Mum

Alfreds Krieg

Alfred war in New York City, als er im Juni 1943 von der Verhaftung Gretes und ihrer Töchter erfuhr. Seit fast drei Jahren lebte er dort und arbeitete im Dienst des britischen Geheimdienstes und des US-Außenministeriums am Informationskrieg gegen Deutschland mit. Und versuchte sein Bestes, um die Familie zu retten.

Fast von Anfang an, nachdem er seine Familie in Amsterdam zurückgelassen und am 1. September 1939 das Jewish Central Information Office in London eröffnet hatte, war er für die Geheimdienste tätig. Der britischen Regierung war nach ihrer Kriegserklärung gegenüber Deutschland zwei Tage später rasch klar geworden, dass sie über ihren Kriegsgegner, das NS-Regime, so gut wie nichts wusste. Man hatte im Vorfeld nicht die geringste Hintergrundrecherche durchgeführt. Alfreds Kenntnisse waren gefragt.

Es fehlte selbst an der grundlegendsten Information.289 Wer leitete die wichtigsten Institutionen in Deutschland? Wie dachten diese Leute? Was wollten sie? Wo arbeiteten sie? Wie sahen sie aus? Wie kleideten sie sich? Alfred und seine Mitarbeiter am Manchester Square waren nahezu die Einzigen außerhalb Deutschlands, die über das Wissen und die Unterlagen verfügten, um solche Fragen zu beantworten. Es dauerte nicht lang, bis einer der Leiter des britischen Kriegsgeheimdienstes das JCIO als »die bei Weitem nützlichste externe Informationsquelle, die uns zugänglich ist« bezeichnete.290

Und nach einigen extrem schwierigen Monaten – es waren dieselben, die Grete schlaflose Nächte bereiteten und die Ersparnisse der Wieners aufbrauchten – erbrachte diese Anerkennung eine solide finanzielle Unterstützung, zuerst vonseiten des Informationsministeriums und später, nach Gründung des Political Warfare Executive, hauptsächlich von dort. Bezahlt wurden nicht nur die Dienstleistungen gegenüber dem PWE, dem »Ausschuss für politische Kriegsführung«, sondern auch die Zuarbeit für das britische Außenministerium und die BBC sowie die Unterstützung der geheimen Tätigkeiten der Spezialeinheit.

Das Verhältnis zur britischen Regierung war zu keiner Zeit einfach. Regierungsbeamte erwarteten Gehorsam für ihr Geld, was weder Alfred noch seinen Mitarbeitern, die großen Wert auf ihre Unabhängigkeit legten, besonders leichtfiel. Auch der Name Jewish Central Information Office passte den neuen Geldgebern nicht, denn er machte allzu deutlich, dass die Briten ihre Informationen über das NS-Regime von Juden bezogen, die naturgemäß ihr Hauptaugenmerk auf die Judenverfolgung legten und weder die Politik noch die Botschaft der britischen Regierung widerspiegelten.291

Von Anfang an mieden die neuen Klienten den Namen JCIO und nannten die Informationszentrale stattdessen »Dr. Alfred Wieners Büro«. Das war allerdings, wie ein Mitarbeiter sagte, eine »ziemlich ungelenke Bezeichnung, die sich nicht ohne Weiteres für die vielgestaltigen, wortgewandten Informationshändler empfahl, die damals am Manchester Square saßen«.292 Einer dieser Informationshändler führte schließlich den Namen Wiener Library ein, und der blieb hängen.

Alfred war der Name nie besonders wichtig. Der Anspruch, dass die Zentrale mehr als »jüdische Information« liefern sollte, störte ihn keineswegs; schließlich entsprach dies der Wahrheit: schon seit geraumer Zeit. Doch war die neue Bezeichnung ein Amerikanismus, und vor allem wollte Alfred sie weder auf dem Türschild noch auf dem Briefpapier sehen: »Wiener« im Titel verletzte seine verschwiegene Vorgehensweise ebenso wie seine persönliche Bescheidenheit. Früher oder später aber benutzten alle den Namen, und er musste sich damit abfinden, ob es ihm passte oder nicht.

Trotz der Spannungen war das Verhältnis zwischen der Library und der Regierung sehr fruchtbar. Bis die Regierung sich mit den Grundlagen vertraut gemacht hatte, ging es anfangs etwas hektisch zu, danach aber standen die Mitarbeiter immer parat, um bei der täglichen Propaganda mitzuwirken und bei allfälligen Krisen einzuspringen.

Als beispielsweise im Mai 1941 Hitlers exzentrischer Stellvertreter Rudolf Heß allein nach Schottland flog, um auf eigene Faust mit dem Duke of Hamilton über einen deutsch-englischen Frieden zu verhandeln, musste die Library darüber aufklären, wer Heß überhaupt war und welcher Gesinnung er anhing, denn es herrschte in einigen Teilen der Regierung die ehrliche, aber irrige Auffassung, Heß sei ein Gemäßigter, der aus Opposition gegen das Regime handle. Am Tag nach Heß’ Landung hatten die Minister ein Dossier der Wiener Library auf ihrem Schreibtisch liegen, das ausführlich und anschaulich über den Stellvertreter des Führers und seinen glühenden Extremismus informierte und zeigte, mit wem man es tatsächlich zu tun hatte.293

Als die Deutschen sechs Wochen später die Sowjetunion überfielen, legte die Wiener Library die ökonomische und politische Bedeutung des jetzt gebrochenen Nichtangriffspakts für die Deutschen dar. Auf dieses Material stützte die BBC ihre ersten Berichte über den deutschen Einmarsch, und auch das Foreign Office bediente sich seiner.

Darüber hinaus war die Wiener Library von direkter militärischer und propagandistischer Bedeutung. Vor der berühmten Operation Chastise, die das Ziel hatte, die Staumauern von sechs Talsperren im heutigen Nordrhein-Westfalen und in Hessen zu zerstören, beschaffte die Library Informationen über die Möhnetalsperre. Und als Deutschland mit Flugzetteln der Alliierten geflutet und mit Rundfunkübertragungen der BBC bombardiert wurde, stammte ein großer Teil der dafür verwendeten Information ebenfalls von der Wiener Library.

Damit einher ging ein generelles Briefing in Form von Bulletins an Ministerien, damit deren Mitarbeiter den Feind besser verstünden. Darunter fielen etwa Berichte über den Humor der Nazis, über die Selbstinszenierung des NS-Regimes, über den Rassismus gegenüber Farbigen und den nationalsozialistischen Ehrenkodex.

Natürlich führte die Library nebenbei ihre Recherchen über die Judenverfolgung weiter; ihre Berichte zählten zu den ersten Informationen über die Vorgänge in Auschwitz und anderen Lagern, denn sie sammelte Augenzeugenberichte von Personen, denen die Flucht aus einem KZ gelungen war, und gab ihr Wissen an alle weiter, die davon erfahren wollten. Das war allerdings nicht das, was ihre Begründer gewollt hatten und förderten.294

Dass das Schicksal der Juden im NS-Staat in der Öffentlichkeit und vor allem staatlicherseits auf so wenig Interesse und Verständnis stieß, hatte vielfältige Folgen. Letztlich spielte dieser Umstand eine große Rolle für den weiteren Werdegang von Grete, meiner Mutter und meiner Tanten.

 

Der Einmarsch der Deutschen in die Niederlande im Mai 1940 hatte Alfred einen schweren Schlag versetzt, auf beruflicher wie auf persönlicher Ebene.

Auf der persönlichen Ebene war es klar. Es bedeutete, dass seine letzten hektischen Bemühungen, die Familie nach England zu holen, gescheitert waren. Seine Frau und seine Kinder waren nun praktisch vollständig von ihm abgeschnitten und mit Gefahren konfrontiert, über die er nur zu gut Bescheid wusste.

Unmittelbar nach der Bombardierung Amsterdams durch die Deutschen suchte ihn einer seiner Verbindungsleute auf, Robert Walmsley. »Dr. Wiener bat mich um Verständnis für seinen verzweifelten Zustand«, berichtete Walmsley,

denn er hatte nichts über das Schicksal seiner Frau und Familie in Erfahrung bringen können, die sich jetzt natürlich praktisch an der Front befanden. Er konnte, entsinne ich mich, seine Tränen nicht zurückhalten, dennoch bestand er darauf, alle Angelegenheiten, deretwegen ich ihn aufgesucht hatte, mit mir zu besprechen … Ich empfand große Bewunderung für seine Tapferkeit.295

Alfred hatte einen zweiten Nervenzusammenbruch, nicht weniger schlimm als 1933, und musste sich mehrere Wochen von seinen Pflichten freinehmen; eine Mitarbeiterin nahm sich seiner an.296 Bis zum Ende des Kriegs war er hin- und hergerissen zwischen den verzweifelten Versuchen, seine Familie zu retten, und der Befürchtung, alle Bemühungen könnten vergeblich sein; der daraus resultierende Druck war enorm.

Unterdessen gab es aber viel zu tun. Als es ihm allmählich wieder besser ging, dachte er darüber nach, wie die Library weiterhin die nötigen Zeitungen, Dokumente und Bücher erhalten sollte, um auf dem Laufenden zu bleiben.

Solange Holland neutral war und das Amsterdamer Büro noch existierte, hatte Alfred sich auf diesem Weg Informationen und Material aus Deutschland beschaffen können, doch diese Route war jetzt blockiert. Und das war der berufliche Tiefschlag. Natürlich gab es noch neutrale Länder; die Schweiz sollte sich später als sehr wichtig erweisen. Aber sich darauf zu verlassen, dass Länder wie Spanien, Portugal und Schweden dauerhaft der deutschen Kontrolle entzogen blieben, schien ihm leichtsinnig.

Alfred dachte sich eine Alternative aus: eine Nachschublinie von Deutschland über neutrale Länder in Südamerika und über die USA nach Großbritannien. Er sprach seine Verbindungsleute in der Regierung auf diese Lösung an und bat um Finanzierung einer Reise in die Vereinigten Staaten, damit er dort alles in die Wege leiten könne. Man war einverstanden.297

Anfang August 1940 traf Alfred in New York ein, wo er dann bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs blieb.

Es ging recht schnell und leicht, bis die Nachschublinie stand. Aber es wurde auch bald klar, dass Alfred nicht sofort nach London zurückkehren würde. Es fiel die Entscheidung, dass es sicherer wäre, wenn einige wertvolle Bestandteile des Archivs über den NS-Staat in New York verwahrt würden und Alfred der dortige Ansprechpartner wäre. Und sowohl der britische wie (nach einer Weile) der amerikanische Geheimdienst erkannten, dass er ihnen in Amerika nützlich sein konnte. Das passte auch Alfred, der unter der Spannung in London gelitten hatte, ebenso wie den Londoner Mitarbeitern: Die wiederum schätzten die Freiheit, die sie gewannen, wenn zwischen ihnen und ihrem fordernden Chef ein paar Tausend Kilometer lagen.

In den USA konnte Alfred sich mancher Lieblingsbeschäftigung widmen, er konnte Antiquariate nach Material durchforsten und Korrespondenzen mit den in Amerika lebenden Juden führen, etwa mit Alfred Einstein, mit dem er seit Anfang der dreißiger Jahre in Verbindung stand.298 Es trug zu seiner Genesung bei.

Eine kurze Weile wohnte er in einem Apartment im oberen Teil von Manhattan und zog dann in das sechzehn Stockwerke hohe Hotel Century in Midtown, in der 111 West 46th Street unweit des Times Square. Dort kam er wieder mit einem alten Freund aus Zeiten des Centralvereins zusammen, mit Hans Oppenheimer, der 1938 mit seiner Frau Hertha in die USA ausgewandert war, sich in John umbenannt und eine Wohnung in Queens angemietet hatte. Gemeinsam richteten sie nun den amerikanischen Außenposten der Library für Kriegszeiten ein: Ein Teil des Archivs wurde in Alfreds Hotelzimmer gelagert, ein anderer im Keller des Hauses in Queens.

Einer der ersten Berichte aus New York, die Alfred im Sommer 1940 der britischen Regierung schickte, zeichnet ein pessimistisches Bild von der öffentlichen Meinung gegenüber dem Krieg. Zu Beginn seiner Amtszeit als Premierminister schätzte Churchill schon sehr genau die zentrale Bedeutung der amerikanischen Beteiligung und Unterstützung ein, und Alfreds Nachrichten waren nicht ermutigend. Es herrsche in New York »keinerlei Kriegsbegeisterung«, meldete er nach London.299

Ja, die New Yorker wollten Hitler besiegt sehen und waren sich darüber im Klaren, welche Bedeutung sein Sieg hätte, doch hatte Alfred noch niemanden getroffen, der »bereit [war], echte Opfer für England und die Sache der Alliierten zu bringen«. Hingegen kam er immer wieder mit Leuten zusammen, darunter auch ranghohen Politikern, »die, wie ich bedauerlicherweise sagen muss, England als erledigt betrachten«. »Sie befürchten nicht nur, sondern sind sich absolut sicher, dass nichts Hitlers enorm überlegene Macht aufhalten kann.«

Alfred fand, Amerika sei ein »merkwürdiges Land«, und die amerikanischen Behörden sahen ihn umgekehrt als genauso merkwürdig.300 Wer war dieser Deutsche, der anscheinend haufenweise Nazimaterial in seinem Hotelzimmer bunkerte und in Queens einen weiteren Vorrat angelegt hatte? Die Pakete mit Nazizeitungen, die aus Südamerika und der Schweiz bei den Oppenheimers eintrafen, veranlassten das FBI zu einer Durchsuchung der Wohnung und einer Vernehmung Alfreds und seiner Kollegen.301 Alle wurden eingehend befragt, und es dauerte Monate, bis die Ermittlungen endlich eingestellt wurden.

Am Ende erkannte das US-Außenministerium den Wert dieser Arbeit. Alfred und John knüpften Beziehungen zu den Ministerialmitarbeitern, begutachteten fremdsprachige Publikationen und interviewten jüdische Flüchtlinge nach der Ankunft in den USA. Hauptsächlich jedoch war Alfred für Großbritannien tätig.

Nach Pearl Harbor und Amerikas Kriegseintritt war es nötig, die jeweiligen Kriegsanstrengungen der neuen Verbündeten zu koordinieren. Infolgedessen versetzten die Briten einige ihrer Propagandamitarbeiter in die USA, wo sie sich ihre Operationsbasis in New York einrichteten. Das neue Team bestand aus Bewunderern und alten Freunden, die Alfred für einen »unschätzbaren Gewinn«302 hielten, und es begann eine enge Zusammenarbeit.

Man musste die amerikanischen Medien dazu bringen, dass sie sich für den Krieg einsetzten und über den Feind aufklärten; und man musste London über die öffentliche Meinung in den USA in Kenntnis setzen. Das Team übernahm heimlich Kurzwellensender, die in den Nahen Osten und nach Jugoslawien berichteten, und erwarb eine Presseagentur, um fremdsprachige Zeitungen, die von ethnischen Minderheiten in den USA gelesen wurden, mit Nachrichten zu beliefern.303 Die Beschaffung von Propagandamaterial war ja ein Spezialgebiet von Alfred.

An der Spitze des PWE, des britischen Ausschusses für politische Kriegsführung, stand der jüngste Bruder der Königin, David Bowes-Lyon. Ihm unterstanden Walter Adams, der spätere Direktor der London School of Economics; der Historiker John Wheeler-Bennett; und der Philosoph Isaiah Berlin.

Diese Männer wurden Alfreds Freunde und Unterstützer; Berlin bezeichnete ihn als »bemerkenswerten Mann« und hob seine »unerschütterliche Hingabe« hervor.304 Auf Wheeler-Bennett machte Alfred so viel Eindruck, dass der in seinem Buch über Amerika ein ausführliches Porträt eines Mannes zeichnete, den er einen »drolligen kleinen Berliner Juden« mit dem »koboldhaften Humor« eines deutschen Gassenjungen nannte. Ins Herz geschlossen hatte ihn der Brite wegen Alfreds Geschichten als Kommandant über »zweihundertfünfzig Kamele« im Ersten Weltkrieg und fand ihn »köstlich« – trotz unverkennbarer Herablassung des Adligen gegenüber dem Bürgerlichen.

Wheeler-Bennett berichtet, wie ihn Alfred irgendwann in der Anfangszeit des Kriegs in New York aufsuchte, und als er in den Warteraum trat, sah er einen »distinguierten, aber äußerst empfindsamen zionistischen Anwalt« geduldig wartend dort sitzen. Alfred faltete sorgfältig die Zeitung zusammen, die er gelesen hatte, stand auf und kam durch den Raum auf den ihm gänzlich unbekannten Mann zu. Er sprach ihn an: »Do not post your letters in der mail boxes. Der spies feesh them out mit feesh hooks.« Mit dieser unheilvollen Warnung vor Spionen, die mit Angelhaken Briefe aus Briefkästen fischen, verließ er den Raum ohne weiteren Kommentar.

»Mein zionistischer Freund«, schrieb Wheeler-Bennett,

betrat zitternd vor Besorgnis und Bestürzung mein Büro. »Würden Sie mir freundlicherweise mitteilen«, fragte er mich mit bebender Stimme, »wie ich mit meinen Freunden und meinem Büro in London korrespondieren soll, wenn ich die postalischen Einrichtungen dieses Landes nicht unbedenklich nutzen kann?« Ich beschwichtigte und beruhigte ihn, indem ich erklärte, dies sei nur Dr. Wieners kleine Befürchtung, und als der Herr Doktor das nächste Mal kam, tadelte ich ihn wegen ungebührlichen Hochmuts; er antwortete: »Ach, Herr General-Oberst, er wirkte so bedrückt, ich wollte ihn nur ein wenig aufheitern.«305

Es war typisch Alfred, dass er seinen Humor auch unter düstersten Umständen nicht verlor; dennoch war der Aufenthalt in New York keine leichte Zeit für den drolligen kleinen Berliner Juden.

Bevor seine Frau und seine Töchter deportiert wurden, erhielt er noch die eine oder andere Nachricht von ihnen; sie kamen selten und waren nie ausführlich. Ein Geburtstagsbrief von Ruth im Jahr 1941 erfüllte ihn mit Freude. Doch das Telegramm, das er Grete im November 1942 über das Rote Kreuz zukommen ließ, traf erst sechs Monate später ein; und die Antwort aus Amsterdam brauchte für den Weg nach New York vier Monate. Es stand nichts weiter darin, als dass es seinen unmittelbaren Angehörigen und diversen ferneren Verwandten (Trude, Jan und Fritz zum Beispiel) gut ging, und zu dem Zeitpunkt, als diese magere Information zu Alfred gelangte, stimmte sie schon nicht mehr. Die meisten Genannten waren unterdessen verhaftet worden, einige schon tot.

Als Alfred vom deutschen Einmarsch in die Niederlande erfuhr, war ihm klar, dass die Zeit gegen ihn arbeitete. Mit jedem weiteren Monat wuchs die Gefahr für seine Familie. Und so machtlos er sich gefühlt haben mochte – Grete war noch viel machtloser. Er musste handeln. Und es waren zwei Probleme zu lösen: Es galt ein Land zu finden, das bereit war, seine Familie aufzunehmen, und, irgendwie, die NS-Besatzer zu überreden, dass sie seine Familie ausreisen ließen. Jedes für sich war schwierig genug; beides zugleich war eine Quadratur des Kreises.

Alfred versuchte erst das Nächstliegende. Sobald die Reise nach Amerika feststand, bemühte er sich um US-Visa für alle vier. Über eine seiner Kontaktpersonen in der Schweiz, eine gewisse Camille Aronowski, ließ er Grete eine Nachricht zukommen, und sie trug sich und die drei Mädchen beim US-Konsulat in Rotterdam als Antragsteller für das »deutsche Kontingent« von Einwanderern ein. Doch der Antrag verlief im Sand.

Er versuchte es anderswo: in Kuba. Eine Zeitlang schien dieser Weg vielversprechend. Im Sommer 1941 erwirkte Aronowski beim kubanischen Konsulat im spanischen Bilbao eine Zulassungsnummer für ein kubanisches Visum (10894). Es gab sogar eine Korrespondenz, wie der Transport zu bewerkstelligen sei, und Gretes Chefin Gertrude van Tijn schaltete sich ein – schließlich war sie zuständig für jüdische Auswanderung, soweit sie überhaupt möglich war. Am Ende aber konnte sie nur schlechte Nachrichten weitergeben, die über die amerikanischen Kontaktpersonen auch an Alfred gingen. Der Transport war nicht das Problem; es wäre sogar das Geld für die Schiffspassage aufzutreiben gewesen. Das Problem waren die Ausreisegenehmigungen. Sie werde, schrieb van Tijn, ihr Möglichstes tun, um die Wieners an die Spitze der ersten Liste zu setzen, das sei jedoch nicht genug, denn »sogar die Personen, die alle Angelegenheiten in Ordnung haben, bekommen keine Ausreiseerlaubnis«.306

Bald trafen noch schlimmere Nachrichten ein. Alfred war nicht der Einzige, der kubanische Visa erhalten hatte: Mehrere Tausend andere hatten denselben Weg versucht. Am Ende erwies sich alles als Betrug, um Menschen, deren Verzweiflung größer war als ihre Vorsicht, das Geld aus der Tasche zu ziehen. Im April 1942 annullierte der kubanische Präsident sämtliche Visa, die Bürgern von Ländern unter deutscher Besatzung ausgestellt worden waren.307

Zielführender – allerdings nur insofern, als sie schwerlich noch weniger zielführend hätten sein können – waren Alfreds Bemühungen, Grete und den Mädchen Visa für das unter britischer Herrschaft stehende Palästina zu beschaffen. Im Dezember 1941 hatte auf Betreiben der Alliierten ein Austausch stattgefunden: siebenundsechzig in Palästina lebende deutsche Staatsangehörige kehrten nach Deutschland zurück und siebenundvierzig in Polen festsitzende palästinensische Juden nach Palästina. Es ließ die schwache Hoffnung keimen, dass auch einmal ein Austausch in größerem Umfang möglich wäre.

Über die in Palästina lebende, mit ihm befreundete Alice Plaut und über van Tijn half Alfred seiner Frau beim Antrag auf eine Einwanderungserlaubnis. In der Praxis bedeutete dies aber nichts weiter, als dass sie in eine Liste von Personen aufgenommen wurden, die für einen Austausch infrage kamen, sofern überhaupt noch einmal einer stattfand. Ursprünglich wurden diese Genehmigungen jenen ausgestellt, die in Palästina gelebt oder dort Blutsverwandte hatten, später auch Personen, die bestimmte Verbindungen nach Palästina hatten oder nachweisen konnten, dass sie sich für die jüdische Gemeinde eingesetzt hatten. Letztere waren sogenannte »altgediente Zionisten« – eine ironische Kategorie, für die dank der politischen Vorgeschichte von Alfred und Grete auch die Wieners infrage kamen.

Die holländische Liste der Antragsteller auf eine Einwanderungsgenehmigung war eine von vielen und garantierte nichts. Dennoch spielte sie eine wichtige Rolle für das Überleben der Familie.

Sie war allerdings nicht so wichtig wie die Gruppe polnischer Exilanten in der Schweiz, die dafür sorgten, dass aus den Wieners Bürger von Paraguay wurden.

Paraguayische Staatsbürger

Das Dokument, das meiner Mutter das Leben rettete, sieht genau so aus, wie offizielle Papiere aussehen sollen. Es hat einen festen blauen Einband mit der Aufschrift PASSEPORT in goldgeprägten Lettern. Schlägt man den Pass auf und faltet das Innenblatt auseinander, zeigt es sich voller Stempel und Fotografien und Unterschriften. Und die sind alle echt, angebracht von der zuständigen Behörde. Dieser Passierschein ist keine Fälschung.

Doch etwa in der Mitte der Seite steht eine faustdicke Lüge. Eine, von der alle, die damit zu tun hatten – die Aussteller, der Unterzeichner, deren übergeordnete Regierung, die Passinhaberin, jedes Land, das den Pass voraussichtlich anerkennen würde, Deutschland eingeschlossen –, wussten, dass es eine Lüge war.

Das Zustandekommen des Dokuments und sein Erfolg trotz offensichtlicher Unechtheit, das ist das große, das enorme Glück meiner Mutter im Krieg.

Es begann mit einer Entdeckung, die nicht mit Juden und nicht einmal mit Nazis zu tun hatte. Sondern mit den Polen und den Sowjets. Mit der Entdeckung einer Gruppe von Diplomaten unter Leitung eines gewissen Aleksander Ładoś.

Nach dem Überfall der Deutschen und der Sowjets auf Polen 1939 floh die Regierung ins Ausland und bildete später eine Exilregierung in London. Diese hatte mehrere diplomatische Außenposten, unter anderem in der Schweizer Hauptstadt Bern. Und dort war Ładoś; er leitete die polnische Gesandtschaft.

De facto war Ładoś der Botschafter Polens in der Schweiz, obwohl er nicht diesen Titel trug. Der deutsche Außenminister Ribbentrop hatte die Schweizer wissen lassen, dass Deutschland seine Diplomaten abziehen werde, sollten sie Ładoś als Botschafter anerkennen. Und die Schweizer legten wie die Holländer vor dem Einmarsch der Deutschen allergrößten Wert auf den Erhalt ihrer Neutralität. Daher war Ładoś nur Chargé d’affaires.308

Die Sorge der Schweizer um ihre Neutralität bedeutete für Ładoś mehr als nur die Verweigerung des Titels, der ihm kraft seiner Stellung zugestanden hätte. Tatsächlich beobachteten die Schweizer sein Tun und Lassen mit Argusaugen, um sicherzugehen, dass er nur ja nichts tat, was den Deutschen missfiel. Zumal wenn er am Ende gar Flüchtlinge ermutigte, sich in die Schweiz durchzuschlagen. Zumal wenn diese Flüchtlinge jüdisch waren.

Ładoś, der seine Zelte in der konsularischen Abteilung der polnischen Botschaft aufgeschlagen hatte, scharte ein Team um sich, das bald die Ładoś-Gruppe genannt wurde und gewiss Hunderten, womöglich Tausenden das Leben rettete. Der stellvertretende Leiter der Gesandtschaft hieß Stefan Ryniewicz, und der eigentliche Chef der konsularischen Abteilung war der ehemalige Kavallerieoffizier Konstanty Rokicki.309 Das vierte Mitglied des Quartetts war ein kleiner, geselliger, Zigarre rauchender Jude namens Juliusz Kühl.310 Dieser Kühl war im Süden Polens geboren, aber schon im Alter von neun Jahren nach Zürich gekommen. Er besaß als Einziger der vier keinen formellen diplomatischen Schutz, und dieser Umstand sowie sein Einwandererstatus machten ihn später angreifbar.

Jeder der vier spielte eine wichtige Rolle bei der nun folgenden Rettungsaktion, doch ohne Ładoś als Initiator und Leiter wäre sie zweifellos gescheitert.

In den ersten Monaten nach dem sowjetischen Einmarsch in Ostpolen suchte die Ładoś-Gruppe nach Möglichkeiten, den Polen bei der Flucht aus der Sowjetzone zu helfen. Und in diesem Zusammenhang machten sie besagte Entdeckung: Paraguay hatte in Bern einen Honorarkonsul, den Schweizer Notar Rudolf Hügli, der bereit zu sein schien, als paraguayischer Konsul gegen Bezahlung Pässe herauszugeben. Die polnische Gesandtschaft brauchte nur Fotografien, Angaben zur Person und eine ansehnliche Summe zu beschaffen. Mit dem paraguayischen Pass könnten Polen über die japanische Stadt Kobe der sowjetischen Besatzung entkommen.

Die Ładoś-Gruppe versuchte es, und es klappte tatsächlich. Kühl sagte später, es habe rund dreißig Menschen vor den Kommunisten gerettet.311 Daraufhin begannen sie mit einem sehr viel ehrgeizigeren Unterfangen.

Und die Schweizer Regierung tat alles, um sie zu stoppen.

 

Alfred war natürlich nicht der einzige Jude, der sich bemühte, irgendeine Form von Akkreditierung für seine Familie zu beschaffen. Nach dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion und dem Beginn ihrer »Endlösung« versuchten Juden aus ganz Europa um jeden Preis einen Pass oder ein Visum oder auch nur einen Brief von einer ausländischen Botschaft zu bekommen – irgendetwas, das nahelegte, dass sie unter dem Schutz eines Landes standen, das die Deutschen noch nicht überfallen hatten.

Natürlich wäre es großartig, wenn sie tatsächlich in das jeweilige Land entkämen, aber die physische Auswanderung war eigentlich sekundär. Das Wichtigste war es, Papiere zu haben, mit denen man irgendwohin ausreisen konnte – oder, realistischer, mit denen man den Mördern ein Zögern abringen konnte: Inhaber ausländischer Pässe wurden eher interniert, während sie ohne Pass meist direkt ins Gas geschickt wurden.

Daher begann die Ładoś-Gruppe mit der Beschaffung ausländischer Pässe. Zumal Ładoś schätzte die Gefahr, in der sich die Juden befanden, korrekt ein. Die polnische Exilregierung gehörte zu den Ersten, die erkannten, welche Wende die NS-Politik 1942 genommen hatte, und die Berner Diplomaten waren entschlossen, das ihnen Mögliche zu tun. Daher gingen sie daran, ihre Rettungsaktion für eine Handvoll Polen auf Tausende Juden auszuweiten. Die Pässe aus Paraguay – und anderen lateinamerikanischen Ländern –, die sie ausstellten, reichten zwar nicht aus, um alle, die auf diese Weise Passinhaber wurden, tatsächlich zu retten. Aber für alle, die einen Pass erhielten, war er besser als nichts. Und für einige, meine Mutter eingeschlossen, war er lebensentscheidend.

Das ging so: Zunächst traten die Diplomaten an drei Mitglieder der israelitischen Gemeinde heran und luden sie ein, der Ładoś-Gruppe beizutreten. Der eine war Abraham Silberschein, Anwalt, Politiker und polnischer Jude, der wegen des 21. Zionistenkongresses im August 1939 nach Genf gekommen war und sich nach Kriegsausbruch zum Bleiben entschlossen hatte. Er begann für die Flüchtlingshilfe zu arbeiten und lernte dabei seine spätere Frau Fanny Schulthess-Hirsch kennen, das zweite Mitglied. Der Dritte war der Rabbiner Chaim Yisroel Eiss, einer der Gründer der ultraorthodoxen jüdischen Organisation Agudat Jisra’el und deren wichtigster Vertreter in der Schweiz.312

Diese drei und ein Netzwerk von Helfern besorgten den Diplomaten die nötigen Angaben von Juden, denen mit der Ausstellung eines paraguayischen Passes geholfen wäre. Sie beschafften auch einen Großteil des nötigen Gelds, dabei unterstützt von Mitteln der polnischen Exilregierung, etlichen Spendern in den USA und der wohlhabenden Familie Sternbuch, Schweizer Juden vom Genfer See.

Währenddessen suchte einer der Konsulatsmitarbeiter, meist war es Kühl, den paraguayischen Konsul Hügli in dessen Amtssitz auf, um Blankopässe zu holen und die Bezahlung auszuhandeln: Die Gebühr, die Hügli pro Pass berechnete, schwankte, weil häufig mehrere Personen in einem Pass eingetragen waren, und betrug zwischen 500 und 2000 Schweizer Franken. Das heißt, sie kosteten in manchen Fällen so viel, wie ein durchschnittlicher Arbeiter in einem halben Jahr verdiente.

Für Hügli wurde die Sache zu einem beachtlichen Geschäft. Er verkaufte mindestens 1000 Pässe an die Polen, akkreditierte über 2000 Personen.313 Zuerst brauchte er seinen Vorrat an Blankopässen auf, später musste er nachdrucken lassen. Pro Pass erhielt er mindestens das Tausendfache der Druckkosten.

Sobald man handelseinig war, brachte Kühl die Vordrucke zu seinen Kollegen, und dann saßen sie bis spät in die Nacht beisammen und füllten in Großbuchstaben die Leerzeilen. Der Schreiber war meist Rokicki; die Mehrzahl der noch erhaltenen Pässe der Ładoś-Gruppe zeigt seine Handschrift.

Der Text der Passierscheine ist Französisch. Über dem Blatt stehen die gedruckten Worte AU NOM DE LA RÉPUBLIQUE DE PARAGUAY, und darunter bittet der Konsul der Republik Paraguay in Bern »hiermit alle mit der Wahrung der öffentlichen Ordnung und allgemeinen Sicherheit betrauten Behörden und Angestellten, den Inhaber des vorliegenden Dokuments frei und ungehindert passieren zu lassen«.

Handschriftlich folgten die Namen der Passinhaber, unter Umständen war es eine ganze Familie. Auch wurden Passbilder eingeklebt, bei den Erwachsenen zusätzlich ein paar körperliche Merkmale wie Augenfarbe, Größe, Gesichtsform – so nichtssagend und unpräzise wie möglich, damit die Papiere weiterbenutzt werden konnten, falls einer der vorgesehenen Empfänger vor ihrer Fertigstellung sterben sollte.

Es folgte die offensichtliche Lüge: In der Zeile, in der die Herkunft des Passinhabers beziehungsweise der Passinhaber eingetragen war, stand PARAGUAY. Wie allen Beteiligten klar war, hatte keine der als Paraguayer bezeichneten Personen auch nur die geringste Verbindung zu Paraguay.

Am Ende der Seite standen das Datum der Ausstellung und die Gültigkeit, nach deren Ablauf eine offizielle Bestätigung erforderlich war. Die ausgefüllten Passierscheine brachte Kühl abermals zu Hügli, der sie auf der Vorder- und Rückseite unterschrieb und mehrfach stempelte.

Was der Konsul verabsäumte, war, die paraguayische Regierung über sein Tun in Kenntnis zu setzen. Es informierte auch niemand die Schweizer.

 

Als Kühl begann, die Pässe ins deutsch besetzte Polen zu schmuggeln, manchmal unter Rückgriff auf Bestechung der deutschen Besatzer, und an die jüdischen Empfänger zu verteilen, verbreitete sich die Kunde von ihrer Existenz sehr rasch. Wie nicht anders zu erwarten.

Der paraguayische Konsul in Bern war zwar der wichtigste Passlieferant der Ładoś-Gruppe, doch mischten auch andere südamerikanische Diplomaten mit: Der Schwindel füllte die Taschen der Schweizer Vertreter von Honduras, Haiti und Peru. Die Aussicht darauf, einen Ładoś-Pass in die Hand zu bekommen, war ein Hoffnungsschimmer erst für polnische, dann auch für andere europäische Juden.

Im Warschauer Ghetto schrieb Władysław Szlengel ein Gedicht mit dem Titel »Pässe«, in dem es heißt:

Wie gern hätte ich einen paraguayischen Pass,

Freiheit und Wohlstand winken dort,

ah, wäre es gut, ihm anzugehören,

diesem Land genannt: Paraguay.

In der letzten Strophe offenbart der Dichter, dass er zwar gern ein Bürger Paraguays wäre, im Grunde aber nur deshalb, weil er als solcher das Recht hätte, »in Frieden dann in Warschau zu leben / der Schönsten – das ist nicht zu leugnen«.314

Doch je mehr Juden von den segensreichen Pässen erfuhren, desto größer wurde die Gefahr, dass die Ładoś-Gruppe aufflog.

Im Dezember 1939 hatte sich der Schweizer Außenminister Marcel Pilet-Golaz mit Hitlerbärtchen und Rechtsscheitel für die Schweizer Illustrierte ablichten lassen. Dass er seine epigonenhafte Aufmachung für attraktiv hielt, erlaubt einen Rückschluss auf die damalige Ausrichtung der Landespolitik. Seine Gesinnung teilte Heinrich Rothmund, Chef der Schweizer Fremdenpolizei, der im selben Jahr bereits vor der »Verjudung« des Landes gewarnt hatte.315

Falls einem dieser beiden zu Ohren käme, was die Ładoś-Gruppe tat, würden sie versuchen, ihnen das Handwerk zu legen, so viel stand fest. Beinahe wäre es passiert, bevor die Gruppe überhaupt loslegte. 1941 versuchte Hüglis Vorgesetzter, der paraguayische Generalkonsul Walter Meyer, die Schweizer Behörden in Kenntnis zu setzen, dass sein Untergebener hohe Gebühren für unvorschriftsmäßige Papiere verlangte. Meyer informierte Karl Stucki, den Leiter des konsularischen Dienstes, der seinerseits die Polizei informieren wollte. Ein Glücksfall sorgte dafür, dass der Brief auf dem Weg zu Rothmund in einem postalischen Nirwana verschwand.

Das Glück verließ die Gruppe jedoch im April 1943. Die Generalstaatsanwaltschaft der Schweiz verhaftete einen deutschen Spion aus Gründen, die mit den Aktivitäten der Ładoś-Gruppe an sich nichts zu tun hatten. Jedoch war zufällig eine der Zielpersonen des Spions der Rabbiner Shaul Weingort, der die Ładoś-Gruppe mit Personendaten belieferte. So kam es, dass der Spion beim Verhör durch die Eidgenössische Staatsanwaltschaft neben anderem die Existenz der Rettungsmission aufdeckte.

Diese Information setzte eine verheerende Kette von Ereignissen in Gang. Im Mai durchsuchte die Polizei die Wohnungen weiterer Helfer, darunter Chaim Eiss, bei dem sich Umschläge mit Passbildern und Personenangaben fanden. Mit der Konfiszierung des Materials verurteilten die Polizeibeamten alle, von denen die Angaben stammten. Der Bericht ans Außenministerium erreichte auch Karl Stucki. Dem Leiter des konsularischen Dienstes wurde klar, dass sein Brief von 1941 verloren gegangen war, und er äußerte seine Sorge, dass Hügli nichts weiter als ein Betrüger mit lukrativem Geschäftsmodell sei. Der Außenminister wies die Polizei an, die Ordnung wiederherzustellen und dem Passfälscherring das Handwerk zu legen.

Dann wurde der Polizei klar, dass etwas fehlte. Bei den verhafteten Helfern hatten sich Geld, Fotografien, Personendaten und Bittbriefe von Juden gefunden; was sie nicht hatten, waren Blankopässe. Auch bei den verhafteten Juden fanden sich keine Blankopässe; sie konnten nicht allein gehandelt haben. Ebenso wenig Hügli: Woher hätte er die Angaben über die Personen haben sollen. Es musste eine Verbindung geben, einen oder mehrere weitere Beteiligte.

Die Spur führte bald zu Abraham Silberschein, Fanny Schulthess-Hirsch und schließlich zu den übrigen Mitgliedern der Ładoś-Gruppe. Die beiden ersten saßen eine Woche lang in Einzelhaft und wurden unter Druck gesetzt, damit sie aufdeckten, wie das System funktioniert hatte. Für sie beide und Kühl obendrein war die Lage brenzlig. Sie waren nur geduldete Ausländer in der Schweiz, besaßen keine diplomatische Immunität und konnten jederzeit ausgewiesen werden.

Aber auch Ładoś war in Gefahr. Es konnte ihm seine Legitimation entzogen werden. Doch er blieb eisern. Energisch verteidigte er das Unternehmen und die Mitglieder seiner Gruppe. Den Schweizer Behörden teilte er mit, er könne nicht begreifen, weshalb sie sich in eine Angelegenheit hineinziehen ließen, die nur Paraguay und Polen etwas angehe und die Schweizer in keiner Weise gefährde. Sie sollten einfach nur den Blick abwenden. Schließlich gehe es um die Rettung von Leben, und – subtile Androhung öffentlicher Bloßstellung – wie stünden die Schweizer denn da, wenn sie sich zu Komplizen machten und Menschen in den Tod schickten, nur weil jemand gegen bürokratische Vorschriften verstoßen habe?

Seine Argumente fanden nur teilweise Gehör. Die Schweizer sahen ein, dass sie die Ładoś-Gruppe nicht zu bestrafen brauchten. Ładoś und Kühl konnten weiter an der polnischen Botschaft arbeiten; Silberschein und Schulthess-Hirsch konnten in der Schweiz bleiben. Hügli aber, entschied der Bundesrat, müsse abgesetzt werden. Dasselbe Schicksal ereilte die anderen südamerikanischen Konsuln, die Pässe verkauft hatten.316

Hügli unterschrieb und stempelte seine letzten Pässe im Herbst 1943. Er datierte sie auf Ende Dezember 1942, um jeden Verdacht, er habe auch nach seiner Absetzung Amtshandlungen begangen, zu entkräften. Von da an war der Fluchtweg versperrt.

 

Der Pass, der meine Mutter nach Bergen-Belsen begleitete, ist eine klassische Ładoś-Kreation. In Rokickis charakteristischen Großbuchstaben stehen Details der Familie Wiener auf dem Passierschein. Daneben die Passbilder von Grete und ihren drei Töchtern; Gretes Bild zeigt sie abgehärmt und traurig. Die Geburtsdaten und Namen sind alle korrekt, nur der Name meiner Mutter ist fälschlich »Miriam« geschrieben. Grete ist beschrieben als braunhaarig und braunäugig, mit normaler Nase, normalem Mund, normalen Zähnen und etwas größer als durchschnittlich; tatsächlich war sie auffällig groß. Und natürlich enthält das Papier die Standardlüge, die Wieners stammten aus Paraguay.

Direkt über Hüglis Unterschrift ist der Pass auf den 30. Dezember 1942 datiert, was ein Hinweis darauf ist, dass er in Wahrheit vom Herbst 1943 stammt, als das Unternehmen bereits abgewickelt wurde. Und darüber der Gültigkeitsvermerk für den Zeitraum von zwei Jahren mit der impliziten Drohung, dass die Nützlichkeit des Passes enden könnte, bevor der Krieg endete.

Auch wenn man die Geschichte seiner Entstehung kennt, fragt man sich beim Anblick dieses Dokuments, wie Alfred dazu kam. Und was genau der Nutzen dieses sonderbaren Elaborats war.