreister gewesen als ich und hatte besser Risiken eingehen können.

»Sie sind unlängst bei mehreren Gelegenheiten mit ihm zusammen gesehen worden, sowohl allein als auch in Begleitung Ihrer Schwester.« Die Sprungfeder des Sofas machte wieder das knarrende Geräusch, und ich stellte mir vor, wie Mike sich zurücklehnte und sich beim Plaudern an den Außenseiten seiner Augen die Fältchen bildeten.

»Ich weiß nicht genau, was Sie damit unterstellen wollen, Mr. … Entschuldigen Sie, aber wie war noch mal Ihr Name?« Charlies Antwort klang eisig, und ich war insgeheim erleichtert, dass sie seinem Charme nicht erlag.

»Flynn, Mike Flynn. Es tut mir leid, Miss Gifford, wenn Sie das Gefühl haben, dass ich mich in Ihre Privatangelegenheiten mische, aber jedwede Information, die Sie mir über Mister Davis und seine Aktivitäten geben können, ist unseren Ermittlungen dienlich.«

Ich wischte mir die Hände an den Beinen meiner Jeans trocken. In diesem Moment hätte ich gut meinen Inhalator brauchen können, nur war er immer noch in meiner Handtasche im Wohnzimmer. Was hatten seine Worte zu bedeuten? Es hörte sich an, als sei er hinter Freddie her und nicht hinter uns.

»Ich fürchte, dass es da nicht viel gibt, was ich Ihnen erzählen könnte. Mister Davis hat mich einige Male zum Abendessen ausgeführt, und vorgestern hat er mich dazu überredet, mit ihm zum Mittagessen aufs Land zu fahren. Ich glaube, dass er dort nach einem Besitz als Investment sucht, aber das ist auch schon alles, was ich weiß.«

»Ich verstehe. Nun, vielen Dank – werden Sie ihn wiedersehen?«

Ich hörte die Sprungfeder quietschen und nahm an, dass entweder Charlie oder Mike aufgestanden war. »Das ist unwahrscheinlich. Ist Freddie sich darüber im Klaren, dass Sie sich mit ihm befassen?«

Mmm, gute Frage. Eins zu null für Charlie. Ich war mir nicht sicher, ob die Art, mit der Mike seine Fragen stellte, mit seinem Berufsethos vereinbar war.

»Mister Davis und sein Anwalt haben sich uns gegenüber äußerst kooperativ gezeigt.« Die Stimmen wurden deutlicher, und ich nahm an, dass Charlie und Mike das Wohnzimmer verlassen hatten. Ich wich vom Türspalt zurück. »Sollten Sie noch einmal von Mister Davis hören, lassen Sie mich das bitte wissen. Hier, ich gebe Ihnen meine Karte.« Mikes Stimme klang nun sehr nah, und ich versuchte, meine Atmung unter Kontrolle zu behalten, die durch den Stress der ganzen Situation immer rauer geworden war.

»Selbstverständlich, Detective.«

Die Wohnungstür wurde geöffnet. »Richten Sie Abbey bitte aus, dass es mir leidtut, sie nicht angetroffen zu haben.« Seine Stimme klang kristallklar, und die reinsten Hochgefühle durchrieselten meinen Körper. Er musste einfach wissen, dass ich immer noch in der Wohnung war, denn wir hatten einander direkt in die Augen gesehen, als er draußen auf der Straße stand. Mir war, als wisse er, dass ich in Hörweite von ihm stand.

»Natürlich.«

Die Wohnungstür fiel ins Schloss, und ich stolperte in den Korridor und schnappte nach Luft. »Inhalator!«

»Verflucht noch mal.« Charlie grabschte nach meiner Handtasche und warf sie mir zu.

Kip kam aus seinem Zimmer mit einem Gesicht, das vor lauter Stress schneeweiß war, und ich nahm ein paar Züge aus meinem Inhalator und versuchte wieder zu Atem zu kommen.

»Was jetzt?« Meine Stimme klang immer noch wie ein Keuchen, und mein Puls galoppierte nur so von den vielen Steroiden. Wenn ich die Medikamente weiterhin in diesen Mengen zu mir nehmen musste, hatte ich am Ende mehr Muskeln als ein weiblicher Bodybuilder.

Charlies Handy fing an zu klingeln. Sie nahm es vom Tisch und schaute auf die Bildschirmanzeige.

»Freddie.« Sie nahm das Gespräch an. »Darling, da hast du mich gerade noch erwischt. Es tut mir so leid, dass ich dich gestern versetzen musste. Wirklich, aber meine persönliche Assistentin ist so gnadenlos unfähig. Sie wird einfach mit keiner Krise fertig.« Sie sah mich an, zog dabei eine ihrer makellos gezupften Augenbrauen hoch, und ich streckte ihr die Zunge heraus, bevor ich mich auf dem Sofa niederließ. Kip setzte sich neben mich, und ich nahm ihn in die Arme, während wir weiterhin Charlies Unterhaltung lauschten. Sie klang wie die perfekte Dame der High Society, wie sie Freddie da einwickelte und sein Ego streichelte, indem sie so tat, als sei ihr jedes seiner Worte heilig.

»Der Anwalt wird die Papiere für dich nächste Woche fertig haben. Ich werde für ein paar Tage außer Landes sein, doch wenn ich zurück bin, sollte alles so weit sein, dass du nur noch zu unterschreiben brauchst. Großonkel Edward kann es kaum noch erwarten, dich persönlich kennenzulernen, und ich habe ihm gesagt, dass ich für dich ein kleines Abendessen arrangieren würde. Nichts Extravagantes, nur ein paar Leute.« Sie hielt inne und hörte aufmerksam zu, was Freddie darauf zu sagen hatte.

»Ich freue mich unendlich darauf. Wir hören voneinander. Bye.« Sie sah uns an, rollte mit den Augen und beendete das Gespräch. »Das sollte uns ausreichend Zeit verschaffen, hier wegzukommen, bevor er den Braten riecht.«

Die Enge in meiner Brust hatte etwas nachgelassen. »Das hört sich ja ganz so an, als habe Freddie echt Dreck am Stecken, wenn die Polizei sich schon für ihn interessiert.«

»Kann sein, doch wird es dadurch auch für uns gefährlich. Mir behagt das überhaupt nicht, dass wir jedes Mal Inspector Clouseau in die Arme laufen, wenn wir uns umdrehen.« Charlie trommelte mit ihren Fingernägeln auf die Tischplatte. »Es wird Zeit, dass wir gen Norden ziehen.«

Es sah so aus, als wäre ich meiner neuen Karriere als Hundeflüsterer einen weiteren drohenden Schritt näher gekommen. »Wir müssen uns eine Bleibe besorgen.«

»Das überlass alles mir.« Ruckartig drehte sie sich um, eilte zum Computer und setzte sich vor den Bildschirm. »Ich habe schon jede Menge Dinge angeleiert. Die muss ich jetzt nur noch ein bisschen vorantreiben, das ist alles.«

Kip sah nicht so aus, als sei er davon überzeugt. »Werde ich Claude und Stig mitnehmen können?«

Da die meisten Vermieter keine Mieter wollten, die Haustiere hatten, war ich nicht sicher, wie wir es anstellen sollten, einen Hamster und einen Leguan unterzubringen.

»Kein Problem.« Charlies Finger glitten nur so über die Tastatur des Keyboards.

Die nächsten paar Tage waren wie ein einziger Wirbelsturm aus Packen und Organisieren. Wir waren daran gewöhnt umzuziehen, da wir dem Mieteintreiber und den Gerichtsvollziehern in aller Regel immer nur ein paar Schritte voraus waren. Kip fand das Ganze beunruhigend, obwohl wir es bereits so oft getan hatten, und die erste Runde Regressionstherapie schien mir auch nicht viel geholfen zu haben. Wenn wir gerade mal keine Sachen aussortierten, die mit dem Umzug zu tun hatten, versuchte Kip, mich einigen Tests zu unterziehen.

»Was halte ich in der Hand?« Wir räumten gerade den Küchenschrank aus, und er schwenkte ein Paket mit Schoko-Pops.

»Schoko-Pops.« Ich bemühte mich so sehr, Weizenflocken oder Cornflakes zu sagen, doch brachte es alles nichts. Die Worte blieben in meinem Hirn hängen. Es war dermaßen frustrierend, dass ich am liebsten laut geschrien hätte. Wie sollten wir jemals wieder in der Lage sein, irgendein Ding zu drehen, wenn ich nicht lügen konnte?

»Was ist das hier?« Er hielt mir eine Apfelsine unter die Nase.

»Eine Apfelsine.« Gott, war das deprimierend. Ich hatte verzweifelt versucht, Apfel zu sagen.

»Bist du sicher, dass du dich wirklich bemühst, Abbey?« Er packte die Schoko-Pops in eine Kiste mit der Aufschrift »Küchensachen«. Ich wusste, dass er enttäuscht war. Er war überzeugt gewesen, dass er die Lösung für all meine Probleme hatte. Ich muss zugeben, dass ich selbst davon überzeugt gewesen war, als ich all die Artikel gelesen hatte, die er ausgedruckt hatte, und das Informationsmaterial, das der CD beigelegen hatte.

»Vielleicht brauche ich noch weitere Sitzungen.« Ich wusste nicht genau, ob ich noch weitere Sitzungen wollte, nur hatte ich seit der ersten angefangen, mehr und mehr über Mum nachzudenken. Ich war vier gewesen, als sie verschwand. Charly war damals dreizehn gewesen und Kip noch ein Baby. Falls meine durch die Regressionstherapie aufgewühlten Erinnerungen zu Hinweisen darüber führten, was mit ihr geschehen war, musste ich mehr herausfinden.

Kip legte die Stirn in Falten. »Da könntest du recht haben. Wenn wir das neue Haus bezogen haben, werden wir es noch einmal probieren.«

Ich packte weiter Geschirr in die Kiste. Charlie hatte arrangiert, dass wir Tante Beatrice einen Besuch abstatteten, bevor wir nach Cheshire fuhren. Tante Beatrice hatte immer noch unsere Geburtsurkunden und ein paar Fotografien aus der Zeit, als wir noch Kinder gewesen waren. Sie hatte ebenfalls ein paar Fotos von Mum. Keiner von uns freute sich darauf, dem alten Elend neuerlich ins Auge zu sehen, doch wie Charlie es formuliert hatte, war es höchste Zeit, dass wir uns die Sachen holten, die rechtmäßig uns gehörten. Während sich das in der Theorie gut anhörte, war ich nicht so sicher, ob es sich auch in die Praxis umsetzen ließ.

»Wird wieder mal umgezogen, Charlotte?«

Abgestandener Tee füllte die anmutigen Teetässchen, die wir in den Händen hielten, während wir aufgereiht wie die Orgelpfeifen auf Tante Beatrices Ledersofa saßen und uns wünschten, wir wären woanders. Wie Gewitterwolken hingen die Erinnerungen in der Luft, Erinnerungen an Mahnungen wie die, uns die Füße abzutreten, unseren Rosenkohl aufzuessen und dass man uns zwar sehen, aber niemals hören dürfe.

»Das liegt an unserer Arbeit, Tante Beatrice. Unsere Firma ist ziemlich erfolgreich, aber wir müssen halt dahin ziehen, wo die Arbeit ist.« Charlie schenkte dem Tantchen ein kleines, aber feines Lächeln. Ich wusste, dass sich ihre Erinnerungen an das Leben hier nicht von meinen unterschieden. Es war besser gewesen, als im Waisenhaus zu leben, aber nicht wesentlich besser. Meine Schwester hatte die Hauptlast getragen; sie war ein Teenager gewesen, als wir hier eingezogen waren, und hatte sozusagen über Nacht ein Miniatur-Erwachsener werden müssen. Es wurde von ihr erwartet, dass sie das Gros der Hausarbeiten erledigte und Kip versorgte. Tante Beatrice hatte Charlie nicht erlaubt, mit ihren Freundinnen auszugehen, denn es hätte ja sein können, dass sie »vom rechten Weg abkam« wie unsere Mutter. Später, als ich älter wurde, erfuhr ich das Ganze dann am eigenen Leib.

»Ich kann nur nicht verstehen, warum ihr den armen Christopher immer mit Euch herumschleppen müsst. Er weiß doch, dass er immer ein Zuhause bei mir hat.«

Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass von Kip die Rede war. Außer Tante Beatrice gab es niemanden, der ihn jemals Christopher genannt hatte. Die Muskeln in Kips Bein, das fest gegen meines gedrückt war, spannten sich mit aller Kraft, als sie sagte, was für ihn einer Drohung gleichkam.

»Das ist sehr großzügig von dir, Tantchen, aber wir glauben, dass ihm eine andere Umgebung guttun wird.«

Tante Beatrice blickte über den Rand ihrer Teetasse hinweg und nahm ihn genauer in Augenschein. »Er sieht ziemlich käsig aus«, urteilte sie. »Du bist heute sehr still, Abigail. Geht es dir gut?«

Ich bemühte mich, nur ja nicht zu zappeln, als sie mir so plötzlich ihre Aufmerksamkeit schenkte. »Sehr gut, Tantchen, danke.« Von dem Blitzschlag hatten wir ihr nichts erzählt. Es wäre schwierig geworden, ihr das mit dem anderen Namen zu erklären, und die Bilder in den Zeitungen waren glücklicherweise von schlechter Qualität gewesen.

»Ich habe eigentlich nie genau verstanden, welche Art von geschäftlicher Aktivität es erforderlich macht, immerzu herumzuziehen.«

Zu unserem Glück übernahm Charlie das Antworten, bevor mein loses Mundwerk die Wahrheit preisgeben konnte, von der Tante Beatrice einen Herzinfarkt bekommen hätte.

»Wir machen Marketing und Werbung. Unsere Dienstleistungen werden sowohl von Einzelpersonen als auch von Unternehmen in Anspruch genommen. Nach Cheshire zu ziehen ist für uns alle eine ganz großartige Gelegenheit.«

Ich nahm mal an, dass man das, was wir machten, durchaus so beschreiben konnte.

Tante Beatrice wirkte nicht gerade beeindruckt. »Mir kommt das nicht so vor, als hätte es Substanz.«

Dann saßen wir in ungemütlichem Schweigen da und nippten an unserem Tee. Die hölzerne Uhr auf dem Kamin kündete mit ihrem Ticken davon, wie die Minuten vergingen.

»Wir wollten fragen, Tantchen, ob du eigentlich immer noch die Kiste mit unseren Geburtsurkunden und den Papieren über Mum hast.« Charlie stellte ihre Tasse auf den Unterteller und dann beides auf den Sofatisch.

Tante Beatrice runzelte die Stirn. »Natürlich habe ich die noch. Da ist nur nicht viel drin. Warum interessiert ihr euch plötzlich für diese verschimmelten alten Papiere?«

»Wir würden das wirklich gern an uns nehmen, wenn es dir nichts ausmacht, jetzt, wo Abbey und Kip älter geworden sind«, bohrte Charlie weiter.

Die Falte auf Tante Beatrices Stirn wurde tiefer. »Nun ja, ich denke schon, dass ihr die Kiste mitnehmen könntet, wenn ihr das unbedingt wollt, nur ist sie hier völlig sicher, versteht ihr?« Sie erhob sich aus ihrem Sessel und machte sich auf den Weg nach oben, um die Kiste zu holen, vermutlich von der Stelle, an der sie immer schon gestanden hatte, oben auf dem Kleiderschrank.

»Puuh, das ging leichter, als ich dachte«, flüsterte ich Charlie zu, kaum dass der alte Hausdrachen außer Hörweite war.

»Sie wird mich nicht dazu zwingen hierzubleiben, oder doch?«, stammelte Kip und ließ dabei verstört seine Blicke durch Tante Beatrices sauberes und ordentliches Wohnzimmer schweifen. Dabei kratzte er voller Angst mit den Fingern ein Muster in die von Hand gehäkelte Husse über der Sofalehne.

Ich drückte seine Hand. »Sei nicht albern. Du weißt doch, dass wir ohne dich niemals irgendwo hingehen würden.«

Die Treppe knarrte, sodass wir aufhörten zu reden und uns nur noch aufrechter aufs Sofa setzten. Tante Beatrice schlurfte ins Zimmer zurück und trug vor der Brust einen großen viereckigen Pappkarton, der die gesamte Geschichte unserer Familie enthielt. Sie stellte ihn auf den Sofatisch, bevor sie sich wieder in ihren Sessel setzte.

»Ich vertraue dir das an, Charlotte, weil du die Älteste bist.« Ihr Ton ließ darauf schließen, dass sie im Begriff war, uns mit einem unbezahlbaren Schatz zu beschenken.

»Ich werde es in Ehren halten«, versprach Charlie.

»Es ist nichts, was irgendeinen materiellen Wert hätte. Eure Mutter war immer oberflächlich.«

»Fragst du dich manchmal, was mit ihr passiert ist, Tante Beatrice?« Ich wusste nicht, welcher Teufel mich ritt, diese Frage zu stellen. Ich glaube nicht, dass irgendeiner von uns je zuvor gewagt hatte, ihr diese spezielle Frage zu stellen. Kip trat mir mit dem Fuß gegen den Knöchel, um mir zu bedeuten, den Mund zu halten.

Zu meinem Erstaunen füllten sich die stechenden Augen meiner Tante auf einmal mit Tränen. »Ich weiß es nicht, Abigail. Ich gehe davon aus, dass es ein böses Ende mit ihr genommen hat.« Sie nahm eine steife Körperhaltung ein und rümpfte die Nase. »Lally war ständig auf der Suche nach dem tollen Leben. Ich habe sie gewarnt, dass das irgendwann in Tränen enden würde.«

Charlie starrte mich an, und ich stellte meine Tasse ab.

»Wir gehen jetzt besser, Tantchen. Wir werden uns bei dir melden, sobald wir uns in unserem neuen Heim eingerichtet haben.« Charlie stupste mich vorsichtig an, und Kip griff sich den Karton; wir konnten gehen.

»Du wirst vorsichtig sein, Charlotte, versprichst du mir das?« Tante Beatrice folgte uns in die Diele, deren Wände magnolienweiß gestrichene Raufaser zierte.

»Natürlich«, beruhigte Charlie sie. »Ich bin immer vorsichtig, wenn ich fahre.«

Ha! Wenn das keine Lüge war, was dann? Charlie war eine grauenhafte Autofahrerin.

Tante Beatrice biss sich auf die Lippe. »Das habe ich nicht gemeint. Auf die Fahrt bezog sich das nicht. Ich habe gemeint, dass ihr vorsichtig sein sollt mit dem Inhalt dieses Kartons. Eure Mutter ist nicht mehr da; lasst die Dinge ruhen.«

Wir starrten sie an.

»Christopher ist ein sensibler Junge. Es bringt keinen Segen, in der Vergangenheit zu wühlen.«

»Die Polizei hat die Papiere schon tausendmal durchgesehen«, erwiderte Charlie. »Ich erwarte nicht, dass irgendetwas Weltbewegendes dabei ist.«

»Nun, seid einfach vorsichtig, das ist alles. An manchen Dingen rührt man besser nicht.« Fast klangen ihre Worte, als wolle sie einen Rückzieher machen – als habe sie bereits viel zu viel gesagt.

Charlie öffnete die Verriegelung der Haustür. Sie und Kip liefen über den Gehweg zum Minivan.

»Wir werden vorsichtig sein, Tantchen.« Aus einem Impuls heraus beugte ich mich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Ihre Haut fühlte sich trocken an, und ich hatte den Puder auf meinen Lippen und den Geruch ihres Estée-Lauder-Parfums in der Nase. Auf einmal sah sie gebrechlich und alt aus, wie sie da im Türrahmen stand. Mir war, als wisse sie, dass wir die Absicht hatten herumzuspionieren, und als habe sie Angst.

»Viel Glück, Abigail.«

Ich wünschte mir sehnlichst, ich hätte gewusst, was es war, was ihr solche Angst machte.