Wir verbrachten geraume Zeit auf dem Polizeirevier; das Verhör dauerte die ganze Nacht. Als wir alle hinsichtlich der Vorkommnisse des Vorabends und unserer Beziehung zu Freddie befragt worden waren, war ich erschöpft. Charlie hatte den Anwalt angerufen, den Philippe einige Tage zuvor geschickt hatte, und ihn gebeten, zum Polizeirevier zu kommen, um uns zu beraten.
Ich fragte mich, wie wir es schaffen sollten, ihn für seine Dienste zu bezahlen, da er nicht aussah, als sei er billig zu haben. Kip meinte, wir könnten Rechtskostenbeihilfe bekommen, nur glaubte ich selbst nicht daran. Erst recht nicht, dass die Beihilfe ausreichte, einen Mann zu bezahlen, der Anzüge von Hugo Boss und teure Schuhe trug, nur war das jetzt nicht die Zeit, sich darüber Sorgen zu machen, wie wir ihn uns leisten sollten.
Irgendwann durften wir gehen, nachdem wir versprochen hatten, den Landkreis nicht zu verlassen und in der folgenden Woche nochmals für weitere Verhöre zum Polizeirevier zu kommen. Charlie rief uns ein Taxi, und wir fuhren nach Hause. Es war schon fast Mittag, und ich wollte nur noch ins Bett. All das Adrenalin, das mich in den vergangenen zwölf Stunden auf Hochtouren hatte laufen lassen, war aus mir raus, und ich war erschöpft.
Unsere Leibwächter waren entschwunden, nachdem sie gesehen hatten, dass man uns in Polizeigewahrsam nahm. Ich hatte gehört, wie einer von ihnen auf dem Friedhof über sein Handy telefonierte. Er hatte Spanisch gesprochen, und deshalb ging ich davon aus, dass er Philippe Bericht erstattete. Seine Mama würde zweifelsohne erleichtert sein, dass ihr Sohn jetzt jedweden Kontakt zu uns abbrechen konnte, da Freddie tot war und wir uns nicht länger in Gefahr befanden. Ich fragte mich, wie Philippe selbst dazu stand.
Ich starrte im Badezimmer mein Spiegelbild an, bevor ich mir die Überreste meines Bühnen-Make-ups vom Gesicht wusch. Es war kein Wunder, dass Mike so erschüttert gewesen war, als er mich in meiner Kleine-alte-Dame-Aufmachung gesehen hatte. Mit dem Haar, das mir strähnig über den Schultern hing, und dem dicken, zementartigen Make-up, das durch die Versuche, es herunterzureiben, verschmiert und fleckig war, sah ich aus wie eine verrückte alte Obdachlose.
Für einen kurzen Augenblick, als er auf dem Friedhof auf uns zugerannt war und fragte, wo ich sei, hatte ich wirklich gehofft, dass vielleicht, vielleicht ja doch noch eine winzig kleine Aussicht bestand, dass wir wieder zusammenkamen. Er hatte ehrlich besorgt gewirkt; das konnte ich mir nicht eingebildet haben, oder etwa doch? Ich spritzte ein wenig Flüssigseife in meine Hand und rieb sie zu einer schaumigen Masse. Wem wollte ich hier etwas weismachen? Wenn man logisch darüber nachdachte, hatten wir keine Chance, je wieder zusammenzukommen.
Ich wusch mir den Rest des Make-ups vom Gesicht und tupfte es mit einem Handtuch trocken. Jetzt, da die ganze Schmiere herunter war, konnte ich die dunklen Schatten unter meinen Augen sehen, die ich dem Schlafmangel verdankte. Ich war wieder Abigail Gifford. Durchschnittlich aussehend, die Art von Mädchen, die einem in keiner Menschenmenge auffiel. Durchschnittliche Größe, durchschnittliches Haar mit einer mittelmäßigen Figur, nichts, was einen Typen wie Mike veranlassen würde, ein zweites Mal hinzusehen. Ich hatte mir selbst einfach nur etwas vorgemacht.
Kip klopfte gegen die Badezimmertür. »Mach hin, Abbey.«
Ich schloss die Tür auf und ließ ihn herein. Claude jagte ihm in seinem Hamsterball hinterher, und seine Hamster-Barthaare zuckten, als er gegen die Badewanne schlug.
»Ich bin froh, dass du nicht gestorben bist.« Der Adamsapfel in Kips Kehle hüpfte rauf und runter, als er schluckte. Das war eine klassische Kip-Bemerkung.
»Das bin ich auch.«
»Ich will nicht mehr auf einem Bauernhof leben. Nicht, wenn das bedeutet, dass du und Charlie ermordet werdet.«
»Ich denke, mit der Idee mit dem Bauernhof ist es eh vorbei, Kip, und Charlie und ich haben nicht die Absicht, uns ermorden zu lassen.«
»Heißt das, dass ihr keine weiteren Dinger mehr drehen werdet?« Er sah aus, als sei er erleichtert.
»Ich denke, dass wir unsere Karriere als Kriminelle beendet haben.« Das hatten wir tatsächlich, wenn wir Glück hatten. Ich glaube, dass es nach allem, was wir hinter uns hatten, am Ende sogar Charlie reichte. Es musste da einfach auch noch einen anderen Weg geben.
Es war früher Abend, als ich endlich wieder aufwachte und nach unten ging. Meine Kehle war ausgetrocknet, und es kratzte darin, und von meinem Sturz auf dem Friedhof hatte sich tatsächlich auf meinem Oberschenkel ein großer violettfarbener Bluterguss gebildet.
Charlie war bereits in der Küche. »Kip schläft noch.« Sie goss mir eine Tasse Tee ein.
»Wie fühlst du dich?« Es war ungewöhnlich für meine Schwester, dass sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, Make-up aufzulegen, und ihr Haar war schlaff und ungebürstet und zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden. Ebenso wie ich trug sie immer noch ihre Nachtwäsche.
»Es hat schon Tage gegeben, an denen ich mich besser gefühlt habe.« Sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Hat der Anwalt gesagt, was seines Erachtens jetzt als Nächstes passiert?« Sie hatte sich mit dem Gros der rechtlichen Dinge befasst, als wir in Gewahrsam waren. Ich hatte einfach nur sämtliche Fragen beantwortet, die sie gestellt hatten, und mich um Kip gesorgt.
Charlie zuckte mit den Achseln. »Das kommt alles drauf an. Sie wollten eine Obduktion an Freddie vornehmen, aber der Arzt, der am Tatort war, sagte, es sei ziemlich sicher, dass er an einer massiven Herzattacke gestorben ist. Das einzige Beweismittel, das im Hinblick auf irgendein Verbrechen gegen uns vorliegt, ist unser Geständnis, Freddie betrogen zu haben. Da er nicht mehr am Leben ist, kann er deswegen keine Anzeige erstatten, und es ist nicht wahrscheinlich, dass Geld, das auf seinem Konto fehlt, zu uns zurückverfolgt werden kann.«
»Was ist mit anderen Anklagepunkten?« Für meine Ohren klang das alles schrecklich kompliziert.
»Was für Anklagepunkte? Es liegt nichts gegen uns vor. Wir haben vielleicht geplant, Philippe zu betrügen und seinen Safe leer zu räumen, aber wir haben ja real nichts getan. Über unsere Pläne habe ich ihnen nichts erzählt, du etwa?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben mir im Hinblick auf Philippe keine konkreten Fragen gestellt.«
»Dann nehme ich mal an, dass das alles okay geht. Haben Sie dich wegen irgendetwas anderem befragt?« Sie trank einen Schluck.
»Nein. Sie haben nach Freddie gefragt, das war alles.«
Sie stellte ihren Becher wieder auf den Küchentisch. »Ich denke mal, dann müssen wir abwarten und sehen, was passiert.«
»Haben sie mit Kip gesprochen?« Er hätte ihnen alles Mögliche erzählen können, je nachdem, mit welcher Art von Fragen sie an ihn herangetreten wären.
Charlie schüttelte den Kopf. »Ich war mit dem Anwalt dabei, als sie mit ihm geredet haben. Er sollte ihnen lediglich bestätigen, was ich ihnen erzählt hatte.«
Ich trank meinen Tee und dachte über das nach, was sie gesagt hatte. Ich dachte mir mal, dass es um unsere Aussichten, nicht wegen irgendeines Verbrechens angezeigt zu werden, recht gut bestellt war.
»Hast du irgendetwas von Philippe gehört?« Ich hatte mich gefragt, ob der Bericht der Leibwächter über die Vorkommnisse der vergangenen Nacht ihn vielleicht veranlasst hatte, sich zu melden.
Sie schüttelte den Kopf. Eine einsame Träne rann ihr über die Wange und platschte auf den Küchentisch. Sie riss ein Tuch von der Haushaltsrolle und schnäuzte sich die Nase.
»Es ist aus, Abbey. Ich hatte ihn sehr, sehr gern, das weißt du. Ich glaube nicht, dass ich unseren Plan in die Tat umgesetzt hätte.«
Ihre Worte bestätigten mir, was ich von Anfang an geahnt hatte. Sie hatte sich damit verraten, wie sie sich in seiner Gegenwart benommen und wie sie über ihn gesprochen hatte. Ich wusste, dass sie sich erlaubt hatte, sich zu verlieben. Ebenso wie ich mich in Mike verliebt hatte.
»Hast du mit Tante Beatrice gesprochen?« Das war noch so etwas, was mich belastete. Wenn über die Ereignisse des Vorabends in irgendeiner Form in den Medien berichtet wurde – und es bestanden gute Aussichten, dass es so kam –, musste man sie darauf vorbereiten.
»Ich habe sie vor ein paar Stunden angerufen. Die Einzelheiten habe ich ihr nicht erzählt, natürlich nicht.« Sie stockte und verzog das Gesicht. »Aber ich habe ihr gesagt, dass Freddie tot ist und dass alles ziemlich dramatisch war.«
Das war eine Untertreibung. »Wie hat sie darauf reagiert?«
Charlie seufzte und steckte sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Wie man das erwarten durfte. Ich bekam eine Strafpredigt zu hören, die eine halbe Stunde dauerte, und sie drohte mir, Kip zu sich zu holen, da ich augenscheinlich kein Verantwortungsgefühl besäße und du dich ganz offensichtlich ebenso entwickeln würdest. Sie sei von uns beiden sehr enttäuscht und so weiter und so fort.« Sie winkte ab, was bedeutete, dass es die typische Standpauke gewesen war.
Als es plötzlich an der Tür läutete, erschraken wir beide.
»Trink aus. Ich mache auf, das ist wahrscheinlich Sophie.«
Charlie glitt mit den Füßen in ihre flauschigen rosafarbenen Pantöffelchen und tappte in die Diele.
Ein paar Sekunden später stand Philippe in der Küche. Ich entschuldigte mich wortreich und floh mit meinem restlichen Tee nach oben, um meine nahezu traumatisierte Schwester mit ihrem unerwarteten Gast allein zu lassen.
Kip kam im Schlafanzug aus seinem Zimmer. »Wer hat da geschellt?«
»Philippe.«
»Dann ist das Spiel also jetzt zu Ende. Ich wusste nicht, dass es schon so spät ist.« Er gähnte und fuhr sich mit den Händen durch seine Locken, wodurch sie noch irrer aussahen als sonst.
Ich hatte vergessen, dass Philippe heute das Spiel hatte bestreiten sollen. Er musste sich unmittelbar nach dem Abpfiff auf den Weg zu uns gemacht haben. Was immer der Grund sein mochte, dass er Charlie sehen wollte, es musste ihm ziemlich wichtig sein, dass er dafür auf den ganzen Rummel nach dem Match verzichtete und geradewegs hierherraste.
»Ich fand, dass ich sie besser allein lasse, damit sie sich in Ruhe unterhalten können.«
»Ich wollte eine Tasse Tee.« Kip beäugte meinen Becher.
Ich gab ihm meinen Tee.
»Danke, Abbey.« Er verschwand wieder in seinem Zimmer.
Ich wünschte mir, als Fliege an der Wand zu sitzen, damit ich hören konnte, was Philippe meiner Schwester zu sagen hatte, aber da ich dazu nicht in der Lage war, blieb mir nur, wie festgenagelt auf dem Treppenabsatz zu hocken, bis es sicher wäre, wieder nach unten zu gehen. Da ich jedoch nicht beurteilen konnte, wann das der Fall sein würde, konnte ich ebenso gut ein schönes langes Bad nehmen. Und natürlich entschied ich mich für das Bad.
Die Haustür fiel ins Schloss, als ich gerade dabei war, mir die Haare zu föhnen. Ich schaltete den Haartrockner ab und lief mit dem noch halb nassen Haar zurück in die Küche. Charlie erwartete mich im Türrahmen, mit Tränen in den Augen und mit einem Lächeln auf den Lippen, und dann schloss sie mich in die Arme.
»Was ist passiert? Was hat er gesagt?«
Sie wischte sich mit der Hand über die Augen. »Er ist gekommen, um zwischen uns alles wieder in Ordnung zu bringen. Er hat gesagt, er hätte über alles nachgedacht, und was gestern Nacht passiert ist, habe er von Pater O’Mara erfahren.«
Ich muss verstört aus der Wäsche geguckt haben. Meine Schwester griff nach meinen Händen und zog mich ins Wohnzimmer aufs Sofa. »Er hat gesagt, er hätte sich Sorgen gemacht, als die Leibwächter ihn nach der Explosion im Haus angerufen hätten.«
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
»Sie haben ihn dann noch einmal vom Friedhof aus angerufen, nachdem sie mit Kip und der Polizei dort eingetroffen waren. Pater O’Mara hat ihm all die Details berichtet, wie wir auf dem Kirchhof mit einem gefährlichen Mörder fertiggeworden sind.«
»Von wem wusste Pater O’Mara denn, was passiert war?«
»Philippe sagt, die Polizei hätte ihn angerufen, weil Freddie auf Grund und Boden der Kirche gestorben ist.«
»Und Philippe liebt dich immer noch?« Ich freute mich ehrlich für sie. Ich konnte nicht umhin, mir zu wünschen, Mike hätte angerufen und ähnliche Dinge zu mir gesagt.
Charlie nickte. »Bella billigt das allerdings nicht.« Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Sie hat Philippe erklärt, er würde niemals in der Lage sein, mir zu vertrauen.«
Ich blinzelte. »Das war ein bisschen hart.«
Charlie verzog das Gesicht. »Ich konnte kein Gegenargument vorbringen. Nicht, nachdem ich ihm gebeichtet hatte, wie ich das geplant hatte, ihm ins Auge zu fallen, und warum.«
Wahr, doch fand ich immer noch, dass es arg hart gewesen war. »Er muss dich wirklich lieben, wenn er sich deinetwegen gegen Bella stellt.«
»Ich weiß.« Meiner Schwester stieg die Röte ins Gesicht. »Ich wünschte aber, sie würde uns ihren Segen geben. Ich möchte nicht auf schlechtem Fuß mit ihr stehen. Sie ist nicht die Art von Frau, die du zur Feindin haben willst.«
Ich drückte sie. »Sie wird ihre Meinung über dich ändern, wenn sie dich erst einmal besser kennt. Sehe ich das richtig, dass wir nun morgen zur Kirche gehen müssen?«
»Und am Montag auch. Am Nachmittag liest Pater O’Mara für Mum die Totenmesse, schon vergessen? Da müssen wir alle drei hin.« Sie drückte meine Hand.
»Okay.« Ich hätte nicht sagen können, dass ich den Veranstaltungen entgegenfieberte, weder der einen noch der anderen. Es würde sicher schwierig werden, die Gottesdienste auszusitzen, wenn sie uns alle anstarrten. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Geschichte von unserem Abenteuer zwischen den Gräbern mittlerweile die weite, weite Runde gemacht hatte.
Philippe erwartete uns am nächsten Tag vor der Kirche. Er stand allein vor dem Eingang, lächelte und begrüßte die einzelnen Gemeindemitglieder, bevor sie die Kirche betraten. Als er Charlie erblickte, erhellten sich seine Züge, und er lief uns entgegen und küsste sie auf die Wange. Wir hatten Kip daheimgelassen, da es für ihn ein Ding der Unmöglichkeit war, zwei Tage hintereinander einem Gottesdienst beizuwohnen, und wir hielten es für wichtiger, dass er der Totenmesse beiwohnte. Philippe, Charlie und ich betraten gemeinsam die Kirche, hocherhobenen Hauptes.
Bella saß bereits mit Maria auf ihrem angestammten Platz. Als Philippe sich neben Charlie setzte und nicht wie sonst neben seine Mutter, drehte das kleine Mädchen sich um und winkte uns sachte zu. Bella blieb regungslos sitzen, sah uns nicht an und hatte ihren Blick scheinbar starr auf den Altar gerichtet. Es sah nicht so aus, als würde sie in absehbarer Zeit mürbe werden.
Das Leitthema des Gottesdienstes war Vergebung. Ich nahm schon seit längerer Zeit an, dass Pater O’Mara einen Sinn für beißenden, trockenen Humor hatte. Ich bin mir sicher, dass es kein Zufall war, dass er mit seinem milden Lächeln immer und immer wieder Bella bedachte.
Am Ende des Gottesdienstes wies er auf Mums Totenmesse hin und fügte hinzu, dass er hoffe, möglichst viele Mitglieder seiner Gemeinde würden versuchen, der Messe beizuwohnen, um uns in dieser schwierigen Zeit zur Seite zu stehen. Wir hatten noch immer nicht vom Gerichtsmedizinischen Institut gehört, wann Mums Leiche für die Beisetzung freigegeben würde, sodass uns die Totenmesse zumindest eine Art von Möglichkeit gab, mit dem Ganzen abzuschließen.
Bella verließ die Kirche, ohne irgendeinen von uns auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen. Es machte nicht den Eindruck, als seien die Anspielungen, die Pater O’Mara während seiner Predigt gemacht hatte, bei ihr auf fruchtbaren Boden gefallen. Einige Leute murmelten uns beileidsbekundende Worte zu, als wir nach draußen gingen. Philippe begleitete uns zum Kirchtor. Im Licht des Tages sah es anders aus, wunderschön und friedlich.
»Ich werde noch einmal mit Mama reden«, versicherte Philippe Charlie. »Sie vergisst leicht, dass ihr eigener Papa auch nicht gerade eine Stütze der Gesellschaft war.«
Ich erinnerte mich, was Charlie mir vor Urzeiten darüber erzählt hatte, wo das Geld und die Juwelen herkamen, die in Bellas Safe lagerten. Vielleicht hatte Philippe den Nagel auf den Kopf getroffen. Wenn Bellas Vater kein Engel gewesen war, konnte sie schwerlich Charlie zum Vorwurf machen, dass die sich ähnlich benommen hatte. Wie Philippes Großvater hatte Charlie einfach nur getan, was sie konnte, um ihre Familie zu versorgen.
Als wir zu den Gräbern hinüberblickten, konnten wir das helle Klebeband sehen, mit dem der Tatort markiert war. Mir wurde übel, als ich sah, wie unpassend und sachlich es sich von dem grauen Gestein abhob. Charlie und ich waren in jener Nacht nur knapp dem Schicksal entronnen, ebenso tot zu enden wie unsere Mutter. Ein Schauder durchfuhr meinen Körper, als ich mich daran erinnerte, wie Freddie lang ausgestreckt auf dem nassen Rasen gelegen hatte. Wir konnten uns glücklich preisen, noch am Leben zu sein.
Philippe gab Charlie einen Abschiedskuss und machte sich dann auf, seine Mutter und seine Schwester nach Hause zu bringen.
»Ich bin so froh, dass ihr beide wieder zusammen seid.« Ich hakte mich bei Charlie ein, und wir machten uns auf den langen Fußweg zu unserem Haus. Wir hatten noch keine Gelegenheit gehabt, einen Ersatz für unseren armen explodierten VW zu suchen. Zu unserem Glück war es ein trockener Tag, und manchmal kam die Sonne auch mal kurz durch die flockigen Wolken, die über den Himmel jagten. Die Blätter der großen Bäume, die den Bürgersteig säumten, fingen an, sich goldgelb zu färben, und der Duft des Herbstes lag in der Luft.
»Danke. Ich wünschte, es hätte mit dir und Mike auch geklappt.« Sie sah mich an.
Ich wünschte mir ebenfalls, dass es mit uns geklappt hätte. Es tat immer noch weh, wenn ich an ihn dachte, wie eine körperlich erlittene Wunde. Ich fühlte mich emotional ausgelaugt nach allem, was ich durchgemacht hatte. Da ich nichts gehört hatte, konnte er schon wieder in London sein.
Wir bogen von der Hauptstraße ab und in die kleine Seitenstraße ein, in der ich die Dahlien gestohlen hatte. Ich verspürte einen plötzlichen Schmerz, als ich den nackten Flecken Erde inmitten der Blumenpracht sah. Hinter uns ertönte eine Autohupe, und wie drehten beide gleichzeitig die Köpfe, um zu sehen, wer das war.
»Kann ich euch mitnehmen?« Mikes Wagen fuhr langsamer, bis er nur noch neben uns herrollte. Das Dach war unten, und er lenkte das Auto lässig mit einer Hand den Bordstein entlang. Mein Herz hüpfte förmlich vor lauter Entzücken, obwohl ich von seinem Gesicht nicht ablesen konnte, ob es hier um Geschäftliches oder Privates ging. Charlie stupste mich an.
»Ich dachte, ich hätte dich schon mal davor gewarnt, am Bürgersteig entlangzuschleichen.« Etwas Dämlicheres hätte ich kaum sagen können. Es war, als würde sich wiederholen, was an dem Tag geschehen war, an dem er mir angeboten hatte, mich vom Park nach Hause zu fahren. Ich konnte nicht glauben, dass er da war.
»Wenn ihr einsteigen würdet, bräuchte ich nicht am Bürgersteig entlangzuschleichen.« Er schaltete seine Warnblinkanlage ein, damit die Wagen hinter ihm wussten, dass sie ihn überholen konnten. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, und ich wusste, dass er sich ebenso erinnerte wie ich. Meine Knie waren schon leicht weich, und mein Herz raste.
»Steig du ein!«, zischte Charlie mir ins Ohr. Sie schob mich auf den Wagen zu und verkündete dabei: »Ich werde zu Fuß nach Hause gehen. Bye, Abbey.« Sie löste ihren Arm aus meinem und beschleunigte ihren Schritt, sodass ich zurückblieb.
»Und jetzt?« Mikes dunkle Augen blickten in die meinen.
Mein Magen machte einen drolligen kleinen Salto. Ich rannte um die Motorhaube des Autos herum, öffnete die Beifahrertür und sprang hinein. Er fuhr an und wendete mitten auf der Straße, fuhr mit quietschenden Reifen nicht zu uns nach Hause, sondern in die entgegengesetzte Richtung.
»Wohin fahren wir?« Ich konnte nicht so ganz fassen, dass er gekommen war, um mich zu sehen.
»Irgendwohin, wo es ruhiger ist, damit wir reden können.«
Verstohlen beobachtete ich ihn beim Fahren und versuchte, mir dabei schon mal vorzustellen, was er mir wohl zu sagen hatte. Ich wagte nicht, darauf zu hoffen, dass wir zwei noch eine Chance hatten. Zumindest musste ich dankbar dafür sein, dass er nicht gekommen war, um mich zu verhaften.
Kurze Zeit später stellte er den Wagen auf einem kleinen Parkplatz ab, der von hohen, dichtbelaubten Bäumen umsäumt war. Unser Auto war der einzige Wagen auf dem Parkplatz, und das einzige Geräusch war das Zwitschern der Vögel in den Ästen hoch über unseren Köpfen.
»Ich wollte es dir persönlich sagen, obwohl euer Anwalt es euch bald auch offiziell mitteilen wird. Die Beamten, die den Fall bearbeiten, sind der Ansicht, dass wir keinerlei Beweismaterial haben, das gegen dich oder gegen deine Schwester verwendet werden könnte. Gegen keine von euch beiden wird in irgendeiner Form Anzeige erstattet werden.«
Enttäuschung übermannte mich. Es ging also doch um Geschäftliches.
»Vielen Dank.«
»Ich fand es nur angebracht, dass ich derjenige bin, der dir das mitteilt.«
»Ich dachte, du würdest mich nicht wiedersehen wollen.« Ich konnte nicht erkennen, was er für mich empfand. Bereute er, sich mit mir eingelassen zu haben? Mich geküsst zu haben? Ich wünschte, ich wäre nicht eingestiegen und mit Charlie nach Hause gelaufen. In der intimen Enge neben Mike zu sitzen brach mir fast das Herz.
»Ich war mir nicht sicher, welche Abbey ich antreffen würde. Die Abbey, die ich glaubte so langsam kennenzulernen – ein süßes, ehrliches Mädchen mit tollen Augen –, oder die Betrügerin Abbey, ein menschliches Chamäleon und eine vollendete Schauspielerin.« Er drehte sich auf seinem Sitz, um mir ins Gesicht zu blicken.
Autsch. Das war eine faire Stellungnahme, nahm ich mal an, obwohl ich nicht umhin konnte, nur den Teil zu mögen, in dem es geheißen hatte, ich hätte tolle Augen. In diesem Moment suchte sich ein winziger Hoffnungsschimmer seinen Weg ins Leben.
»Wer bist du, Abbey?«
Ich war mir nicht sicher, ob ich diese Frage vor ein paar Wochen hätte beantworten können, doch hatten die Dinge, die sich in letzter Zeit ereignet hatten, maßgeblich dazu beigetragen, mir dahingehend Klarheit zu verschaffen.
»Ich bin Abigail Elizabeth Gifford. Ich wurde von einem Blitz getroffen und kann nicht lügen, wenn man mir eine Frage stellt, deshalb stell mir bitte nur Fragen, wenn du dir sicher bist, dass du die Antwort auch wirklich hören willst.« Ich begegnete seinem Blick und forderte ihn damit heraus, mich zu fragen, was immer er wollte.
In meinem Kopf machte ich einen Handel mit Gott, bei dem ich ihm versprach, willig zu sein, von nun an für alle Zeiten ehrlich zu bleiben, wenn Mike sich weiterhin mit mir treffen würde. Ein Teil von mir erwartete, dass er meine Antwort belächeln würde, doch sah er mich stattdessen weiterhin ernst an.
»Es gibt eine Menge Fragen, die ich dir gern stellen würde.«
»Bist du bereit, die Folgen zu tragen?« Wir wussten beide, dass ich keine andere Wahl hatte, als ihm die Wahrheit zu sagen. Ich schluckte.
»Ich bin bereit.« In seiner Stimme schwang wieder dieser leicht schroffe, erotische Ton mit, der mein Herz zum Schmelzen gebracht hatte, als wir einander zum ersten Mal begegnet waren. Er war vielleicht auf die Konsequenzen vorbereitet, die es haben konnte, je nachdem, welche Fragen er mir stellen würde, doch war ich nicht sicher, ob für mich das Gleiche galt.
»Dann frag los.« Ich bemühte mich um einen heiteren Ton, doch klang ich stattdessen, als habe meine Stimme sich soeben überschlagen.
In seinen dunklen Augen flackerte so etwas wie Gefühl. »Bist du das Mädchen, in das ich mich sofort verliebt habe, als ich es zum ersten Mal in einer Hotelbar gesehen habe?«
Mein Mund wurde trocken, und mein Herz begann zu flattern.
»Das Mädchen bin ich.«
»Habt ihr, du und Charlie, eure Pläne begraben, weitere Straftaten zu begehen?«
»Ja.« Ich wagte kaum zu atmen.
Er beugte sich langsam zu mir herüber und küsste meine Lippen. Prickelndes Verlangen schoss von meinem Mund in meinen gesamten Körper. »Keine weiteren Betrügereien?« Sein Ton war fest, aber seine Augen leuchteten.
»Keine weiteren Betrügereien.«
Wieder küsste er mich, und mein Körper zischte förmlich vor lauter Genuss. Mein Herz schwoll, so glücklich war ich darüber, wieder in seinen Armen zu liegen.
»Darf ich dich morgen Abend zum Essen ausführen?«
Dieses Mal antwortete ich ihm, indem ich seinen Kuss erwiderte.
Am nächsten Nachmittag fanden wir uns alle für Mums Totenmesse in der Kirche ein. Ich hatte Schmetterlinge im Bauch, als Pater O’Mara uns an der Tür empfing. Das war so ungefähr der letzte Schritt, dessen es bedurfte, um die Tür zu unserer Vergangenheit zu schließen. Charlie hatte Kip davon überzeugt, dass er dem Gottesdienst beiwohnen musste, und Sophies Vater hatte seiner Tochter die Erlaubnis erteilt, uns zu begleiten.
Mike hatte gesagt, er würde uns in der Kirche treffen, und Philippe hatte den Segen seines Coaches bekommen, sein Training vorzeitig zu beenden, damit er Charlie zur Seite stehen konnte. Beide Männer hatten Wort gehalten und warteten neben Pater O’Mara in dunklen Anzügen und mit farblich bedeckten Krawatten auf uns. Als Mike nach meiner Hand griff, fühlte ich mich auf der Stelle besser. Philippe legte schützend den Arm um Charlie, und wir bereiteten uns geistig auf den Gottesdienst vor.
Wir wussten nicht, ob sonst noch irgendjemand kommen würde, obwohl Pater O’Mara dazu aufgefordert hatte. Als wir das schwach beleuchtete Innere der Kirche betraten, stellten wir jedoch fest, dass sich etwa ein halbes Dutzend Gemeindemitglieder eingefunden hatten, um uns ihre Unterstützung zuteilwerden zu lassen. Was noch wichtiger war, zumindest so weit es Charlie betraf: An ihrem angestammten Platz saß Bella.
Ich wusste, dass sie nicht gekommen wäre, wenn sie nicht bereit gewesen wäre, Charlie in ihr Leben zu lassen, und als ich zu meiner Schwester hinüberblickte, konnte ich sehen, was sie empfand, als sie Bella erblickte. Philippes Bemühungen und Pater O’Maras Predigt mussten am Ende doch noch eine positive Wirkung auf sie ausgeübt haben.
Mike hielt meine Hand, Philippe hielt Charlies Hand, und als ich durch die Bank schielte, sah ich, dass Sophie auch Kips Hand hielt. Als Pater O’Mara mit dem Gottesdienst begann und wir für Mum beteten, sah es so aus, als würden wir am Ende doch noch alle bekommen, was wir uns gewünscht hatten: ein normales Leben.