Mum

Westerbork

Der NS-Sicherheitsdienst war sehr zufrieden mit sich. »Von den 140000 Juden sind 102000 jetzt fort. Die Festnahmen am 20. Juni waren ein großer Erfolg«, berichtete die Amsterdamer Dienststelle an das Sicherheitshauptamt. »Die holländische Bevölkerung ist nicht einverstanden, hat sich aber nicht widersetzt.«358

Die Verhaftungswelle im Juni 1943, der meine Großmutter, meine Mutter und ihre Schwestern zum Opfer fielen, war eine der bis dahin größten. 5542 Menschen wurden fortgebracht, der Großteil der Juden, die in diesem Sommer noch im Süden und Osten von Amsterdam lebten. Darunter war auch der Rest unserer nächsten Verwandten, Gretes Schwester Trude, deren Mann Jan und Fritz, der einzige Vetter meiner Mutter. Auch Jans Schwester Else, Tante meiner Mutter, wurde festgenommen. Die Einzige, die entkam, war Marion, der es irgendwie gelang, noch rechtzeitig unterzutauchen. So wie Betty, natürlich.

Das Unternehmen war sehr gut organisiert gewesen; daher die Selbstgefälligkeit der NS-Funktionäre. Es war ihnen gelungen, die Sache bis zum letzten Moment geheim zu halten, was die Razzia umso wirkungsvoller machte. Ziel war es, die Juden von ihrer Liste zusammenzutreiben, dabei auch die zu verhaften, die ihnen zufällig in die Quere kamen oder von Nachbarn verraten wurden, ihre Gefangenen an den Sammelstellen zu registrieren und dann alle ins Lager Westerbork zu schaffen, von wo es weiterging in die Gaskammern.

An diesem Sonntag im Juni herrschte eine extreme Hitze, ungewöhnlich für Holland, und Mirjam, Eva und Ruth schmorten in ihren drei Schichten Kleidung, auf die ihre Mutter bestanden hatte. Bis sie gegen halb elf Uhr vormittags endlich fortgeführt wurden, hatten sie gut eine Stunde auf dem Gehweg vor dem Haus gewartet, und die Sonne war unerträglich geworden. Mit ihren schweren Rucksäcken gingen sie dann unter Bewachung die fünfzehn Minuten zum Daniël Willinkplein, der ihnen zugewiesenen Sammelstelle.

»Wegzulaufen wäre völlig unmöglich gewesen«, sagte Mirjam später dazu. »Wir wurden streng bewacht, von Leuten mit Gewehren und Pistolen und so weiter. Sie hätten ohne Weiteres jeden niedergeschossen.«359

Es gibt Fotografien von den Juden, die an dem Tag zum Daniël Willinkplein gingen, Erwachsene mit Kindern im Schlepptau, alte Leute, die mit ihrem Gepäck die Straße entlangschlurfen, man sieht sie die Hauptstraße überqueren und auf dem großen, weiten Platz mit seinem Wolkenkratzer und den Bäumen am einen Ende und der schattenlosen Rasenfläche in der Mitte stehen.

Die Bilder wurden aus den Häusern ringsum von holländischen Bewohnern gemacht, die diesen Anblick inzwischen einigermaßen gewohnt waren. Manche beobachteten die Szene mit dem Fernglas vom Dach aus. An einer anderen Sammelstelle, dem Olympiaplein, wo der für die Deportationen zuständige SS-Hauptsturmführer Ferdinand aus der Fünten die Vorgänge höchstpersönlich leitete, standen die Juden mit ihren Rucksäcken bereit für den ersten Abschnitt ihrer Reise in den Tod, während ihre Amsterdamer Mitbürger den Platz für ihren Sonntagssport nutzten.360

Das Warten auf dem Daniël Willinkplein dauerte relativ kurz. Die Familie wurde von den wenigen verbliebenen Angestellten des Judenrates registriert und musste dann in einen der bereitstehenden Straßenbahnwaggons einsteigen. Die Ironie, dass den Juden die Benutzung der Straßenbahn verboten war, entging niemandem. Eine halbe Stunde später waren sie am Bahnhof Amsterdam Muiderpoort im Osten der Stadt.

Der Bahnhof war brechend voll und chaotisch, und über allem lag kaum verhaltene Panik. Im Lauf des Nachmittags traf David Cohen ein, der sich noch für den einen oder anderen einsetzte, aber keinerlei Erfolg hatte. »Die Grausamkeit dieser Szenen, die Verzweiflung dieser Menschen ohne jegliche Hoffnung waren unbeschreiblich«, sagte Cohen.361

Mirjam und die Familie wurden direkt von den Trambahnen in die Viehwaggons verladen, dann schlossen sich die Türen. Drinnen war es noch heißer. »Eine unerträgliche Hitze«, sagte Ruth.362 Alle saßen auf dem Boden, dicht gedrängt, ohne Wasser, ohne Abort. Kinder schrien, Erwachsene wurden ohnmächtig vor Hitze, viele weinten, alle hatten Angst.

Der Zug stand noch eine Ewigkeit im Bahnhof, und als er endlich losfuhr, ging es nur quälend langsam voran. Wenn meine Mutter später auf das Thema kam, schloss sie unweigerlich mit der Bemerkung, sie sei ja nur ein paar Stunden in dem Waggon gewesen. Und fügte hinzu: »Das war nichts im Vergleich mit Ludwik, der drei Wochen in so einem Viehwaggon war.«363 Das sagt mehr über ihre Persönlichkeit als über die jeweils erfahrene Unbill.

Um acht Uhr abends kamen die Wieners in Westerbork an.

 

Was sie nun tat, bereitete meiner Mutter noch Jahrzehnte später Unbehagen: Sie weinte. Und hörte nicht mehr damit auf. Tagelang nicht.

»Ich hatte wohl sehr viel Angst«, sagte sie später dazu.

Meine arme Mutter. Im Nachhinein sehe ich, dass es bestimmt schrecklich schwer für sie war. Im Wesentlichen, denke ich, war es wohl eine Art Hysterie. Aber ich fühlte mich so fehl am Platz … Irgendwann fand ich mich ab. Ich war immerhin schon zehn, alt genug, um zu verstehen, was passierte. Dass ich weit weg von zu Hause war, unter Zwang fortgebracht, und rings herum tief besorgte Erwachsene und dieses Menschengewühl und so weiter, das war wahrscheinlich mehr, als ich verkraften konnte. Insgesamt war ich ja ein einigermaßen braves Kind, aber daran erinnere ich mich sehr genau.364

Es war ein »ödes, windgepeitschtes Torfmoor«365 im Norden des Landes, wo sie jetzt waren, noch in Holland, aber nahe der Grenze nach Deutschland. Hier war das Durchgangslager, in dem die Häftlinge bis zu ihrem Weitertransport – meist in ein Vernichtungslager – verwahrt wurden.

Nachdem die niederländische Regierung die jüdische Gemeinde zur Mitwirkung bei der Errichtung und Finanzierung von Westerbork als Unterkunft für neu eintreffende Flüchtlinge gezwungen hatte, war Gretes Chefin van Tijn recht zufrieden mit dem Ergebnis gewesen: neu gebaute, anständig heizbare Holzbaracken für alleinstehende Personen, einige private Wohnungen für Familien, Werkstätten, ein Kinderdorf und so weiter. Und einige dieser Einrichtungen blieben auch nach der Übernahme des Lagers durch die SS im Juli 1942 erhalten.

Doch im Juni 1943 war Westerbork heruntergekommen, rattenverseucht, schmutzig und überfüllt. Selbst die kleinste Privatsphäre für Neuankömmlinge war inzwischen undenkbar, nicht einmal familienweise. Untergebracht waren die Häftlinge in riesigen Baracken mit Metallbetten in drei Etagen übereinander entlang den Seitenwänden, und die Außentoiletten hatten keine Türen. Solange die Menschen hier waren, lebten sie über- und aufeinander.

Ausgenommen jene, die Ruth die »alten Hasen« nannte.366 Das waren die Lagerältesten – Juden, hauptsächlich Flüchtlinge aus Deutschland, die ohne Obdach gewesen und von den Niederländern gleich nach Eröffnung des Lagers hier einquartiert worden waren. Sie fanden sich auf einmal in einer sehr merkwürdigen Lage. Sie bewohnten die Hütten für Familien und besorgten die Lagerverwaltung. Natürlich stand Westerbork letztlich unter deutschem Oberkommando, die Lagerältesten waren nur so lange in Sicherheit, wie sie den Befehlen gehorchten, und ohnehin war kein Jude wirklich gegen die sofortige Deportation gefeit. Doch innerhalb der Zwänge eines haarsträubenden Regelwerks, auf das sie keinen Einfluss hatten, besaßen die Lagerältesten sehr viel Macht. Sie hatten ein erhebliches Mitspracherecht nicht nur beim Lageralltag, sondern auch, was das Schicksal – Leben oder Tod – von Individuen betraf.

Bei diesen Lagerältesten meldeten sich Grete und ihre Töchter nach der Ankunft an jenem ersten Sonntag, dem 20. Juni 1943, an. Anmeldung hieß: Man musste immer und immer wieder Namen und Anschrift und Geburtsdatum angeben; man musste Lebensmittelkarten und Wertsachen abliefern und das mitgebrachte Geld – in Gretes Fall dreiundachtzig Gulden (heute um die 570 Euro) – zählen und später von der Lippmann-Rosenthal-Bank konfiszieren lassen, dem ehemaligen Bankhaus, das nach Übernahme durch die Deutschen speziell für den Raub jüdischer Vermögen genutzt wurde. Anmeldung hieß ferner, dass man eine Baracke zugewiesen bekam. Ursprünglich waren die Wieners in Baracke 65 im hinteren Teil des Lagers, die Frauen und Kindern vorbehalten war; sie wohnten dort mit rund tausend Personen. Später wurden sie in die Baracke 58 verlegt, wo die Zustände nicht besser waren.367

Doch neben diesen Routineangelegenheiten, die unter Scheinwerfern mit klappernden Schreibmaschinen ausgeführt wurden, bedeutete Anmeldung vor allem: um das eigene Leben flehen.

Hier, bei der Anmeldung, notierte der Schreiber allfällige Gründe, um die Deportation in den Osten – den Transport in den Tod – noch hinauszuschieben. Familien mussten, wenn sie konnten, gültige Freistellungen vorlegen und sicherstellen, dass sie auch zu den Akten genommen wurden. Das Leben in Westerbork war ein ständiger Kampf darum, nicht auf die Todeslisten gesetzt zu werden, wofür jedes Argument, jeder persönliche Kontakt, jedes Dokument und jede Charakterstärke eingesetzt wurden. Dieser Kampf begann bei der Anmeldung.

Dahinter stand Heinrich Himmler.

Ende 1942, als die deutschen Truppen in Stalingrad eingekesselt waren, begann Himmler einzusehen, dass der Krieg für Deutschland nicht so gut lief, wie die Nazipropaganda behauptete. Und er begann sich zu fragen, ob es vielleicht hilfreich wäre, wenn er einige Juden verkaufen könnte. Anders gesagt, wenn sich einige Juden gegen Geld oder Waffen eintauschen ließen oder auch gegen Deutsche, die in alliierten Ländern feststeckten und vielleicht zurückkommen und für das Vaterland kämpfen wollten.

Er besprach die Idee mit Hitler. »Ich habe den Führer gefragt, ob man Juden gegen Lösegeld gehen lassen sollte. Er erteilte mir die Vollmacht, solche Fälle zu genehmigen, falls sie wirklich Fremdwährung in nennenswerten Beträgen aus dem Ausland erbringen«, notierte er sich am 10. Dezember 1942.368

In diesem Plan steckte ein großes Maß an Selbsttäuschung. Himmler glaubte die Alliierten sehr viel zugänglicher für Verhandlungen, als sie letztlich waren, was ihm allerdings von Anfang an hätte klar sein können. Und er versuchte andauernd – auch nachdem er dem Lagerkommandanten von Westerbork befohlen hatte, ihm bei der Entjudung Europas zu helfen, und auch nachdem er im Sommer 1942 nach Auschwitz gereist war, um der Vergasung der ersten tausend von Westerbork hierhergeschickten holländischen Juden persönlich beizuwohnen –, sich und andere davon zu überzeugen, er sei »anständig«.

Unabhängig von seinem wirren Denken und seinen Beweggründen bedeutete es für die Juden, die wie Grete und die Mädchen im Juni 1943 in Westerbork eintrafen, dass sich ihre Deportation hinausschieben ließe, wenn sie beweisen konnten, dass sie für die Nazis womöglich einen Tauschwert hatten.

Der Anmeldezettel, den Grete an diesem ersten Abend durchsetzte, enthielt drei Behauptungen; eine war auf jeden Fall falsch, eine zweifelhaft, die dritte stimmte, stand aber, wie sich zeigte, auf wackligen Beinen.

Die unwahre Behauptung lautete, Alfred sei amerikanischer Staatsbürger. Zwar lebte er in New York, besaß aber natürlich keine Staatsbürgerschaft, und der Nachzugsantrag für seine Familie war gescheitert.

Die zweifelhafte Behauptung bezog sich auf einen gewissen Erich Puttkammer, einen holländischen Bankier mit besten Verbindungen zu den Nazis. Dieser Puttkammer versuchte genau die Art von Freistellung gegen Fremdwährung auszuhandeln, die Himmler mit Hitler vereinbart hatte. Womöglich dachte Grete, Alfred könne den geforderten Dollarbetrag beschaffen und sei schon in Verhandlung getreten. Es gibt natürlich keinen Beweis, dass Geld geflossen ist, dass die Familie überhaupt Zugang zu Ressourcen der Art hatte, wie sie Himmler vorschwebten. Die Erwähnung auf dem Anmeldezettel – nur der Name Puttkammer, zweimal genannt, jedoch ohne weitere Details – ist die einzige Spur, die sich im Wiener-Archiv findet. Und der sogenannte Puttkammer-Stempel hatte oft ohnehin keine Bedeutung.

Die wichtigste Erwähnung aber – wichtig, weil sie stimmte und weil es Belege dafür gab – lautete, dass die Familie zu diesem Zeitpunkt für einen »Palästina-Austausch« infrage komme.

Wie es dazu kam, ist obskur. In Palästina war seit Langem die Tempelgesellschaft ansässig, eine pietistisch-lutherische Sekte.369 Bei Kriegsausbruch waren einige männliche Sektenmitglieder nach Deutschland zurückgekehrt und hatten sich an die Front gemeldet. Sie traten auch an Himmler heran und baten ihn, sie bei der Familienzusammenführung zu unterstützen, denn die Tempelgesellschaft lebte unter britischer Herrschaft, und für eine Zusammenführung war ein Personenaustausch zwischen Deutschland und den Alliierten erforderlich. Im Mai 1941 sagte Himmler seine Mitwirkung zu.

Betroffen waren davon wirklich nur sehr wenige Personen, doch Leute wie van Tijn waren dadurch auf die Idee gekommen, Listen von Juden zu erstellen, die eine Bescheinigung vorweisen konnten, der zufolge sie für einen Austausch mit Palästina infrage kamen. Damit hätten sie für die Deutschen einen potenziellen Nutzen, was wiederum ihre Deportation hinauszögern konnte. Diese Bescheinigungen brachten ihre Besitzer vielleicht nie nach Palästina, doch konnten sie Leben retten, und sei es nur, indem sie noch ein paar Monate nicht in den Zug zu den Gaskammern steigen mussten.

Genau dies hatten Alfred und Grete erreicht, als sie dafür sorgten, dass Grete und die Mädchen auf die Palästinaliste kamen. Die Bescheinigung lag noch nicht vor, doch vorläufig reichten die Berechtigung und der gestellte Antrag. Auf der Anmeldekarte der Familie stand: »Bemerkung: Vorläufige Aussetzung Palästinaaustausch laufender Antrag.«

 

Meine Tante Ruth hatte, als die Familie verhaftet worden war, den bei einem Preisausschreiben gewonnenen Taschenkalender für 1943 eingesteckt. Wie Kinder es tun, hatte sie gleich das Titelblatt ausgefüllt, hatte ihren Namen und ihre Adresse eingetragen, die Telefonnummer (90257), ihre Schuhgröße (39/40) und die im Notfall zu verständigenden Personen (Tante Trude und Onkel Jan Abraham im Haus Marion), schließlich noch einige Geburtstage (14. März: Tante Else, 16. März: Papa, 1. April: Onkel Jan, und so weiter), doch dann hatte sie den Kalender nicht mehr benutzt.370

Jetzt begann sie mit Einträgen und setzte sie während der nächsten neunzehn Monate fort. Sie benutzte dafür einen Bleistift, der mit der Zeit stumpf wurde, und der Platz, den sie pro Tag zur Verfügung hatte, war sehr klein. Außerdem musste sie nach einem Jahr einen zweiten Eintrag unter dasselbe Datum quetschen. Entsprechend knapp waren ihre Bemerkungen. Doch liefern sie Dokumentationsmaterial über den Aufenthalt der Familie im Konzentrationslager.

Ihr erster Eintrag vom 20. Juni 1943 hält lediglich die Tatsache der Verhaftung, des Transfers (»sehr heiß – langes Warten«) und die »Ankunft in Westerbork« fest. Der nächste Eintrag ist vom Dienstag, 29. Juni, und erklärt mit sehr wenigen Worten, wofür Westerbork stand. »Abtransport von 2000 Personen.« Eine weitere Woche später, am 6. Juli: »Wieder ein Transport abgegangen. Tante Else und Juultje [eine Schulfreundin] sind bei dieser Gruppe.«371

Das Leben in Westerbork folgte einem Rhythmus. Und der war grauenhaft. Sonntags bestellte der Lagerkommandant Albert Gemmeker etliche seiner SS-Leute und ein paar von den jüdischen Lagerältesten ein und informierte sie über die Zahl der Juden, die er nach Anweisung seiner Vorgesetzten in der kommenden Woche »nach Osten« – ins Gas, aber das Wort vermied er strikt – zu schicken habe. Er erkundigte sich nach der jeweils aktuellen Zahl der Lagerinsassen, nach der Zahl derer, die eine Freistellung geltend machten, und damit nach der Zahl der zum Abtransport zur Verfügung Stehenden. Waren mehr Häftlinge verfügbar, als er brauchte, um das Soll zu erfüllen, wies er die Ersteller der Listen an, welche Prioritäten sie zu setzen hätten.

Dafür gab es keine Vorschriften. Manchmal stellte Gemmeker schwangere Frauen und bettlägerige Häftlinge von der Deportierung frei, als verstünde sich das von selbst, dann wieder sagte er, das sei genau die Art von Personen, die vorrangig zu deportieren seien. Noch schlimmer war es, wenn die Zahl der verfügbaren Häftlinge kleiner war, als das Kontingent vorschrieb. Dann mussten auch Juden deportiert werden, die bis dahin von einer Freistellung geschützt waren. Galt es ein Kontingent zu füllen, war niemand gefeit, egal, was auf ihrem Anmeldezettel stand.372

Waren dann die letzten logistischen Details besprochen – Bereitstellung und Abfahrt der Züge, erlaubtes Gepäck, erlaubter Proviant und so weiter –, wurden die Besprechungsteilnehmer entlassen und mussten mit der Organisation der Transporte und der Erstellung der Listen beginnen.

Im Lauf des Montags machten die Gerüchte die Runde. Wie viele mussten diese Woche fort? Welche Prioritäten hatte Gemmeker festgelegt? Welche Freistellungen hatten noch Bestand? Es begann ein fieberhaftes Flehen und Feilschen, denn jede Familie versuchte Schonung wenigstens für die kommende Woche für sich herauszuhandeln. Über den Tag hinweg wurde klar, wer blieb und wer gehen musste, und sobald alles Argumentieren sinnlos geworden war, wich die Hektik der Verzweiflung.

Am Montagabend wurde pro Baracke die endgültige Deportationsliste verlesen. »Die Szenen, die folgten, spotten jeder Beschreibung«, schrieb ein Augenzeuge. »Der schrille Aufschrei einer vor Panik fast wahnsinnigen Mutter, das Schluchzen von Kindern, die vernichteten Mienen der Männer, das Schmerzensgeschrei jener, denen die Liebsten entrissen werden sollten – es ging einem durch Mark und Bein.«373 Andere, die noch verschont blieben, empfanden eine Erleichterung, die sich mitunter sogar in einem unpassenden Freudentanz Bahn brach – fast immer gemischt mit Schuldgefühlen.

Meine Mutter erlebte es wieder und wieder. Die gleiche Szene an jedem Montag jedes Monats, den die Familie in Westerbork verbrachte.

Früh am Morgen des folgenden Tages standen die Güterwaggons bereit. Die größte Neuerung der Deutschen nach Übernahme des Lagers Westerbork war der Bau eines Anschlussgleises gewesen, das jetzt mitten hinein ins Lager führte und den Häftlingen den einstündigen Gang mitsamt Gepäck zum und vom Bahnhof ersparte. Natürlich war nicht die Bequemlichkeit der Reisenden der Grund, aus dem das Gleis gebaut worden war, sondern die Erleichterung und Sicherung des Abtransports von Menschen in den Tod.

Am Dienstagmorgen mussten alle, die noch blieben, in den Baracken ausharren, bis die Züge gefüllt und unterwegs waren. Die Namen derjenigen, die auf der Transportliste standen, waren um sieben Uhr morgens abermals verlesen worden, woraufhin die Aufgerufenen in Dreierreihen zu den Waggons gingen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich meist schon eine stille Resignation breitgemacht. Am Bahnsteig stand Gemmeker, besprach sich mit seinen SS-Leuten und gab weltmännisch den Chef, als verabschiedete er gewöhnliche Reisende.

Die Passagiere wurden mit einem Fass Wasser und einem weiteren Fass als Toilette in Güterwaggons ohne Sitzgelegenheiten verladen. Die Leute wurden in so großer Zahl hineingeschoben, dass sie sich drinnen kaum noch rühren konnten, und wer schlecht zu Fuß war, wurde kurzerhand auf die anderen geworfen. Obszönerweise berechnete die Bahn einen Fahrpreis. Er betrug die Hälfte des Normalpreises und wurde aus den konfiszierten Guthaben der Lagerinsassen bezahlt.374

Ansonsten durften nur jene die Baracken verlassen, die als Helfer dienstverpflichtet waren, etwa um alten Leuten das Einsteigen zu erleichtern. Auch Ruth, die am 4. August 1943 sechzehn geworden war, wurde dazu gezwungen. Und sie verstand, was sie da tun musste. »Es war sehr schwer, sehr schwer.«

»Ich musste bei einem der Dienstagstransporte mithelfen«, sagte sie.

Es war ein Transport nach Osten, wie sie das nannten. Wohin genau, wusste man nicht, hatte aber zu dem Zeitpunkt schon eine sehr genaue Vorstellung. Ich hatte sie jedenfalls … Ich musste Leuten helfen, mit ihren Sachen in den Zug zu steigen, in einen Viehwaggon, und musste so tun, als machten sie nur einen Ausflug, wünschte ihnen eine gute Reise und alles … Wir wussten, dass sie mehr oder minder in den sicheren Tod fuhren. Man hatte keinen Beweis dafür, aber die Gerüchte hatten sich schon zur Genüge herumgesprochen.375

Alle hofften, natürlich. Alle fragten sich, ob die Gerüchte wahr seien. Alle versuchten sich einzureden, dass sie nicht stimmten. Alle versuchten sich zu sagen, dass wenigstens sie durchkommen würden. Aber in Wirklichkeit wussten alle Bescheid.

Nach dem Krieg behauptete der Lagerkommandant Gemmeker, der so oft mit gütigem Lächeln auf dem Bahnsteig gesehen worden war, er habe »natürlich« keine Ahnung gehabt, wohin die Juden – mehr als 100000 Personen – gebracht worden seien; keine Ahnung, dass er sie in den Tod schickte. Das Gericht schien seine Aussage weitgehend zu glauben. Er wurde zu zehn Jahren verurteilt, aber schon 1951 wieder entlassen, kehrte nach Düsseldorf zurück, wo er zu Hause war, und lebte unbehelligt bis an sein natürliches Ende gut dreißig Jahre später.376

Darauf kann man nur eines sagen: Sogar Anne Frank in ihrem Versteck in der Dachkammer wusste Bescheid. »Freitag, 9. Oktober 1942 … Wenn es in Holland schon so schlimm ist, wie muss es dann erst in Polen sein? Wir nehmen an, dass die meisten Menschen ermordet werden. Der englische Sender spricht von Vergasungen.«377 Auch das britische House of Commons war informiert, denn Außenminister Anthony Eden Holland hatte dem Unterhaus am 17. Dezember 1942 mitgeteilt, dass die Deutschen »jetzt Hitlers häufig wiederholte Absicht, die europäischen Juden auszulöschen, in die Tat umsetzen«.378

Die Welt wusste es. Und Ruth ebenfalls.

 

»Dienstag, 13. Juli. Transport nach Polen mit Onkel Jan, Tante Nuti und Fritz.«

Mit diesem kurzen Satz, ohne weitere Details und ohne einen Anflug von Gefühl – was hätte man dazu auch sagen sollen? – hielt Ruth in ihrem Tagebuch eine der größten Tragödien der Familie fest: dass Gretes geliebte Schwester und ihre Familie unter den Deportierten eines Dienstags waren. Die einzigen Verwandten meiner Mutter; Tante, Onkel, Vetter. Ohne Papiere, die Schutz oder Aufschub boten, ist es ein Wunder, dass sie nicht schon viel früher von Westerbork abtransportiert wurden. Als am Montagabend in ihrer Baracke die Liste für den vierten Transport seit ihrer Ankunft verlesen wurde, waren auch die Namen der Abrahams darunter.

Am nächsten Morgen setzte sich Trude – Tante Nuti – hin und schrieb ihrer Schwester und ihren Nichten ein paar letzte Worte. In sauberen Buchstaben auf einem linierten, gefalteten kleinen Papier wurden sie Grete in der Baracke 58 in dem Moment übergeben, als der Zug sich in Bewegung setzte. Es sind Worte, die wissen und nicht wissen, was geschehen wird, Worte, die akzeptieren und leugnen, Worte voller Hoffnung, wo es keine Hoffnung mehr gab, Worte der Liebe, wo Liebe das Einzige war, was sie noch hatten.

Liebes Schwesterchen,

ich sitze gestiefelt und dreifach angezogen auf meinem Bett u. erwarte das Frühstück und bin seelenruhig. – Ich bin so fest überzeugt, dass alles gut gehen wird und dass wir uns gesund u. in besseren Gegenden wiederfinden, denn Du weißt ja, ich habe die Erfahrung in meinem Leben [gemacht], daß alles immer richtig kommt.

Ich verspreche Dir hundertprozentig für mich zu sorgen, Jan und Fritz werden dasselbe tun, und ihr alle auch.

Ein erstes Wunder, der D… ist plötzlich weg, gestern Abend schon, was sagste dazu

Erst konnten wir alle nicht schlafen u. begannen um 12 Uhr noch mal zu lesen. Dann schlief ich ganz gut bis 3 Uhr. Seit ½ 4 geht der Betrieb hier. – Ruth [M] hat mir mit Gewalt noch ein Glas Majonäse u. ein Döschen Zahnpasta geschenkt, ganz rührend besorgt.

Bleibt mir nur gesund ich hoffe Euch bald im kleinen Häuschen hier oder im großen Häuschen in A’dam [zu sehen].

Grüße u. Küsse meinen geliebten [drei], sie sind unbeschreiblich süß u. gut u. ich bin so glücklich über ihre Liebe.

Ich küsse Dich mein Gutes, tausendmal in Gedanken, Du weißt ja, wir zwei gehören zusammen u. werden uns um die ganze Welt wiederfinden. Dessen bin ich sicher.

Deine Nuti379

Auf einem eigenen, braunen Stück Papier fügte auch Jan noch eine Nachricht hinzu: »Noch eines – herzliche Grüße an Dich und die Kinder und danke. Jan.« Zuletzt fügte er hinzu: »Fritz hält sich gut.«

Meine Mutter war bis spät im Leben der Meinung, dass die Abrahams nach Auschwitz gebracht worden seien; die Familienüberlieferung folgt dieser Version. So war es aber nicht, Trude, Jan und Fritz starben anderswo.

Alles in allem fuhren dreiundachtzig Züge von Westerbork zu den Todeslagern, die meisten nach Auschwitz. Doch zwischen dem 2. März und dem 20. Juli 1943 gingen neunzehn Transporte zum Vernichtungslager Sobibor in Ostpolen. Es ist nicht klar, warum einige Monate lang dieses andere Lager angesteuert wurde. Eine mögliche Erklärung ist, dass es offenbar zwischen ranghohen Nazis eine Art Wettstreit gab, wer die meisten Juden wie effizient vernichten konnte.380

In Sobibor starben mehr Menschen als in fast jedem anderen Lager, und ebendiese Ruchlosigkeit ist der Grund, warum es nicht besser bekannt ist. Von denen, die nach Auschwitz geschickt wurden, starben nicht alle sofort; viele mussten arbeiten. Die Überlebenden konnten später ihre Geschichte erzählen. In Sobibor gab es keinen Arbeitseinsatz. Nahezu alle Neuzugänge wurden direkt in die Gaskammern geschickt. Die Lebensspanne eines Juden in Sobibor betrug rund drei Stunden.381 Die Zahl der Juden, die von Westerbork hierhergeschickt wurden, betrug 34313, und von diesen kamen nur achtzehn nach dem Krieg wieder zurück.382

Diese achtzehn zählten zu einer kleinen Gruppe von Menschen, die nach der Ankunft in Sobibor aussortiert und weitergeschickt wurden. Sie erlebten nicht mit, was hier geschah. Wäre es nicht im Oktober 1943 zum Aufstand im Lager gekommen, hätte es keinen einzigen Überlebenden gegeben, niemand, buchstäblich niemand hätte bezeugen können, was in Sobibor geschah. Die Nazis hatten die gesamte Dokumentation darüber verbrannt.383

Tatsächlich aber liegen immerhin so viele Augenzeugenberichte vor, dass sich ein Bild von Sobibor zeichnen lässt: von der Anlage selbst, die so gestaltet war, dass sie von außen ganz unschuldig wirkte und die Opfer bei der Ankunft in Sicherheit wiegte; von den drei getrennten Teilen rund um das Bahngleis, auf dem Deportierte aus Westerbork und anderen Durchgangslagern eintrafen; von den unterschiedlichen Funktionen der drei Teile – Lager I für die Unterkünfte der Aufseher, die den Todesmarsch organisierten; Lager II, wo sich die Gefangenen entkleiden mussten und ihr Gepäck sortiert und gelagert wurde; Lager III, zusätzlich mit Stacheldraht umzäunt, wo das Gebäude mit den Gaskammern stand.

Bemannt war das Lager mit rund zwanzig deutschen SS-Leuten und einem Kontingent von etwa hundert ehemaligen Kriegsgefangenen aus der Ukraine, aus Estland, Lettland und Litauen, kollektiv »die Ukrainer« genannt. Sie waren Freiwillige – häufig, weil sie das Mordgeschäft dem Verhungern vorzogen –, die im SS-Ausbildungslager Trawniki für die Arbeit im Vernichtungslager vorbereitet worden waren. Ob unter Zwang oder nicht, sie erwiesen sich als fanatisch loyal gegenüber den nationalsozialistischen Mördern und als erschreckend brutal.

John Demjanjuk, der in den fünfziger Jahren US-Amerikaner wurde, beim Autohersteller Ford in Ohio arbeitete und in den achtziger Jahren fälschlich als »Iwan der Schreckliche« aus Treblinka identifiziert wurde, war, wie danach durchsickerte, in Wahrheit ukrainischer Aufseher in Sobibor. Das Einzige, was die Gerichte anhand seiner diversen Ausweise, auch seines SS-Dienstausweises belegen konnten, war sein Aufenthalt in Sobibor zwischen Ende März und Ende September 1943.384 Das reichte allerdings aus, um ihn im Mai 2011 wegen Beihilfe zum Mord an 28060 Menschen zu verurteilen. Denn Sobibor war ein reines Vernichtungslager, dort geschah nichts anderes als Mord. Die Daten von Demjanjuks Aufenthalt dort bedeuten, dass unter den Toten, an deren Ermordung er mitschuldig war, auch Trude, Jan und Fritz waren.

Sobald die Züge aus Westerbork eintrafen, rissen die Aufseher unter Flüchen und Befehlen die Waggontüren auf und trieben die Gefangenen mit Knüppeln, Peitschen und Gewehrkolben hinaus. Gesunde wurden von Kranken getrennt.

Wer nicht gehen konnte, wurde auf Karren verladen und erhielt die Auskunft, es gehe jetzt in die Krankenstation. Damit wurden sie 200 Meter bis zu einer mit Büschen eingewachsenen Grube befördert, abgeladen und erschossen. Wer gehen konnte, marschierte mit den anderen in Lager II, die Männer von den Frauen getrennt. Dort wurden sie von einem SS-Mann im weißen Kittel darüber informiert, dass sie nach der langen Zugfahrt eine Dusche brauchten, denn sie würden danach zur Arbeit eingesetzt und müssten dafür sauber sein. Lasst eure Wertsachen hier. Handtücher und Seife braucht es nicht, es wird alles gestellt. Manchmal wurde sogar gefragt, ob jemand noch eine Frage habe.

Dann gingen die Opfer nackt hinüber ins Lager III und betraten das Gebäude, in dem Männer mit Rasiermessern und Scheren auf sie warteten. Sie packten die Gefangenen an den Haaren und hatten innerhalb einer Minute alles abgeschoren; das Haar wurde eingesammelt und zur Weiterverarbeitung an eine Firma bei Breslau geschickt, die pro Kilo eine halbe Reichsmark zahlte.

War dies erfolgt, wurden sie – mit Knüppeln oder Peitschen – in die Gaskammern getrieben, 700 oder 800 Menschen auf fünfundzwanzig Quadratmetern, Gas strömte in den abgedichteten Raum, und nach einer halben Stunde wurde die Tür wieder geöffnet. Alle waren tot. Sie waren so dicht gedrängt, dass die Leichen aufrecht standen.

So starben Tante Trude, Onkel Jan und Vetter Fritz am Freitag, dem 16. Juli 1943.

Im Juni 2010, als meine Mutter siebenundsiebzig war, schickte sie eine E-Mail an ihre Kinder, Neffen und Nichten. Dass sie uns eine Nachricht über den Holocaust schickte, ohne dass jemand sie darum gebeten hätte, war außergewöhnlich, das hatte sie vorher nie getan und tat es auch danach nie wieder; es erschütterte uns. Sie wollte uns ihre Tante Nuti in Erinnerung rufen, deren Geburtstag kurz zuvor gewesen wäre. Es war kein besonderer Geburtstag, denn sie war 1893 geboren, »kein weltbewegendes Ereignis«, schrieb Mum, »doch ich musste an sie und ihre Familie denken und wie wenig ich sie gekannt habe«.385

Jans Schwester, Tante Else Lazarus, war kurz vor ihrem Bruder ins Gas gegangen. Auch Elses Tochter Marion war tot; sie hatte sich in der Nacht, in der alle anderen verhaftet wurden, tollkühn in einem Schrank versteckt und war dann in Amsterdam untergetaucht. Doch im Mai 1944 war sie verraten386 und in der Folge nach Auschwitz deportiert worden.387 Ende Januar 1945 starb sie auf einem der »Todesmärsche«, als die Nazis vor den heranrückenden Truppen der Roten Armee das Lager evakuierten und die Häftlinge zur Flucht zwangen.388 Wer sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, wurde erschossen, die Leichen blieben am Straßenrand liegen.

Eine ganze Familie, sagte Mum, wurde »vom Angesicht der Erde hinweggefegt«. Sie schrieb über Nuti, »nicht um Entsetzen und Grauen zu erzeugen, sondern um einen Funken ihres Daseins zurückzuholen«. Sie erinnerte sich an Fritz’ dunkle Locken. Wer konnte es sonst?

Die Verlegung

Das Leben in Westerbork hatte vor allem ein Ziel, in Westerbork zu bleiben. Und wenn am Dienstagmorgen die Züge abgefahren waren, empfanden die Zurückgebliebenen immer Erleichterung. Sie waren wie betäubt, oft trauerten sie um deportierte Angehörige und Freunde, und doch war ihnen bewusst, dass sie ein paar kostbare Tage vor sich hatten, an denen keine Gefahr drohte – bis zum Wochenende, wenn der Zyklus von Neuem begann.

Am Tag vor Trudes, Jans und Fritzens Transport »nach dem Osten« hatte Grete über das Rote Kreuz in Genf einen Brief erhalten, aus dem sie erfuhr, dass der Palästina-Austausch für sie und ihre Töchter genehmigt worden sei. Der Zufall der zeitlichen Übereinstimmung war entscheidend. Gretes Verzweiflung über den bevorstehenden Abtransport ihrer Schwester war derart, dass sie drauf und dran war, Trude freiwillig zu begleiten. Sie wusste, was Deportation bedeutete; doch was immer ihnen bevorstand, sie wären wenigstens beisammen. »Wären wir Kinder nicht gewesen, wäre sie sicher mit Trude gegangen«, sagte meine Mutter.389

Jetzt, da die Bescheinigung offensichtlich vorlag, sah Grete ein, dass es bei allem Schmerz über die Trennung von der Schwester ihre Pflicht war, Mirjam, Eva und Ruth zu retten, falls sie es vermochte. Und mit dieser Bescheinigung vermochte sie es vielleicht.

Umso entsetzlicher war die nächste Nachricht. Am Samstag, dem 17. Juli, wenige Tage nach Trudes Deportation, wurde in der Baracke eine Mitteilung des Lagerkommandanten verlesen: Die Rückstellung der für einen Austausch mit Palästina vorgesehenen Personen sei nicht länger gültig.390 Wer eine solche besitze, müsse sich auf die Möglichkeit einer Deportation gefasst machen. Damit kamen mit einem Schlag 1200 weitere Personen infrage, und der Grund dafür war bald klar.391

Am Montag, dem 19. Juli, hielt Ruth fest: »Kritische Lage für uns bez. Dienstagstransport – nicht genug Leute für die erforderliche Zahl.«392 Gemmeker fehlten 700 Juden.

Grete bemühte sich den ganzen Tag ebenso hektisch wie verzweifelt darum, dass die Kinder nicht auf die Liste gesetzt würden. Sie hatte Alfreds Kriegsmedaillen bei sich; möglich, dass sie etwas bewirkten. Dass Alfred gegenwärtig in den USA lebte, ließ sich außerdem so drehen, dass es sich nach mehr anhörte, als es war. Stärker ins Gewicht fiel sicher die Tatsache, dass er deutscher Jude war – wie die Lagerältesten, die Transportlisten zusammenstellten. Vor allem aber hatte Grete anderen deutschen Juden geholfen, und das war bekannt.

Kurz nach Ankunft der Familie im Lager hatte Ruth in ihrem Tagebuch festgehalten, Grete wünsche, dass »wir die Cohns Onkel Erich und Tante Vera nennen«.393 Es waren ehemalige Kollegen von Alfred und Personen, die Grete als Flüchtlinge in Amsterdam unterstützt hatte. Erich Cohn gehörte zu den Lagerältesten in Westerbork, und weil er einer derjenigen war, die für Gemmeker die Listen schrieben,394 sollten die Mädchen ihm und seiner Frau gegenüber nett sein. Mit Sicherheit hat ihn Grete zu diesem kritischen Zeitpunkt angesprochen. Andererseits hielt Ruth später fest, die Cohns seien »ziemlich kühl und nicht hilfsbereit. Eine große Enttäuschung für Mutter!«395

Vielleicht hatte also jemand anderes dafür gesorgt, dass die Finkelsteins nicht auf die Liste kamen, ein anderer Lagerältester. Vielleicht war es einfach schieres Glück. Was immer der Grund gewesen sein mag, am Dienstag, dem 20. Juli, konnte Ruth schreiben: »G-tt sei Dank werden wir nicht weggeschickt.« Dann setzte sie hinzu: »Mutter wird krank.«

 

Solange man nicht zum Sterben fortgeschickt wurde, hatte man in Westerbork gerade genug zum Leben.

Es gab gerade genug Essen, gerade genug Wärme, gerade genug Schutz vor Krankheit. Es war ein Leben in dauernder Angst, ein Leben ohne jede Privatheit, ein Leben in Gefangenschaft. Doch es war, immerhin, Leben.

Westerbork war staubiges Grauschwarz, kalt im Winter und fliegenwimmelnd im Sommer. Es gab kleine Anflüge von Normalität. Zum Beispiel gab es einen Laden. Dort konnte man zwar fast nichts kaufen, jedenfalls keine Lebensmittel. Die drei Schwestern erinnerten sich, dass sie einmal Zahnpasta besorgten – oder war es eine Zahnbürste? – und dass der Kaufpreis von dem Geld abgezogen wurde, das ihnen am ersten Abend abgenommen worden war.

Auch wenn alles öffentlich getan werden musste, auch das Waschen, auch die Toilettenbenutzung, so gab es doch, ab und zu wenigstens, Zugang zu heißem Wasser, und es gab Berechtigungsscheine, mit denen man etwa einmal in vierzehn Tagen das Badehaus aufsuchen konnte. Es gab auch eine Wäscherei im Lager, doch die Benutzungsmöglichkeiten waren derart eingeschränkt, dass man Wäsche hauptsächlich in den Schüsseln wusch, die es in den Baracken gab.

Auch bestand ein gewisser Kontakt zur Außenwelt, es war erlaubt, Briefe und Päckchen zu empfangen, und man durfte gelegentlich auch Briefe schicken. Alfred konnte keine direkte Verbindung aufnehmen, doch seine Mitarbeiter in der Schweiz schickten ab und zu Sardinen und Schokolade und etwas Brot. Päckchen wurden gern zurückgehalten und dann alle auf einmal gebracht. Da es im Lager keine Privatsphäre gab, wurde der Inhalt geteilt.

Ein »Päckchen«, das die Wieners erhielten, war weniger willkommen. Einige Tage nach der Verhaftung der Familie war vor dem Haus am Westerscheldeplein 25, ihrem letzten Zuhause, ein Möbelwagen mit der Aufschrift »A. Puls Amsterdam« aufgetaucht. Er gehörte der Umzugsfirma von Abraham Puls, einem holländischen Nazi, dessen Mitarbeiter die Wohnungen verhafteter Juden aufsuchten und sich deren zurückgelassenen Besitz holten. Man wurde »gepulst«, sagten die Leute.

Besonders erpicht waren die Spediteure auf Bücher; sie holten sich Alfreds gesamte Bibliothek. Da er seine Bücher nie mit einem Exlibris oder sonst einem Eigentumsvermerk kennzeichnete – seine Hochachtung vor Büchern war derart, dass es ein Sakrileg gewesen wäre, etwas hineinzuschreiben oder -zukleben –, konnte er nach dem Krieg nichts zurückverlangen, obwohl sich einige noch immer in einem Lager der Nazis befanden.

Jedoch pflegte die Spedition A. Puls den Opfern einen Koffer mit Besitztümern nach Westerbork zu schicken, ein sehr typisches Nazimanöver: Verbrechen tarnt sich mit einer respektablen Fassade. Meine Mutter entsann sich, dass die verschickten Gegenstände aufs Geratewohl ausgewählt und nutzlos waren. Praktischen Nutzen hatte lediglich der Koffer.

Die Post war nur eine Methode, mit dem sich das Lager den Anstrich von Normalität gab. Es gab auch ein Spital in Westerbork. Im Herbst 1943 infizierten sich Mirjam und Eva mit Hepatitis und erkrankten schwer. Westerbork hielt sich jedoch viel auf seine hervorragende ärztliche Versorgung zugute. »Sie waren sehr bemüht, dass es uns besser ging«, sagte Mirjam.

Sie gaben uns Zucker – was angeblich gut für die Leber war. Keine Ahnung, ob man das heutzutage noch so macht. Immerhin lagen wir so lange auf der Isolierstation, bis es mit uns wieder aufwärts ging. Aber warum, um Himmels willen? Ist doch unfassbar, nicht? Warum haben sie uns nicht einfach in den nächsten Güterwagen gesteckt? Aber so sind die Deutschen. Einfach unfassbar.396

Eine Antwort auf Mirjams Fragen wäre: Gemmeker legte Wert darauf, den Schein zu wahren. Mit Sicherheit vor den Lagerinsassen, vielleicht auch vor sich selbst. Westerbork war nur Durchgangslager, die Leute wurden zum Arbeiten in den Osten geschickt: Selbstverständlich brauchte es da eine Krankenstation und ärztliche Versorgung. Die andere Antwort gab sich meine Mutter selbst. Einfach unfassbar.

Das vielleicht Merkwürdigste an Westerbork, noch merkwürdiger als die Krankenstation, war das Theater. Hier wurden bunte Abende veranstaltet, jüdische Komiker aus Holland und Deutschland standen auf der Bühne, Sänger und Schauspieler formierten sich zu einem Ensemble: Gemmeker scheint sehr stolz auf sein Theater gewesen zu sein, er nahm an den Proben teil, brachte sich künstlerisch ein und lud ranghohe SS-Kameraden zu Premieren ein. Sein Interesse an der Kunst bewahrte die Künstler eine Zeitlang vor der Deportation. Dennoch endeten viele in den Gaskammern von Auschwitz.

Den Lagerinsassen boten die Vorstellungen eine kurze Ablenkung. Aufgeführt wurden harmlose Scherze über das Lagerleben, die Freude über eintreffende Päckchen und dergleichen. »Nichts gegen die Nazis«, sagte Ruth, »das wäre natürlich nicht gegangen.«397 Es »war sehr lustig«, fügte Eva hinzu.398 Mirjam war nicht dabei. Wahrscheinlich war sie zu klein.

Sonstige Ablenkungen waren Arbeit und Schule. Wobei »Schule« sicher zu viel gesagt ist. Mirjam beschrieb es so: »Es war erlaubt, Kinder zu versammeln und mit ihnen ein bisschen zu lesen und Lieder zu singen.«399 Diese Lieder fielen ihr noch viel später manchmal spontan ein, und sie sang sie dann ihrer Familie vor, immer noch textsicher.

Ruth durfte den Unterricht nicht besuchen. Im Juni 1943, gut einen Monat vor ihrem sechzehnten Geburtstag, musste sie arbeiten, wie Grete. Die Finkelsteins waren zur Zeit der Kartoffelernte im Lager angekommen, und Ruth wurde jeden Tag aufs Feld geschickt, wo sie für die Bauern der Umgebung unbezahlte Arbeit leistete. Der Ackerboden war feuchter Lehm, die Arbeit war »eine Strapaze«, sie trug einen Arbeitsanzug und unglaublich unbequeme Holzschuhe.400 Der einzige Ausgleich war, dass sie wenigstens zu tun hatte, von manueller Arbeit in Anspruch genommen war.

So auch, als sie nach der Ernte der Wäscherei zugeteilt wurde; auch dies war harte Arbeit. Man hantierte mit Mangel und schwerem Bügeleisen, faltete vierhändig große Wäschestücke, und eine Schicht dauerte die ganze Nacht ohne Pause. Den Großteil der Arbeit verrichteten sie für die Lagerleitung, doch der Einsatz in der Wäscherei bedeutete, dass Ruth ab und zu Kleidung und Bettzeug ihrer Familie waschen konnte. Und es war dort warm: ein Vorteil, als Herbst und Winter nahten.

Was Ruth in Verzweiflung stürzte – meine Mutter hingegen kaum, denn sie war jünger, und es gab ja diesen Pseudounterricht –, war der Abbruch ihrer Ausbildung. Der Gedanke, was sie alles versäumte, weil sie für die Nazis Kartoffeln erntete und Wäsche wusch, war ihr unerträglich. Sie hatte die Schule geliebt, sie liebte das Lernen. Dass sie es nicht mehr durfte, wurde ihr zur Obsession; später erklärte sie sich ihre Fixiertheit damit, dass sie auf diese Weise andere Ängste verdrängen konnte.

Sie tat ihr Bestes, um das Versäumte wettzumachen. Ein früherer Lehrer aus dem Joods Lyceum, Jaap Meijer, später ein bekannter Schriftsteller und Historiker, war ebenfalls in Westerbork und in der Baracke nebenan untergebracht; bei ihm nahm sie Unterricht in Hebräisch und jüdischer Geschichte. Sie beteten auch miteinander: An den großen jüdischen Feiertagen durften in Westerbork noch Gottesdienste gehalten werden.

Dennoch verzehrte sich Ruth nach der Schule und dem Unterricht und dem Leben als junges Mädchen, das ihr verwehrt wurde.

 

Für Grete war das Schmerzlichste, ihre Kinder leiden zu sehen. Sie gab sich alle Mühe, ihnen nicht nur überleben zu helfen, sondern sie zu trösten, wenn meine Mutter wegen der Menschenmassen und der Fremdartigkeit des Lagerlebens weinte und Ruth über die verlorenen Möglichkeiten und ihre Schulbildung. Grete konnte wenig tun, wenig sagen, was es besser gemacht hätte. Aber sie versuchte es.

An dem Abend vor Ruths sechzehntem Geburtstag trieb ihre Mutter Nelken für sie auf – Ruth bekam nie heraus, wie sie das bewerkstelligt hatte – und schrieb ihr einen Brief der Liebe und Ermutigung, in den Grete alle ihre Zukunftshoffnung legte. Der Brief zeigt aber auch, wie schwer es für sie ohne Alfred und jetzt auch ohne ihre Schwester war.

Mein geliebtes Kind,

morgen bist Du 16 Jahre alt, bist kein Kind mehr, sondern ein junges Mädchen, ein sehr junges Mädchen. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt für Dich.

In normalen Zeiten hätten wir diesen Neubeginn mit allem Guten u. Schönen gefeiert. Mit vielen schönen u. nützlichen und auch überflüssigen Geschenken, mit gutem Essen und Trinken, mit Kuchen, Früchten, Eis und Schokolade. Und vor allem zusammen mit allen Lieben und vielen Freunden und Freundinnen.

Daß dies alles nicht sein kann, erfüllt mich mit großem Bedauern, aber Du weißt, mein Gutes, es geht eigentlich allen Menschen jetzt so, und wir müssen hoffen, daß wir dies alles einmal nachholen können.

Mein eigener 17. Geburtstag war so schön und harmonisch, und so hätte ich ihn Dir auch gewünscht. Und ich verspreche Dir, alles was in meinen Kräften steht, will ich dran setzen, um Dich und Ev und Mirjam für alle jetzige Entbehrungen zu entschädigen.

Weil ich Dir so viel zu sagen habe zu Deinem Geburtstage, und weil manches sich so schwer sagen läßt, schreibe ich Dir, mein Kind.

Vor allem muß ich heute einmal aussprechen (was Du vielleicht nicht ganz begreifen kannst), wie sehr mich Deine Entwicklung im letzten Jahr beglückt hat. Es ist das schöne beglückende Erlebnis einer Mutter, wenn sie sieht, daß ihr Kind Fähigkeiten und Eigenschaften entwickelt, die sie selbst für ihr Kind gewünscht hat. Es ist ein noch viel tieferes Glück als das der Geburt des Kindes. Und wie wenig kann man eigentlich als Mutter dazu tun!? Heute stehe ich vor Dir und muß Dir danken, mein liebes, großes Mädel! Du warst mir in den letzten schweren Wochen eine wirkliche Stütze. Von dem Augenblick an, da Du, an dem schrecklichen 20. Juni, zusammen in aller Frühe aus Deinem schönen warmen Bett aufgestanden bist und mir so tüchtig und verständnisvoll geholfen hast. Und dann Dein Verhalten hier unter so schrecklich veränderten Umständen, Dein Eintreten in eine neue Art der Arbeit, Deine Liebe und Dein Vertrauen, das Du mir bewiesen hast, meine Gute, wie dankbar bin ich Dir für Alles! Siehst Du, das mußte ich Dir schreiben, denn wenn ich es Dir sage, willst Du es doch in Deiner Bescheidenheit nicht mit anhören.

Morgen wird Papa in Liebe und Sehnsucht an Dich denken. Wenn doch der Tag käme, daß ich ihm seine Töchter wiedergeben kann. Ich bin sehr unglücklich, das weißt Du, daß er diese 3 Jahre Eurer Entwicklung nicht miterleben konnte! Wie wird er staunen und froh sein, Euch wieder zu haben. Und Tante Nuti, Onkel Jan und Fritz denken an Dich! Wie fern ist alles, was mit uns zusammengehört. Wir dürfen gar nicht denken, was uns angetan wurde. Und müssen froh sein, daß wir 4 zusammen sind.

Meine Liebe, ich umarme Dich und küsse Dich, ich bete für Dich, daß Du mir gesund und so schön und rein erhalten bleibst, daß der liebe Gott Deine liebevolle und kindliche Bereitschaft vergelten möge, daß er Dir viel Freude und vor allem die Möglichkeit zur Entfaltung Deiner Fähigkeiten geben möge. Denn das ist im Leben jedes denkenden Menschen das größte Glück, die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Sei nicht traurig, daß Du jetzt nicht weiterlernen kannst wie bisher auf der Schule, das kommt alles noch an die Reihe. Du weißt, ich habe auch erst nach jahrelanger Unterbrechung das Abiturium gemacht und dann studiert. Nimm das Leben so, wie es ist, und »make the best of it«. Ich glaube, Du hast den nötigen Optimismus dazu.

Ich war so bestürzt, Dich heute Abend weinen zu sehen. Mein Liebes, überlasse mir das Weinen. Sieh, ich bin so müde, so mürbe, so krank von allem, was ich in den letzten Jahren mitmachen mußte, und ich bin darum wohl oft zu ernst, zu schwer, zu traurig für Euch. Ihr sollt Euch nicht darum kümmern. Vielleicht kommt auch für mich die Zeit, wo ich wieder lachen kann. Sei mir nicht böse, mein liebes Kind, wenn ich Dich manchmal mit meinen Sorgen belastet habe. Morgen wollen wir alle an eine gute Zukunft denken, die uns mit Papa und mit Abrahams wieder zusammenführt. Der Kuchen wird hoffentlich auch noch eintreffen und einige Geschenke, die eigentlich heute schon kommen sollten. Erst mal nimm die Nelken von mir, stell sie auf den Tisch und nimm sie als Symbol für die Schönheit und Freude, die ich für Dein weiteres Leben ersehne.

Ich umarme und küsse Dich, kleine große Frau, ich hoffe, Du verstehst mich ganz und ahnst ein wenig, wie lieb ich Dich habe.

Mutti401

Als Ruth mit vierundachtzig Jahren, als Mutter zweier Kinder und Großmutter dreier Enkel 2011 starb, fand ihr Sohn Gretes Brief in der Schublade ihres Nachtkästchens.

 

Am Montag, dem 22. November 1943, vermerkt Ruth in ihrem Tagebuch, dass sie und Grete zu einer Unterredung mit einem »Fräulein Slottke« bestellt sind. Abends um sieben fanden sie sich ein und mussten bis halb zwölf Uhr nachts warten. Ruth fügt hinzu: »Es wird uns mitgeteilt, dass der Transport am nächsten Tag nicht stattfindet. (Es hätte ein »guter« Transport zum Austauschlager in Celle sein sollen.)«

Gemeint war das KZ Bergen-Belsen im Kreis Celle, das nach den zwei in der Nähe gelegenen Ortschaften benannt war.

Im Frühjahr 1943 hatte sich Himmlers Interesse an der Geiselhaft einzelner Juden konkretisiert, und es wurde ein Konzentrationslager besonderer Art eingerichtet. Das deutsche Außenministerium teilte Himmlers Ansicht, dass man der Möglichkeit nachgehen müsse, Juden einzutauschen; besonderes Interesse bestand im Ministerium am Austausch deutscher Kriegsgefangener der Briten und Amerikaner.

Im März 1943 schickte das Ministerium dem Reichssicherheitshauptamt unter Himmlers Leitung eine Nachricht folgenden Inhalts:

Etwa 30000 Juden … die für einen möglichen Austausch geeignet scheinen, sind für diesen Zweck zur Verfügung zu halten. Nach dem Wunsch des Außenministeriums ist dafür zu sorgen, dass diese Personen vorläufig nicht deportiert werden. Sollten die Verhandlungen zu oben erwähntem Austausch kein Ergebnis zeitigen, kann die Deportation dieser Juden später immer noch stattfinden.402

Der Vorschlag fand Zustimmung. Himmler beauftragte die SS, ein Lager für die sogenannten Austauschjuden einzurichten. Das Ergebnis war das Durchgangslager Bergen-Belsen.

Ab Sommer 1943 wurden dort polnische Juden aufgenommen, deren Dokumente einen Tauschwert vermuten ließen. Und ab Herbst sah sich die SS nach vergleichbaren Personen unter den holländischen und deutschen Juden in Westerbork um. Das war der Grund, weshalb Gertrud Slottke ins Lager kam; deshalb hatte sie in jener Montagnacht im November Grete und Ruth zu sich bestellt.

Nach dem Krieg behauptete Slottke, sie sei lediglich Sekretärin gewesen. Tatsächlich war sie bis Februar 1942 Stenotypistin in einem der Sicherheitsämter in Den Haag. Dann aber kam sie zu Wilhelm Zoepf, dem Vertreter Eichmanns in den Niederlanden, der in dieser Eigenschaft verantwortlich für die Durchführung der »Endlösung« an den niederländischen Juden war. Als Zoepfs rechter Hand erwuchs auch Slottke Macht über Leben und Tod.403

Denn ihre – mit Enthusiasmus betriebene – Aufgabe war es, sich eine Meinung darüber zu bilden, welche Rückstellungen akzeptiert und welche abgelehnt werden sollten, und ihren Vorgesetzten entsprechend zu beraten. Weil sie überaus eifrig war, erledigte sie ihren Job ungern vom Schreibtisch aus, sondern kam persönlich ins Lager, um die Kandidaten in Augenschein zu nehmen und ihre Wahl zu treffen.

Wer das Pech hatte, ihr zu begegnen, beschrieb Slottke als eine Person, die während der Unterredung einigermaßen freundlich war und nie Umschweife machte, aber auch als »Fleisch gewordenen Alptraum«,404 als »Hexe«, als »Erscheinung« und als »fledermausartige Gestalt«.405 Als Slottke 1967 endlich vor Gericht stand, zeigte sich, dass sie selbst sich ganz anders sah – als das eigentliche Opfer, nämlich eines gigantischen Justizirrtums.406

Slottkes Besuch im November hatte keine Resultate erbracht, doch Anfang Januar war sie wieder da, sah sich erneut die Unterlagen an und überprüfte die Rückstellungen. Diesmal ergab ihre Prüfung eine ganz neue Lage für die Wieners.

Der Tod war in Westerbork nur eine Frage der Zeit, Ruths Tagebuch ist da ganz unverblümt. »Samstag, 14. August 1943: Ein neuer Transport aus Amsterdam … Dineke Roosevelt [eine Klassenkameradin] ist darunter … Montag, 16. August: Dineke getroffen … Dienstag, 24. August: wieder ein Transport [»nach dem Osten«] – Dineke dabei. Bin vier Tage krank … Montag, 30. August: Wir stehen wieder auf der ›Transportliste‹, werden aber wieder gestrichen … Dienstag, 31. August: Schon wieder ein Transport – Jenny [Schulfreundin] ist dabei.« Früher oder später trifft es jeden. Slottke bedeutete die einzige Möglichkeit, von hier fort-, aber nicht auf direktem Weg in die Gaskammern zu kommen.

Was Slottke verlangte, war der Nachweis irgendeiner Form von doppelter Staatsbürgerschaft. Lag der vor, wies sie deren Besitzer an, sich für den Transport nach Bergen-Belsen bereitzumachen. Und der Grund, warum Ruth, wie sie in ihrem Tagebuch schrieb, den Eindruck hatte, dies sei ein »gutes« Lager, war das Loblied, das Slottke auf seine Vorzüge sang. Das Essen sei gut – auf besonderen Wunsch sogar koscher. »Sie hörte sich an wie eine Reisevermittlerin, die uns zu einem Urlaub zu überreden versuchte«, sagte eine von Mirjams Mitgefangenen.407 Was sehr sonderbar war – schließlich warb sie nicht um Freiwillige. Wenn sie einen nach Bergen-Belsen zu schicken beschloss, dann gehorchte man.

Grete hatte die Palästinazertifikate bei sich, die sie schon einmal gerettet hatten, doch was ihr diesmal zum Erfolg verhalf, waren die in neuerer Zeit erworbenen Dokumente: Die Wieners waren jetzt paraguayische Staatsbürger.

Anfang Januar 1944 erhielt Grete einen kleinen braunen Zettel, etwa fünf mal dreieinhalb Zentimeter groß, auf dem die Anweisungen als Durchschlag und die Namen extra getippt waren. Darauf stand, dass sie »und ihre Töchter Eva und Mirjam« – Ruth galt als Erwachsene und bekam eine eigene Aufforderung – am 11. Januar ins Austauschlager geschickt würden.

Camille

Ende November 1943 erhielt die dreiundvierzigjährige Camille Aronowski, die in Bern Sekretärin bei einem Türenhersteller war, unerwartet Besuch von der Schweizer Polizei.

Den Behörden sei aufgefallen, teilte man ihr mit, dass sie NS-Zeitungen in großer Zahl gekauft sowie faschistisches Propagandamaterial gesammelt und ins Ausland geschickt habe. Aus Neugier und nicht zuletzt aus der Sorge heraus, dieses Tun sei womöglich eine Form von Spionage oder stelle eine Gefahr für die Schweizer Neutralität dar, habe nun die eidgenössische Staatsanwaltschaft die Polizei gebeten, der Sache nachzugehen, was hiermit geschehe.

Wer sie denn sei, wollte der eine Beamte wissen. Und was sie vorhabe.

Camille gab bereitwilligst Auskunft. An ihrem Beruf sei nichts Irreführendes. Sie sei tatsächlich die Sekretärin einer Firma, die Türen herstelle. Davor habe sie in gleicher Funktion in einer Druckerei gearbeitet. Das Sammeln von Nazizeitungen sei keine gewerbsmäßig ausgeübte Tätigkeit.

Sie sei als Camille Weill geboren, habe den polnischen Anwalt Samuel Aronowski geheiratet und zwei Kinder mit ihm. Nach fünf Jahren Ehe sei Samuel nach Warschau gezogen und erst nach dem Überfall der Deutschen auf Polen in die Schweiz zurückgekehrt, wo er innerhalb weniger Wochen verstorben sei. Jetzt lebe sie hier, wo sie früher mit ihrem Mann gelebt habe, als Witwe, zusammen mit ihrer Mutter und einem polnischen Flüchtlingskind, das sie aufgenommen habe. Sie führe ein ganz normales Leben.

Und die Zeitungen?

Das sei leicht zu erklären. Ihre viel jüngere Schwester Yvonne Weill sei die Sekretärin des bekannten Schweizer Anwalts Georges Brunschvig, berichtete Camille. Dessen wahrhaft steile Karriere habe vor zehn Jahren begonnen, als er den Prozess gegen die Verleger der Protokolle der Weisen von Zion geführt habe. Und damals habe sich Camille mit einem Mitglied im Team der Kläger befreundet, einem gewissen Dr. Alfred Wiener.

Für ihn beschaffe sie die Zeitungen. Er schicke ihr Listen der Schriften, die er haben wolle, insbesondere der offiziellen nationalsozialistischen Publikationen aus Deutschland, die in der Schweiz erhältlich seien. (Tatsächlich hatte eine dieser Bestellungen aus Übersee die polizeiliche Ermittlung ausgelöst.) Sie kaufe sie, und wenn sie einen Stapel beisammenhabe, trage sie ihn zum Berner Postamt oder zur Buchhandlung Franke und schicke ihn an John Oppenheimer in Long Island, New York. Sie habe, sagte Camille der Polizei, im Lauf der vergangenen Jahre rund 150 Päckchen mit Büchern und 400 Stapel Zeitungen verschickt; sie führe Buch darüber.

Die Polizisten waren mit den Auskünften zufrieden. Das Fazit ihres Berichts war harmlos.

Die ganze Familie Aronowski inklusive die im gleichen Haushalt lebenden Personen werden gut beleumdet und gaben der Sicherheits- und Kriminalpolizei der Stadt Bern mit Ausnahme von Widerhandlungen gegen die Verkehrsvorschriften nie Anlass, sich mit ihnen zu befassen.408

So weit die Erklärung der Berner Polizei zu ihrer Absicht, Camille Aronowski nicht weiter zu behelligen. Und sie hielt sich daran.

 

Was die Polizisten Camille nicht fragten und diese ihnen nicht sagte, betraf die Tätigkeiten, mit denen sie Alfred darüber hinaus unterstützte. Andernfalls wäre das polizeiliche Fazit womöglich weniger milde ausgefallen.

Seit dem Einmarsch der Deutschen in die Niederlande war Camille Alfreds wichtigste Helferin bei dessen verzweifeltem Bemühen um Visa für seine Frau und seine Töchter. Da Camille in einem neutralen Land lebte, hatte sie es leichter, Anträge zu stellen. Sie war diejenige, die sich um Visa für die USA bemüht hatte, und auch diejenige, die dem kubanischen Visaschwindel aufgesessen war, nachdem sie viel Geld für einen letztlich ganz wertlosen Stempel bezahlt hatte.

Doch im Sommer 1943, in den Wochen nach der Verhaftung der Wieners, kam der Durchbruch. Und das Ergebnis war der Brief, den Camille am 3. Juli abschickte, adressiert an »Frau Dr. Margarethe Wiener, z.Zt. Konzentrationslager Westernbork, b/Amsterdam, Holland«.

Als Grete den Brief erhielt, war er von den Zensoren auf der linken Seite des Kuverts geöffnet und mit Klebstreifen wieder verschlossen worden, auf den kleine Hakenkreuze gestempelt waren. In der Erwartung, dass ihr Schreiben wahrscheinlich von der Obrigkeit gelesen würde, hatte Camille sich sehr vorsichtig ausgedrückt.

Sehr geehrte Frau Dr. Wiener,

soeben erfahre ich, dass Sie mit Ihren Kindern und Ihrer Nichte Betty ins Lager Westernbork verbracht worden sind. Dies muss auf einem Irrtum beruhen, da Sie dank den Bemühungen Ihrer Verwandten ja einen ausländischen Pass erhalten sollten.

Ich bitte um sofortige Mitteilung Ihrer genauen Daten, Vornamen, Geburtsdaten usw., damit ich Ihnen die nötigen Papiere sofort zustellen kann.

Alfred geht es gut, und ich will hoffen, dass auch Sie alle sich bester Gesundheit erfreuen.

In der Hoffnung, bald von Ihnen Genaueres zu erfahren, verbleibe ich, mit den besten Grüssen und Wünschen auch von Alfred,

sehr herzlich

Ihre C. Aronowska409

Der Brief verriet, dass Camille einiges nicht wusste, etwa dass das Lager »Westerbork« heißt, dass Grete ihren vollen Namen ohne h schrieb und nicht, wie zu ihrer Zeit verbreitet, »Margarethe«, und vor allem wusste sie nicht, dass Betty nicht mehr bei der Familie war.

Sie dürfte indessen gewusst haben, dass Betty keine Nichte der Wieners war. Die Formulierung war notwendig, weil der Pass, den sie zu schicken versprach, für eine einzige Familie ausgestellt werden sollte, was Bettys Eingemeindung erforderte.

Das Dokument, um das es ging, war einer der paraguayischen Pässe aus der Fabrikation der Ładoś-Gruppe, für die der polnische Konsularbeamte Juliusz Kühl nach Entrichtung saftiger Gebühren an den paraguayischen Konsul Hügli die Blankoexemplare beschaffte.

Abraham Silberschein, der polnische Jude, mit dem die Diplomaten zusammenarbeiteten, hatte eine Liste der Personen, die er als mögliche Empfänger identifiziert hatte, an die anderen Mitarbeiter der Ładoś-Gruppe weitergeleitet. Dabei war auch eine Liste derjenigen, von denen die Gruppe Beiträge erhoben hatte, um den Konsul zu bezahlen. Camilles Name stand jedoch auf keiner Liste, denn sie war auf einer gänzlich anderen Route zu dem Passgeschäft gelangt.

Während Camille 1943 bereits eine dreiundvierzigjährige Witwe war, war ihre Schwester Yvonne noch in den Zwanzigern und mit einem in der Schweiz lebenden Polen verlobt. Im Winter hatte das Paar geheiratet, und Camille war die Schwägerin von Juliusz Kühl geworden. Die einzige bekannte Fotografie der gesamten Ładoś-Gruppe entstand auf der Hochzeit von Yvonne und Juliusz. Auf diese Weise gelangte Camille an das kostbare Dokument: Sie nahm es von Juliusz persönlich entgegen.

Wie gut, dass die eidgenössische Polizei Camilles Verwicklung in die Machenschaften dieses Passrings, der ihr ein solcher Dorn im Auge war, nicht ermittelt hatte. Wer weiß, welche Komplikationen daraus erwachsen wären.

Diese sehr bemerkenswerte Fügung aus Beziehungen, Zufällen, Erfindungsreichtum und Wagemut verknüpfte Alfreds Zeit in der Schweiz und seine Mitwirkung am Prozess gegen die Verleger der Protokolle mit der Aufnahme seiner Familie unter die Staatsbürger Paraguays.

 

Am 29. Juli 1943 schickte Camille einen zweiten Brief an Grete. Diesmal schrieb sie das Lager richtig, ebenso Gretes Vornamen.

Liebe Frau Margarete,

vielen Dank für Ihre Zeilen vom 25.6. Ich hoffe, dass Sie inzwischen mein Schreiben vom 3. Juli erhalten haben. Ich habe Alfred sofort berichtet und von ihm vorläufig Ihre Geburtsdaten erhalten, da wir hoffen, Ihnen bald Ihre Pässe zustellen zu können.

Nun müsste ich schnellstens von Ihnen noch erhalten:

Die genauen Personalbeschreibungen (Haarfarbe, Augen, Gesicht, Grösse, Konstitution usw.) sowie Passbilder von Ihnen allen und zwar möglichst in mehreren Exemplaren, damit man die Pässe ausfüllen und an Sie senden kann.

Es würde mich freuen, wenn ich die Kinder durch das Rote Kreuz zu mir nehmen könnte, und ich unternehme diesbezügliche Schritte. Vor allem aber sollte ich baldmöglichst Ihre Passbilder haben.

Alfred geht es gut, und er hat, wie ich, beim Palästinaamt interveniert, damit Sie auf der Austauschliste vermerkt werden. Sie werden ja inzwischen die Mitteilung von Genf erhalten haben.

Ist Betty bei Ihnen? Ich sollte auch ihre Daten haben.

Ich schliesse in der Hoffnung, dass es Ihnen gesundheitlich gut geht, und mit den besten Wünschen für Sie alle,

sehr herzlich,

Ihre Camille410

Mit diesen Informationen – den üblichen Passangaben – konnte Camille den Wieners die neuen Papiere zukommen lassen.411 Im Spätherbst trafen sie in Westerbork ein: wenige Wochen vor Slottkes erstem Besuch.

Der Familienpass war eines der allerletzten Exemplare aus der Herstellung der Ładoś-Gruppe, die noch von Hügli unterschrieben waren. Ein paar Wochen später wäre es zu spät gewesen.

Bergen-Belsen

Am Sonntag, dem 15. April 1945, nachmittags, betraten britische Truppen, nachdem die Nazis einem lokalen Waffenstillstand zugestimmt hatten, das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Sie waren in keiner Weise auf den Anblick vorbereitet, der sie erwartete. Er ging ihnen für den Rest ihres Lebens nicht mehr aus dem Kopf. Manche konnten niemals darüber reden; andere konnten kaum mehr über etwas anderes reden.

Überall lagen Leichen. Innerhalb der Zäune, zwischen den Zäunen, in den Baracken, zwischen den Baracken, in den Abflussgräben. Der Gestank war unvorstellbar. Spuren verwiesen auf frisch zugeschüttete Massengräber, eine offene Grube war halb voll mit Leichen. Tausende nackter und halb nackter Menschen lagen auf dem Boden, so viele, dass sie nicht ganz ausgestreckt liegen konnten. Sie lagen, weil sie zum Stehen zu schwach waren. Viele waren von Krankheit hingestreckt, hauptsächlich Typhus. Die anderen von Unterernährung. Es gab kein Wasser, keine sanitären Einrichtungen, kein Essen. Das war aus Himmlers Lager für Geiseln geworden. Das war das Ende seiner gescheiterten Idee, Tausende Juden gegen heimkehrwillige Deutsche und Material einzutauschen.412

 

Als die Wieners im Januar 1944 hier eingetroffen waren, hatten noch keine Tausende in Bergen-Belsen gelebt; Mirjam sagte, das Lager »war fast leer«.413 Die Wieners waren mit dem ersten Transport aus Westerbork gekommen; ein kleines Kontingent holländischer Juden stieß zu einem kleinen Kontingent hauptsächlich griechischer Juden, die im Sommer hergebracht worden waren. In einem angrenzenden Bereich, getrennt durch Stacheldraht, sah man die Häftlinge des Baukommandos, die das Lager errichtet hatten.

Die Wieners waren in einem normalen Passagierzug gekommen, im Ohr noch Slottkes verheißungsvolle Worte von der Gediegenheit des neuen Lagers, doch in dem Moment, als sie den Fuß auf den Boden setzten, begannen sie zu erkennen, wohin sie geraten waren.

Sie waren die ganze Nacht gefahren, von etwa 18 Uhr an über ungezählte Zwischenhalte, hatten gegen Mitternacht die Grenze nach Deutschland überquert und durchs Fenster die Ruinen des zerbombten Bremen gesehen. Und um halb neun Uhr morgens erreichten sie endlich den kleinen Bahnhof von Celle. Wenigstens ist es nicht Polen, sagten sie sich, wenigstens hatte man sie nicht hereingelegt. Aber das war die einzige Erleichterung. Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, füllte sich der Bahnsteig mit Waffen-SS, jeder mit einem bellenden, knurrenden Wachhund an der Seite. Sie rissen die Zugtüren auf und schrien »Raus! Raus!«.414

Der Bahnhof war etwa eine Stunde Fußweg vom Lager entfernt, und die Häftlinge machten sich mit geschultertem Gepäck auf den Weg. Beim Näherkommen sahen sie schon aus der Ferne den Stacheldraht und die Wachttürme und hörten noch mehr Hundegebell. Das Wort, das meine Mutter am häufigsten benutzte, um Bergen-Belsen zu beschreiben, war »trostlos. Es war entsetzlich trostlos.«415 Ruth erkannte auf der Stelle den Unterschied zu Westerbork. »Ich hatte ein bisschen Angst vor dem ganzen Umfeld, wenn man das so nennen kann. Die ganze Atmosphäre war einfach grauenhaft.«416 Auch Eva war starr vor Schrecken. Grete konnte die Mädchen nur immer wieder bitten, den Mut nicht zu verlieren, am Ende würde alles gut. Sie blieb stark. Sie musste.

Der Aufenthalt in Bergen-Belsen begann mit dem berüchtigten Appell, der eines der Charakteristika aller KZs war: Die Häftlinge mussten sich in Formation aufstellen und zählen lassen. Diesmal dauerte der Appell nur ein paar Stunden.417 Oft wesentlich länger. Es herrschte eisige Januarkälte, und kein Häftling war ausreichend gekleidet, um längere Zeit herumzustehen. Weil der Appell vergleichsweise kurz dauerte und weil sie noch nicht vor Hunger ausgezehrt waren, überstanden sie ihn einigermaßen, bevor sie auf die Baracken verteilt wurden. Mit der Zeit wurde der Appell für alle zur Qual; für viele war er tödlich.

Das KZ Bergen-Belsen war in mehrere Abschnitte unterteilt, wobei im Verlauf des Jahres 1944 neue Bereiche hinzukamen und der Stacheldraht ständig versetzt wurde. Im Januar befand sich der Bereich, in dem die Wieners inhaftiert waren, im Zentrum des Komplexes. Dieser Bereich war das sogenannte Sternlager, weil die Insassen Zivilkleidung mit angenähtem gelbem Judenstern trugen. Sie wurden auch nicht tätowiert und nicht geschoren.

Mirjam war sicher, dass dieser Umstand überlebenswichtig für sie gewesen war.

Du steckst jemanden in gestreifte Häftlingskleidung, du stempelst ihn mit einer Nummer ab – man kennt den Menschen nur noch mit seiner Nummer – und rasierst ihm sämtliche Haare ab, so dass alle gleich aussehen; das löscht alle Identität aus und ist im Grunde der erste Schritt zum Grab. Mit uns haben sie das eben nicht gemacht … wahrscheinlich haben sie ja damit gerechnet, dass sie uns austauschen können, und es hätte nicht gut ausgesehen mit eintätowierten Nummern … ich glaube, das hat eine sehr, sehr große Rolle gespielt.418

Die Kleidung, die sie behalten durften, war den Mädchen zu diesem Zeitpunkt allerdings schon zu klein. Ruth zum Beispiel war aus ihren Schuhen, die sie in Westerbork getragen hatte, herausgewachsen und musste sich Schuhe ihrer Mutter leihen, die ihr zu groß waren, und bei allen drei endeten die Mantelärmel weit über dem Handgelenk.

Doch obwohl die Kleidung sich zunehmend abnutzte, obwohl sie zunehmend zerlumpte, wurde das Größenmissverhältnis, solange sie in Bergen-Belsen waren, nicht schlimmer. Wie Mirjam sagte: »Kinder stellen das Wachstum ein, wenn man ihnen nichts zu essen gibt.«

 

Im Lager war es immer kalt. Es war draußen kalt, es war kalt, wenn sie schliefen, es war kalt an den Arbeitsplätzen. In den Baracken gab es einen Ofen, der aber wenig Wärme gab. Nachts sank die Temperatur, und Wärme bekam man dann nur von den Nachbarn, die in den Kojen nebenan im Stroh schliefen. Als das Lager sich nach und nach füllte, schliefen pro Regalfach zwei, manchmal drei und mehr Personen.

Körperhygiene war in dieser Enge kaum möglich; bald hatten alle Läuse, Waschgelegenheiten gab es von Anfang an kaum und im Verlauf des Jahres immer weniger. Um sich zu waschen, musste man einen weiten Weg durchs Lager gehen und sich bei ohnehin herrschender Kälte im Freien mit kaltem Wasser bespritzen. Die Toiletten waren Löcher in einem Holzbrett über einer Grube. Abends saßen Familien in den Baracken zusammen und suchten die Kleidersäume nach Läusen ab. Im trüben Licht waren sie schwer zu erkennen, ohnehin ließ sich die Plage allenfalls kurzfristig eindämmen, niemals beseitigen. Es war aussichtslos.419

Die deutsche Methode, Konzentrationslager zu betreiben, bestand darin, einzelne Juden zu »Funktionshäftlingen« zu ernennen und für andere verantwortlich zu machen. In jeder Baracke (»Block«) gab es den oder die Blockälteste. Die Blockältesten organisierten den Appell, waren für die Sauberkeit der Baracke zuständig, stellten eine Gruppe von Leuten ab, die für die ganze Baracke das Essen aus der Küche holten, sie überwachten die Essensausgabe, gaben die Befehle weiter und sorgten für die Einhaltung von Regeln. Erledigten sie ihre Aufgaben nicht zur Zufriedenheit der Bewacher, wurden sie bestraft.420 In Ruths Tagebuch steht am Freitag, dem 6. Mai 1944: »Frau Mainz, die Blockälteste, muss in die Gefängniszelle, weil sie uns Anfang der Woche falsch gezählt hat.« Eine knappe Woche später, am Donnerstag, dem 12. Mai, notierte sie: »Frau Mainz wieder wegen Zählfehler in der Zelle.«421

Vorgesetzter der Blockältesten war in Bergen-Belsen ein anderer Jude, ein sehr unangenehmer, untersetzter, stämmiger422 Grieche namens Jacques Albala. Er »steckte mit den Nazis unter einer Decke«, sagte Mirjam, und »hatte einen entsetzlichen Ruf«.423 Er konnte, sagte Ruth, »genauso schreien und brüllen wie die Deutschen. Er war sehr wild … sicher wollte er sich beweisen. Und er hatte einige Untergebene. Die führten sich fast genauso schlimm auf wie die Nazis.«424

Zu seinen Gunsten spricht, immerhin, dass die Situation noch schlimmer wurde, nachdem die SS ihn »abgesetzt« hatte, wie Ruth am 22. Dezember 1944 notierte. Als Ersatz wurden »arische« Kriminelle ernannt. Hanna Lévy-Hass, eine Mitgefangene der Wieners, erwähnte in ihrem Tagebuch Albalas Bestechlichkeit und sagte über die neuen Kapos:

Mit Leib und Seele dem Teufel verschrieben, haben sie nichts Menschliches mehr an sich. Zynisch, grausam und sadistisch … Man muß gesehen haben, mit welchem perversen Vergnügen sie die Leute prügeln. Ich habe das deutlich gesehen … Gestern, am 30. Dezember, sind zwei Männer unter den Knüppeln tot liegengeblieben … Die Kapos schlagen auch Frauen oder, was noch schlimmer ist, zwingen sie, sich zu prostituieren.425

Wie in Westerbork mussten alle Erwachsenen arbeiten. Grete putzte die Baracken, die eigene und die anderen, auch die der deutschen Aufseher. Ruth war erst zur Küchenarbeit eingeteilt, wurde zwei Tage später aber zum »Schuh-Kommando« verlegt.

Das war ein Glück. Zur Küchenarbeit gehörte, dass man um drei Uhr morgens aufstand, zum Appell antrat und in Fünferreihen durch das Lager marschierte. Zwar konnte man theoretisch während der Arbeit so viel essen, wie man wollte, praktisch war das Essen ungenießbar. Das Hauptnahrungsmittel, das hier verarbeitet wurde, waren Futterrüben, und von rohen Futterrüben wurde man krank.

Manche arbeiteten in der Küche für das SS-Personal. Dort bekam man tatsächlich Delikatessen wie rohe Karotten in die Hände, aber das war fast noch schlimmer, denn die Verlockung, verbotswidrig Karotten hinauszuschmuggeln, war zu groß. Ein ferner Verwandter der Wieners tat genau das, er stahl Karotten für seinen halb verhungerten kleinen Sohn. Er wurde erwischt, musste über Nacht zwölf Stunden lang am Stacheldraht stehen, und am nächsten Morgen waren er und seine Familie verschwunden. Man hörte nie wieder von ihnen.426

Das Schuh-Kommando war weniger gefährlich und hatte etwas bessere Arbeitszeiten. Die »Fabrik«, wie die dort Arbeitenden sie scherzhaft nannten, verarbeitete die Schuhe der von den Nazis umgebrachten Juden. Aus ganz Europa wurden die Schuhe hierhergeschickt, von den Güterzügen geholt und zu einem riesigen Stapel geschichtet. Aus diesem Stapel zogen die im einen Raum arbeitenden Männer die Schuhe toter Kinder heraus, trennten die Sohle vom Oberschuh und reichten Letzteren weiter in den Nebenraum, wo die Frauen arbeiteten.

Dort saß auch Ruth mit ihren Mitgefangenen und zerlegte mit einem kleinen Messer den Oberschuh. Vor sich hatten sie Militärhelme, die als Gefäße für die einzelnen Bestandteile dienten, Schnallen, Schnürsenkel und so weiter. Das gestohlene Schuhleder ermordeter Juden wurde fortgebracht und für die deutschen Kriegsanstrengungen weiterverarbeitet. Eine Gefangene, die mit Ruth zusammenarbeitete, sagte, das Leben im Schuh-Kommando sei »unbeschreiblich« gewesen. »Schmutzig, stickig, dunkel, kalt … die schlimmste Drecksarbeit, die es gibt.«427

Obwohl die Aufseherinnen brutal waren und häufig zuschlugen, konnten die Arbeiterinnen miteinander reden. Ruth saß mit Gleichaltrigen zusammen, sie sprachen über die Zukunft – auch wenn viele hier keine Zukunft mehr hatten. Es war gesellig, aber es war schwer und kalt und die Arbeitstage endlos. Gegen halb sechs Uhr morgens wurde man geweckt, unternahm einen halbherzigen Waschversuch, die Brotrationen wurden ausgegeben, dann folgten der Appell und der Marsch zur Arbeit. Zu Mittag war eine Pause für eine Mahlzeit, dann ging die Arbeit weiter bis sieben Uhr abends. Gearbeitet wurde an sechseinhalb Tagen in der Woche. Nach der Arbeit erfolgte stets ein ausgedehnterer Appell. Und recht häufig war die einzige Ruhezeit der Woche, der Sonntagnachmittag, wegen einer extrem in die Länge gezogenen Zählung zerstört.

Während Grete und Ruth arbeiteten, blieben Mirjam und Eva im Lager zurück und taten »im Grunde nichts«, wie Mirjam sagte. »Man durfte sich nicht in Gruppen treffen. Wir halfen ein bisschen bei Leuten aus, die kleine Kinder hatten.« Manchmal ging Mirjam mit einem Löffel zum hinteren Ende des Lagers, weil dort die leeren Suppenkessel standen. Dort suchten die Kinder nach übrig gebliebenen Rübenschnipseln. »Ich schaute zum Lager zurück, und da war nichts. Es war alles leer.« Später wurde ihr klar, dass ihre Psyche die Realität verzerrte. Das Lager war nie leer, auch nicht während der Arbeitszeiten. Doch sie hatte wirklich Mühe, sich an anwesende Personen, ja an überhaupt irgendetwas zu erinnern – abgesehen von der trostlosen Ödnis.

Wir saßen viel herum und taten im Grunde nichts, denn hauptsächlich ging es darum, Energie zu sparen. Wenn du Hunger hast, tust du nichts, weißt du … Du hast nicht die Kraft, um zu spielen, obwohl wir wahrscheinlich doch Kiesel aufhoben und irgendwelche Spiele damit machten, wir waren schließlich Kinder.428

An eines allerdings erinnerte sich meine Mutter genau: an das Gezähltwerden. Albala und später die kriminellen Häftlinge trieben gemeinsam mit den SS-Leuten die Juden im Lager zusammen und ließen sie zum Appellplatz marschieren, wo sie sich in Fünferreihen in einem großen Rechteck aufstellen mussten. Am liebsten führten die Nazis den Appell spätabends durch oder bei extremer Kälte, besonders gern auch, wenn es regnete. Die Häftlinge trugen nur dünne Hemden, manche nicht einmal Schuhe, nur Socken. Bei Regen verwandelte sich der Platz schnell in Schlamm. Und die Deutschen, im Wintermantel und mit hohen Lederstiefeln, zählten und zählten.

Kam jemand zu spät, wurde er oft geschlagen, und auf jeden Fall begann die Zählung von vorn. Mirjam erinnerte sich an einen Deutschen, genannt Wilhelm Tell (tell für »zählen«), der Häftlinge stieß, trat und anschrie und dann mit Hohngrinsen verkündete, dass wegen eines Fehlers die Zählung von vorn beginnen musste. Das dauerte manchmal vier Stunden, manchmal noch länger. Menschen brachen zusammen und starben und blieben im Schlamm liegen, bis die Zählung vorbei war. Später kamen Häftlinge mit einem Karren und brachten die Leichen fort.

Wozu das ständige Zählen? Niemand konnte das Lager verlassen, an Flucht war nicht zu denken. Erschießung drohte, wenn man nur in die Nähe des Stacheldrahts kam; einige wurden tatsächlich erschossen. Das Zählen war also keine Sicherheitsmaßnahme. Es ging um Kontrolle und Herrschaft und Demütigung. Es gibt keinen einzigen Bericht über Bergen-Belsen, der nicht erwähnt, welches Leiden der Appell bedeutete.

Das andere, das in keinem Bericht unerwähnt bleibt, ist der Hunger. Jeder Müll wurde nach Essbarem durchsucht, und wer etwas fand, aß es sofort auf; chronischer Hunger lässt jedes Ekelgefühl verschwinden.429

Morgens erhielten die Häftlinge 350 Gramm Brot, das 24 Stunden reichen musste; zu Mittag gab es einen Napf Futterrübensuppe, im Wesentlichen Wasser mit ein paar Rübenstückchen darin; manchmal gab es dasselbe noch einmal abends. Einmal in der Woche wurde eine Ration Margarine (60 Gramm) und ein kleiner Löffel Marmelade ausgegeben. Sehr selten gab es etwas anderes – bemerkenswert genug, um in Ruths Tagebuch Eingang zu finden. Dass es am Abend des 16. April 1944 Erbsensuppe gab, war so aufregend, dass Ruth den Eintrag sogar mit einem Ausrufezeichen versah. Einen Monat später gab es Spinat mit Kartoffeln.430 Einmal werden Haferflocken erwähnt, ebenso Makkaroni.431

Die Wieners versuchten ein bisschen Brot aufzusparen, damit es länger reichte, doch es sicher aufzubewahren war schwierig. Im Lager wurde gestohlen. Und eines Morgens mussten sie feststellen, dass ihre eiserne Ration von einer Ratte ausgehöhlt worden war. Allerdings waren alle meist ohnehin zu hungrig, um irgendetwas aufzubewahren.

Basierend auf ihrem eigenen Aufenthalt in Bergen-Belsen, verfasste Gretes ehemalige Chefin van Tijn einen Bericht, in dem sie den Mangel an Nahrung pro Person und Tag auf etwa 1000 Kalorien schätzte. Jedoch hatte van Tijn das Lager im Juli 1944 verlassen können und ihren Bericht einen Monat später geschrieben.432 In der Folgezeit wurde es immer schlimmer, das Lager füllte sich zusehends, und die deutsche Leitung konnte die Situation immer weniger meistern. Die Tage, an denen es noch weniger oder gar kein Essen gab, wurden häufiger; manchmal war der Essensentzug Bestrafung, manchmal aber war auch einfach nichts da. Ersteres war oft eine Behauptung, um Letzteres zu verschleiern. Ende 1944 vermerkt Ruths Tagebuch den Ausfall ihrer Rationen häufiger als eine unerwartete Zulage in Form von Sauerkraut.

Jahre später, als Mirjam und Ruth eigene Kinder hatten, wurde ihnen plötzlich etwas klar, was ihnen seinerzeit nicht bewusst gewesen war: Grete hatte zugunsten ihrer Töchter auf ihr Essen verzichtet. Ruth formulierte es so: »Was machst du, wenn deine Kinder dir sagen, sie haben Hunger?«433

Je größer der Hunger unter den Lagerinsassen war, desto mehr sprachen sie von Essen, träumten von Essen, schrieben sogar von Essen. Mit stumpfem Bleistift schrieb Grete einige ihrer Lieblingsrezepte nieder; ich fand sie, nachdem auch meine Mutter gestorben war, unter ihren Papieren. Einfache Dinge wie Omelette (»Brennt leicht an!«), Pflaumenklöße (»aus gekochten Pellkartoffeln v. Tag vorher (kalt!), gut pürieren, 2 Eier, Mehl soviel, dass man Klöße machen kann, etwas Salz, ausrollen, 4 eckige Stücke schneiden, Zwetschgen gut waschen, abtrocknen, Kerne herausnehmen, in Salzwasser kochen, mit brauner Butter begießen«) und gefülltes Brot (»Von Weißbrot die obere Decke abschneiden, sodass ein Deckel bleibt. Das Innere aushöhlen, Kruste nicht verletzen. Füllen m. gekochtem Gemüse od. gekochtem Fleisch, viel Fett hinein, od. mit Früchten, z.B. eingemachten Aprikosen«).434

Möglich, dass Grete die Rezepte aufschrieb, damit ihre Kinder später ihre typischen Gerichte zuzubereiten wüssten. Es gibt auch ein Rezept für ein eigentümliches »Risotto«, wie es in der Familie genannt wurde, nämlich Reis mit Hackfleisch, in der Pfanne gebraten; meine Mutter kochte es tatsächlich gern. Der wahre Grund aber dürfte gewesen sein, dass Grete das Bedürfnis hatte, sich in Erinnerung zu rufen, was Essen war, es wenigstens im Geiste zu schmecken, an Vergangenes zu denken, sich eine Zukunft auszumalen. Sofern sie überlebten, sofern sie ihre Kinder in die Freiheit zurückbrachte. Dazu war sie entschlossen.

 

Abgesehen von Essensträumen, taten sie, was sie konnten, um ein bisschen Licht ins Dunkel zu bringen. Mit Geburtstagsfeiern zum Beispiel. Am 26. März 1944 wurde Grete neunundvierzig, und eine Freundin schenkte ihr drei Kartoffeln. Die Wieners machten Bratkartoffeln daraus und brachten aus aufgesparten und glücklicherweise nicht von Ratten verzehrten Rationen sogar noch einen Brotpudding zustande. Zu Mirjams elftem Geburtstag am 10. Juni hatte Ruth es irgendwie fertiggebracht, einen Ledergürtel für sie zu machen. Sie trieben sogar etwas Rhabarber auf (Ruths Tagebuch verrät nicht, wo) und machten einen Pudding daraus.

Auch zu Ruths Geburtstag Anfang August gab es einen Gürtel sowie eine lederne Brosche, von einer Freundin aus Resten alter Schuhe gebastelt. Sie habe »echten Porridge!«435 gegessen, notierte sie. Vielsagend ist, dass es zu Evas Geburtstag am 15. September 1944 zwar Geschenke gab (einen Waschlappen, eine kleine Tasche), aber kein Festmahl. Tatsächlich überhaupt kein Essen. Im Tagebuch stehen die Worte »Kein Brot«, unterstrichen.

Es gab auch Freundinnen, vor allem die Schwestern Marion und Erika Neuburger. Wie die Wieners waren sie in Deutschland geboren und nach Amsterdam geflohen, sie hatten derselben Synagoge angehört, denselben Religionsunterricht wie Anne und Margot Frank besucht und waren, weil sie lateinamerikanische Pässe hatten, nicht nach Auschwitz oder Sobibor, sondern nach Bergen-Belsen geschickt worden.436 Ruth schrieb am Samstag, dem 19. März 1944, sie und Erika hätten eine Zeitung »herausgegeben«, verrät aber leider nichts weiter darüber, und sie ist auch nicht erhalten.

Der andere Trost war die Religion. Manche Juden verloren in den Lagern ihren Glauben oder waren von vornherein nicht besonders gläubig gewesen. Viele europäische Juden reagierten auf den Holocaust, indem sie ihre Identität sogar vor ihren Kindern verheimlichten. Andere wiederum hielten umso stärker an ihrem Jüdischsein fest. Bei Grete und Ruth war es so, bei Eva vielleicht etwas weniger. Meine Mutter war dem Judentum für den Rest ihres Lebens tief verbunden.

In Westerbork war es möglich gewesen, jüdische Studien zu betreiben und die jüdischen Feiertage zu begehen, sogar am Freitagabend mit dem Anzünden der zwei Kerzen den Schabbat einzuleiten. In Bergen-Belsen war dies alles verboten; die Aufseher veranstalteten gern überfallartige Durchsuchungen, um Häftlinge bei religiösen Handlungen zu erwischen. An wichtigen jüdischen Feiertagen wie Jom Kippur verordneten die Nazis absichtlich besonders lange Appelle oder Gemeinschaftsduschen. Allerdings gab es meist ohnehin kein Öl oder Wachs für Kerzen, und wenn doch, hätte man es nicht verschwendet. Am Versöhnungstag zu fasten kam für die allermeisten nicht infrage. Dennoch gab es einige verstohlene jüdische Zeremonien, abendliche Lesungen im Dunkeln, manchmal am Schabbat, manchmal an besonderen Feiertagen.

Im Sommer 1946 schrieb Ruth nieder, was diese heimlichen Zeremonien – und die offeneren in Westerbork – für sie und ihre Familie, für andere Insassinnen bedeutet hatten:

Wir gehen durch den Schnee von der Arbeit nach Hause. Unser Rücken ist krumm, die Augen müde. Es ist kalt, beißend kalt.

Aber seht, was geschieht. Auf einmal geht eine Veränderung in uns vor. Wir flüstern nur ein Wort: Freitagabend. Dieses Wort verändert uns; aufrecht gehen wir durch das Tor, das hinter uns abgesperrt wird. Als wir unsere Baracke betreten, sehen wir unsere Freundinnen um den Tisch sitzen und uns erwarten. Alles ist bereit, um Erev Shabbos [Schabbatabend] zu feiern.

Bald geht das Licht aus, und wir sitzen im Dunkeln. Nein, nicht heute Abend. Heute Abend werden die Kerzen brennen, und wir werden beten und singen. Eine von uns beginnt, den Gottesdienst zu halten, eine andere hält eine Rede. Während wir lauschen, vergessen wir alles ringsum: Heute Abend sind wir frei. Dann beginnen wir die alten Lieder zu singen, die uns von unseren Vätern überliefert wurden und diesen von ihren Vätern und so weiter. Wir singen lauter und lauter mit lachenden Gesichtern und glänzenden Augen.

Nach und nach brennen die Kerzen nieder, in vollständiger Dunkelheit legen wir uns nieder, doch auf unseren Gesichtern liegt ein Lächeln, und in unseren Herzen brennt ein Licht. Morgen beginnt ein neuer Tag, ein Tag mit harter Arbeit und wenig Ruhe, doch dieses Licht gibt uns die Kraft zum Weiterleben, wie es immer war und immer sein wird, solange es Juden auf Erden gibt.437

»Montag, 6. Juni 1944 Invasion in Frankreich!!« Nachrichten über das Fortschreiten des Kriegs verbreiteten sich schnell. Vielleicht hatte ein Aufseher eine unpassende Bemerkung gemacht, und die Gerüchteküche erledigte das Übrige. Ruths Tagebuch zeigt, dass die Insassen von der Landung der Alliierten in der Normandie noch am selben Tag erfuhren.

Seit mindestens einem Monat kursierten Gerüchte von einem bevorstehenden Angriff der Alliierten. Und ab Mai berichtete Ruth von Fliegeralarmen; immer öfter tauchen sie in ihrem Tagebuch auf. Dass der Krieg für die Deutschen schlecht lief, war natürlich eine Quelle der Hoffnung für die Lagerinsassen. Der unmittelbare praktische Aspekt war allerdings verheerend.

Das Sternlager für Austauschhäftlinge, in dem die Wieners inhaftiert waren, war, natürlich, eine von mehreren, durch Stacheldraht voneinander getrennten Abteilungen. Nebenan war ursprünglich ein Lager für Strafgefangene gewesen; ferner gab es ein »Neutralenlager«, für Juden aus neutralen Staaten, und ein »Ungarnlager«, dessen Insassen für einen eigenen Austausch vorgesehen waren. Ab Frühjahr 1944 änderte sich die Anordnung, das Häftlingslager wurde nun als sogenanntes Erholungslager genutzt. Dort wurden Juden aus anderen Arbeitslagern einquartiert, die vor Auszehrung und Erschöpfung nicht mehr arbeitsfähig waren: Mit dem ersten Transport kamen Tuberkulosekranke, die am Bau von V2-Raketen gearbeitet hatten.

Natürlich konnte von »Erholung« keine Rede sein. Kein Arzt, auch kein Gefängnisarzt hatte die Schwerkranken nach Bergen-Belsen begleitet. Und als sie dort eintrafen, kümmerte sich niemand um sie, es gab nicht einmal Decken, kein warmes Essen.438 Die Kranken überlebten meist nicht lang.

Und im Sommer 1944 wurde eine ganz neue Abteilung errichtet, das sogenannte Frauenlager, das anfangs aus Zelten hinter der Schuh-»Fabrik« bestand. Im November riss ein Sturm die Zeltstadt fort, die Bewohnerinnen blieben mit nichts als ein paar Decken als geteiltem Schutz vor Hagel und Regen zurück. Schließlich wurden alle in Gebäude verlegt, wohnten eine Weile in den Küchen und den Schuhbaracken, ehe sie halb fertige Baracken beziehen mussten, in denen es noch weniger Licht und Komfort gab als in der Standardunterbringung.

Die zunehmend verzweifelte militärische Lage Deutschlands machte sich in Bergen-Belsen auf dreierlei Weise bemerkbar. Zum einen wurde es immer unwahrscheinlicher, dass Himmlers geplante Geiselaktion je umgesetzt würde. Die Alliierten, die schon immer unwillig gewesen waren, Abkommen mit den Nazis zu treffen, verloren endgültig jede Lust dazu, je näher der Sieg rückte. Das bedeutete einerseits, dass die Insassen des Sternlagers die Hoffnung auf einen Austausch aufgeben mussten, und andererseits, dass die Nazis noch weniger Interesse daran hatten, sich um sie zu kümmern.

Die zweite, noch folgenschwerere Auswirkung war, dass die Nazis andere Konzentrationslager vor ihren heranrückenden Feinden evakuierten. Sie begannen die Insassen nach Deutschland hereinzuholen, womit Bergen-Belsen zu einem naheliegenden Ziel wurde. Im Spätherbst 1944 begannen sie Auschwitz-Birkenau zu leeren und die dortigen Gaskammern und Krematorien einzureißen. Viele Überlebende mussten sich zu Fuß nach Bergen-Belsen aufmachen, und viele starben unterwegs.

Es gibt kaum Berichte, anhand deren sich die Zahl der Neuankömmlinge in Bergen-Belsen nach dem Sommer 1944 genau ermitteln ließe; es ist aber klar, dass es Zehntausende gewesen sein müssen. Von einem fast leeren Lager zu Jahresbeginn war die Zahl der Insassen bis Dezember schon auf 15000 angewachsen. Ende März 1945 waren es an die 40000; die Zahl der Todesfälle betrug insgesamt um die 50000.

Unter denen, die aus Auschwitz kamen und in den Zelten untergebracht wurden, waren Margot und Anne Frank. Ruth hatte erfahren, dass einige Holländer im Lager eingetroffen seien, und ging nachsehen, wer wohl auf der anderen Seite des Stacheldrahts war. Sie nahm Mirjam mit, und die Schwestern entdeckten tatsächlich bekannte Gesichter. Am 20. Dezember 1944 schrieb Ruth in ihr Tagebuch: »Margot und Anne Frank im anderen Lager.« Die Neuankömmlinge waren in der Mehrzahl barfuß und hatten keinen Mantel. Ruth erinnerte sich, dass die Franks »ziemlich entsetzlich« aussahen.439

Erika Neuburger erwähnt in ihrem 2008 erschienenen Bericht über ihre Zeit in Bergen-Belsen (über die sie ansonsten so gut wie nie sprach), dass sie mit Hanneli Goslar, der engen Gefährtin von Anne Frank, gut befreundet war; sie war ebenfalls im Sternlager.440 Vielleicht hat Eva über Erika auch Hanneli gekannt.

In der einzigen Aussage, die Eva hinterließ – sie stammt aus dem Jahr 1958 –, entsann sie sich eines »Geheimabkommens« mit Hanneli, die herausgefunden hatte, dass die Franks im Lager nebenan waren.

Nachts kamen wir zusammen, und meine Mutter [Grete] warf etwas, das sie aufgespart hatte, über den Zaun. Es war ein bisschen Essen für die Franks, die am Verhungern waren. Aber eine andere Frau fing den Bissen, sie lief damit weg und dankte dem Himmel. Margot und Anne weinten und waren wirklich untröstlich.441

Eva diktierte ihre Geschichte einer Elfjährigen für deren Schulprojekt. Fast alles in dem Bericht, den das Mädchen niederschrieb, deckt sich mit Mirjams und Ruths Geschichte, auch mit dem größeren Bild. Manche Details aber dürften nicht stimmen. Zum Beispiel war Grete im Dezember bereits schwer krank, und dass sie jemandem Essen zugeworfen haben soll, vor allem nachts, ist nicht wahrscheinlich. Es wurde zwar berichtet, dass Anne Essen über den Zaun geworfen wurde, doch deutet nichts darauf hin, dass Margot Hanneli kannte. Allerdings war der Stacheldraht dort, wo die Begegnung stattfand, dick mit Stroh ausgestopft,442 und Eva konnte vielleicht gar nicht sehen, dass Margot nicht anwesend war.

Dass Brot über den Zaun geworfen wurde, dürfte jedoch stimmen, denn Erika erzählte eine sehr ähnliche Geschichte davon, wie sie mit Hanneli im Dunkeln zum Zaun ging, um Anne zu treffen, und wie sie ihr »etwas von unserem Rot-Kreuz-Essen« hinüberwarfen.443

Die dritte Auswirkung des nahen Untergangs des NS-Staates war, dass die Lagerleitung, während gleichzeitig die Zahl der Menschen ständig zunahm, immer weniger in der Lage – oder immer weniger gewillt – war, das Lager zu verwalten. Dass es immer weniger zu essen gab, lag zum Teil am zusammengebrochenen Nachschub. Für den Kollaps des Sanitärsystems und das Fehlen der elementarsten Anlagen waren allerdings hauptsächlich die Gleichgültigkeit und Trägheit des SS-Personals verantwortlich.

Infolgedessen wurden immer mehr Häftlinge krank und starben, vor allem an Typhus, Fleckfieber und Durchfall, und die obligatorische Teilnahme an den endlosen Appellen bei jedem Wetter machte alles noch schlimmer. Niemand kümmerte sich um die Kranken, Medizin gab es nicht. Und bald war auch niemand mehr da, der die Toten beerdigte.

Hanna Lévy-Hass schrieb in ihrem Tagebuch:

Januar 1945: Allgemeine Unterernährung. Nur mit großer Mühe gelingt es einem, sich zu bewegen. Niemand ist imstande, normal aufrecht zu gehen. Alle Leute wanken, schleppen die Beine nach. Ganze Familien sterben in wenigen Tagen … Der Tod hat sich endgültig unter uns niedergelassen. Er ist unser treuester Mitbewohner, immer und überall gegenwärtig … schließlich verwechselt man die Lebenden und die Toten. Im Grunde ist der Unterschied minimal. Wir sind Skelette, die sich noch bewegen, und sie sind Skelette, die schon unbeweglich sind. Aber es gibt noch eine dritte Kategorie: Diejenigen, die ausgestreckt liegen, ohne sich bewegen zu können, und noch ein wenig atmen.444

Die Todesfälle und Krankheiten rückten den Wieners näher und näher. Eine Freundin von Ruth, deren Vater schon gestorben war, wachte eines Morgens neben ihrer toten Mutter auf. Erikas und Marions Mutter Irene infizierte sich an den schmutzigen Schuhen, die sie im Schuh-Kommando zerlegten. Daraus wurde eine Blutvergiftung, ärztliche Versorgung gab es nicht. Sie starb am 28. November.

Eine Woche zuvor, am 21. November 1944, schrieb Ruth in ihr Tagebuch: »Mutter bekommt Bescheinigung vom Oberarzt, die sie von der Arbeit und vom Appell befreit.« Zusehends geschwächt schon seit den ersten Tagen in Westerbork, wahrscheinlich typhuskrank, inzwischen völlig ausgezehrt, weil sie ihr Essen den Kindern gab, konnte Grete kaum noch von ihrer Pritsche aufstehen.

Und als Bergen-Belsen immer mehr in das Inferno abglitt, als das sein offizieller Historiker es beschrieben hat,445 tauchte Gertrud Slottke wieder auf, die die Wieners mit dem Versprechen eines besseren Lebens und der Aussicht auf Freiheit hierhergeschickt hatte.

Der Austausch

Während Hunger und Krankheit immer mehr um sich griffen, fiel für Mirjam und ihre Familie im Sommer 1944 ein Lichtstrahl in die Dunkelheit. Ernst Moes, Sachbearbeiter im Eichmann-Referat, war nach Bergen-Belsen gekommen, um alle Inhaber lateinamerikanischer Pässe einzubestellen.

Dieser Besuch, das wussten die Wieners, konnte nichts bedeuten. Oder alles ändern. Im Juni hatte Eva Heinrich Himmler persönlich bei einem Rundgang durchs Lager gesehen und berichtete später, sie habe »diesen kleinen, aber ungeheuer mächtigen Mann«446 mit einer Mischung aus Neugier und Furcht beobachtet. Mochte es mit diesem Besuch zusammenhängen oder nicht – am Ende des Monats hatte tatsächlich ein Austausch stattgefunden, waren einige Juden aus Bergen-Belsen in die Freiheit entlassen. Bis dato war es das einzige Ergebnis, das bei Himmlers Bergen-Belsen-Plan herausgekommen war. Und betroffen war nur eine kleine Zahl von Personen, die Palästinazertifikate besaßen.

Natürlich hatten die Deutschen bereits zwei Austauschaktionen vereinbart, Juden gegen die christliche Tempelgesellschaft in Palästina. Dadurch war van Tijn überhaupt auf die Idee gekommen, ihre längere Palästinaliste zusammenzustellen, auf der auch die Wieners gestanden hatten. Nachdem die Zuständigen erst gefürchtet hatten, es gebe womöglich nicht mehr genug Templer in Palästina oder palästinensische Juden in deutsch besetzten Gebieten, kam im Juni 1944 dann doch ein letzter, kleiner Austausch zustande, bei dem 222 Insassen des KZs Bergen-Belsen befreit wurden, alles holländische Juden.

Van Tijn war selbst unter den 222 gewesen. Die Wieners nicht. Weder in den nachgelassenen Papieren noch in späteren Zeugenberichten findet sich der geringste Hinweis, dass sie für den Austausch auch nur in Betracht gekommen wären. Auch die öffentliche Dokumentation sagt nichts darüber aus, weshalb einige Zertifikatinhaber ausgewählt wurden und andere nicht.447 Im Juli wurden 66 Inhaber britischer Pässe ausgetauscht. Danach sah es nicht so aus, als käme noch einmal ein palästinensischer Austausch zustande.

Im August waren die paraguayischen Pässe die eine magere Hoffnung auf Rettung, die eine Chance, das Inferno zu überstehen. Und der Besuch des Eichmann-Mitarbeiters Moes in diesem Monat erschien tatsächlich wie ein Zeichen, so gering es sein mochte, dass diese Hoffnung nicht völlig sinnlos war.

Nachdem er die Passinhaber zusammengerufen hatte, war Eichmanns Sachbearbeiter ohne ein weiteres Wort gegangen. Doch es wurde nicht wieder gänzlich stumm um die Sache. Während der folgenden Monate ist Ruths Tagebuch gespickt mit Hinweisen: ein weiterer Besuch von Moes im September, diesmal mit Slottke;448 im November die Erwähnung einer »Liste« von Südamerikanern, die gegenwärtig zusammengestellt werde;449 und Ende November »weitere Gerüchte von einer südamerikanischen Liste«.450 Doch es tauchen leider auch die Wörter »krank« und »Krankheit« in Ruths Einträgen auf, und es ist klar, dass es mit Grete bergab ging, Tag für Tag.

Am 19. Januar 1945 kam Moes noch einmal, wieder in Begleitung von Slottke. Und Ruth schrieb in ihr Tagebuch: »Wir sind aufgerufen.«

 

Den Bergen-Belsener Austausch, durch den meine Mutter freikam, kann man sich durchaus als Wunder vorstellen. In mehrerlei Hinsicht war er tatsächlich eines.

Die Zahl der Juden, die im Zweiten Weltkrieg durch Austausch gerettet wurden, ist verschwindend gering, alles in allem ein paar Tausend Menschen. Und Himmlers großartige Pläne hatten zu fast nichts anderem geführt als zu Tod und unvorstellbarem Elend wegen des Zusammenbruchs von Bergen-Belsen. 1944 war das Lager Zwischenaufenthalt für die Ungarn, die in einem eigenen Bereich untergebracht waren und später im Austausch gegen Devisen und Waren in die Schweiz entlassen wurden, doch von den Juden im Sternlager waren lediglich die beiden erwähnten Gruppen freigelassen worden, Holländer und Briten, insgesamt 288 Menschen.

1945 kam es dann doch noch zu einem weiteren Austausch, mit 136 Juden. Dass unter den 50000 Toten von Bergen-Belsen und den Millionen, die im Holocaust ums Leben kamen, Mirjam, Ruth, Eva und Grete vier von den 136 Geretteten waren, ist tatsächlich ein Wunder.

Wundersam scheint auch, dass ihr Entrinnen gerade dann stattfand, als die Zeit knapp wurde: Der Austausch erfolgte im allerletzten möglichen Augenblick. Deutschland war politisch und militärisch kaum noch in der Lage, solche Entscheidungen zu treffen; die Alliierten gingen mit Riesenschritten dem Sieg entgegen und hatten andere Prioritäten. Allen, die jetzt noch in Bergen-Belsen und am Leben waren, drohten grauenvolle, tödliche Monate. Die Überlebenschancen bis zur Befreiung des Lagers standen für meine Mutter sehr schlecht.

Die Wieners besaßen Papiere, die durch Betrug hergestellt worden waren und einen nicht nur falschen, sondern offensichtlich absurden Anspruch auf die paraguayische Staatsbürgerschaft erhoben; Papiere, die darüber hinaus im Dezember 1944 ihre vorgebliche Gültigkeit verloren. Die Deutschen waren sich der fragwürdigen Natur dieser Papiere durchaus bewusst. Dennoch waren es genau diese Dokumente, die den Wieners die Freiheit brachten. Auch das erscheint als ein Wunder.

Natürlich spielten auch ganz und gar unglaubliche persönliche Elemente eine Rolle: nicht nur die heroische polnische Passherstellung, sondern auch dass Alfred im Zuge des Berner Prozesses Camille Aronowski kennengelernt hatte, dass Camilles Schwester Juliusz Kühl geheiratet hatte, der zur Ładoś-Gruppe gehörte, und dass die Dokumente zu ihnen ins Lager gelangten, bevor alle vier ins Gas geschickt wurden – viele Male waren sie ganz nah daran gewesen.

Dennoch hätte das, was meiner Mutter widerfuhr, im Grunde kein Wunder sein sollen. Dass es so wenige waren, die ausgetauscht wurden, und dass der Austausch so spät zustande kam, ist eher ein Skandal als ein Wunder. Und jeder Schritt, der Mirjam zur Freiheit führte, war weniger das Ergebnis von Glück als vielmehr ein hart errungener Sieg in einer politischen Schlacht.

Dass die Nazis einen Völkermord betrieben, dass sie ein obsessives Interesse an den Juden hatten, ist heute klar. Es hätte den Alliierten schon damals klar sein müssen. Und nicht, weil Alfred sich schon seit den 1920ern bemüht hatte, die nationalsozialistische Einstellung gegenüber den Juden klarzumachen. Während des Kriegs waren den Alliierten zahlreiche Berichte darüber zugegangen, wie mit den Juden verfahren wurde. Nicht zuletzt von der polnischen Exilregierung.

Und im Dezember 1942 hatte der britische Außenminister Anthony Eden im Unterhaus eine Erklärung verlesen, in der er mitteilte, dass hunderttausend Juden nach Osteuropa transportiert würden, dass Polen ein »Schlachthaus der Nazis« geworden sei, dass Ghettos geschaffen und bald darauf geleert würden und dass »niemand von denen, die fortgebracht wurden, je wieder auftaucht«, denn sie alle würden durch Zwangsarbeit zugrunde gerichtet oder »absichtlich im Zuge von Massenhinrichtungen massakriert«.451 Als Eden zu Ende gesprochen hatte, stand das Unterhaus geschlossen auf, um seinen Respekt und sein Entsetzen über das Gehörte zu bekunden.

Doch obwohl sie es wussten und obwohl sie das Wissen weitergaben, schienen die Regierungen der Alliierten nicht zu begreifen, was sie sahen und was sie sagten. Nach ihrer Vorstellung führten sie einen generellen Krieg gegen Deutschland, in dem die Juden eine von mehreren ethnischen Gruppen waren, die unterdrückt wurden. Hilfe brauchten auch andere, die Juden durften sich nicht vordrängen, so die Auffassung. Roswell McClelland vom War Refugee Board, dem US-Kriegsflüchtlingsrat, der Opfern der NS-Diktatur helfen sollte, sagte im August 1945, als in Europa der Krieg vorbei war: »Den wahrhaft diabolischen Charakter der NS-Revolution konnten wir weder erfassen noch glauben, können es oft heute noch nicht.«452

Diese Einstellung führte dazu, dass die Alliierten das Ansinnen, man müsse für die Juden besondere Rettungs- oder Austauschaktionen unternehmen, so lange von sich wiesen, bis es für die meisten zu spät war. Für meine Mutter beinahe zu spät. Die Deutschen schienen ihre Landsleute, die interniert oder auf andere Weise in Gebieten unter alliierter Kontrolle gestrandet waren, durchaus zurückhaben zu wollen, jedenfalls einige von ihnen. Besonders versessen darauf war Himmler. Es mussten Vereinbarungen getroffen werden.

Natürlich bestand die Sorge, dass durch einen Austausch kriegsdienliche Personen oder Gegenstände in deutsche Hände gelangten. Daher waren kaum internierte oder inhaftierte Deutsche aufzutreiben, die die Alliierten gegen andere, ob jüdisch oder nicht, einzutauschen bereit waren.

Die größere Sorge bereitete den Alliierten jedoch die Aussicht darauf, dass ihre Bemühungen, Juden vor den Nazis zu retten, Früchte trügen: Hitler könnte von einem Tag auf den anderen beschließen, Millionen Juden ziehen zu lassen, und was dann? Dann wären die Alliierten für sie zuständig. Und wären es nur ein paar Zehntausend – was täten sie denn?

A.W. G. Randall, Leiter der Flüchtlingsabteilung im britischen Außenministerium, formulierte es 1943 in einer Mitteilung so: »Wenn wir erst einmal damit anfangen, erwachsene männliche Juden aus feindlichem Territorium herauszuholen, kann dies zu einer Flut führen, die sich nicht mehr beherrschen lässt. (Hitler könnte es erleichtern!)«453 Im Dezember desselben Jahres verwarfen die Briten einen Plan für die Evakuierung der Juden aus Frankreich und Rumänien, weil sie es zu schwierig fanden, sich einer Zahl von 70000 Juden »entledigen« zu müssen.454

Besonderen Kummer machte den Briten, dass die Juden womöglich alle nach Palästina gingen, wodurch die Beziehungen zu den Arabern noch komplizierter würden, als sie ohnehin waren.455 Doch auch auf diesem Gebiet hatten sie Verbündete in den Amerikanern, die ihre Zurückhaltung gegenüber jüdischen Flüchtlingen teilten; Präsident Franklin D. Roosevelt reagierte recht dünnhäutig auf den Vorwurf, er bevorzuge Juden und habe zu viele Juden in Regierungsämter berufen. Seinen »New Deal« bezeichneten seine Gegner als »Jew Deal«.456

Verbunden mit der simplen Idee, man müsse verhindern, dass aus Ländern, in denen sie unerwünscht waren, eine große Zahl Juden hereinströmte, waren praktische Bedenken. Zum Beispiel: Wie transportierte man die unbestimmte Zahl von Juden, die Hitler freizulassen gedächte? Das US-Außenministerium wiederholte unermüdlich, man könne die Schifffahrt nicht einfach umleiten, um Flüchtlingen zu helfen. Innerhalb des Ministeriums wurde, sogar von einigermaßen hochrangigen Mitarbeitern, die Auffassung vertreten, dass die jüdischen Organisationen, die von den Alliierten die Rettung der Juden forderten, in Wahrheit Kreationen der Nazis seien, um mit der Inanspruchnahme von Schiffen die Kriegsanstrengungen ihrer Feinde zu unterminieren. Der stellvertretende Leiter der Visaabteilung im US-Außenministerium sagte, in Wahrheit stecke Hitler »hinter den [jüdischen] Interessensgruppen«.457

Zwei weitere Bedenken hatten direkte Auswirkungen auf Mirjam und ihre Familie. Zum einen fürchteten Briten und Amerikaner, dass die Deutschen allfällige Austauschvereinbarungen nutzen würden, um Spione bei ihnen einzuschleusen. State Department und Foreign Office führten im Frühjahr 1941 eine recht sonderbare Debatte, bei der die Briten ihre Überraschung darüber bekundeten, dass so wenige jüdische Flüchtlinge als Spione enttarnt worden seien: Das könne ja nur daran liegen, dass man versäumt habe, gründliche Nachforschungen anzustellen.

Die Debatte gipfelte darin, dass die US-Botschaft in London nach Washington meldete, einer ihrer Diplomaten entsinne sich, »von einer speziellen ›Schule‹ gelesen zu haben, die von den Deutschen in Prag mit dem Zweck eingerichtet worden sei, ›aus Nichtjuden Juden zu machen‹«. Zum Lehrplan gehörten der Unterricht in hebräischer Sprache und im Talmud sowie die Änderung der Physiognomie. Aus Washington kam die Antwort, Ähnliches habe auch ein Mitarbeiter des Außenministeriums vernommen. »Vor allem erinnert er sich, dass die Ergebnisse der angewandten plastischen Chirurgie bemerkenswert waren.« Vielleicht habe er es in einer Zeitung gelesen oder in einer Wochenschau gesehen, er sei sich nicht mehr sicher. Höchstwahrscheinlich hatten die Diplomaten ein Gerücht gehört oder gelesen, das vom State Department selbst im Jahr zuvor in die Welt gesetzt worden war und jetzt als Tatsache zurückkehrte.458

Befürchtet wurde auch, dass die bevorzugte Route für solche Spione Lateinamerika werden sollte, da so viele falsche Papiere im Umlauf waren. Tatsächlich standen meine Mutter und ihre Schwestern später im Verdacht, ausländische Agentinnen zu sein.

Das eigentliche Problem der Alliierten mit den lateinamerikanischen Papieren, wie die Wieners und andere sie besaßen, war jedoch nicht, dass Spione sie nutzen könnten, sondern – wie das US-Außenministerium noch im März 1944 in einer internen Mitteilung zu bedenken gab – dass es das gesamte Passsystem untergrübe, wenn zu Unrecht ausgestellte Dokumente akzeptiert würden. Das sei »betrügerisch und vorschriftswidrig«, und die Behauptung, es könnten damit Hunderte Leben gerettet werden, sei eine »allzu grobe Vereinfachung«. Deshalb rühmte sich das Ministerium damit, dass »wir auf einige der anderen amerikanischen Republiken Druck ausgeübt haben, auf dass die Angelegenheit beendet und geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um weitere solche Fälle zu verhindern und bereits ausgestellte Dokumente zu entwerten«.459

Die amerikanische und die britische Regierung würgten also Rettungsversuche nicht einfach ab, kamen nicht einfach zu dem Schluss, dass erfolgreiche Austauschaktionen jüdische Häftlinge befreien konnten, sondern setzten sich aktiv dafür ein, die Bemühungen von Aleksander Ładoś und seiner Gruppe zu untergraben, versuchten aktiv die Dokumente für ungültig zu erklären, die Alfred und Camille Aronowski beschafft hatten, suchten aktiv den Schutz zunichtezumachen, der Grete und ihre Töchter bis dahin vor der Gaskammer bewahrt hatte.

Die paraguayische Regierung musste allerdings nicht eigens ermutigt werden, die Juden im Stich zu lassen. Der Polizeichef Paraguays bekam in diesen Jahren einen Sohn. Er gab ihm die Vornamen Adolfo Hirohito.460

 

Doch zu Anfang des Jahres 1944, um die Zeit, als die Wieners von Westerbork nach Bergen-Belsen verlegt wurden, änderte sich die Lage. Henry Morgenthau junior befand, genug sei genug, und ging daran, bei Präsident Roosevelt vorzusprechen.

Morgenthau, Finanzminister unter Roosevelt, hatte einen großen Anteil daran, dass die USA den Krieg gewannen. Er hatte Roosevelt gedrängt, Vorbereitungen für den Krieg zu treffen, während der Präsident noch auf Zeit spielte, er brachte durch Steuererhöhungen und die Aufnahme von Staatsschulden das Budget dafür auf, und er war der frühe Architekt des US-Flugzeugprogramms. Morgenthau war ebenfalls Jude und die wichtigste Stimme der Juden innerhalb der Regierung. Wie er seinen Einfluss jetzt einsetzte, zählt zu seinen größten Leistungen in Kriegszeiten.461

Auf jeden Fall war es das, was die Wieners am unmittelbarsten anging.

Der Auffassung des State Department, es sei schlechte Politik, Juden zu retten oder auszutauschen, hatte Morgenthau lang widersprochen. Auch die britische Haltung widerstrebte ihm; eine ihrer amtlichen Verlautbarungen über die Juden bezeichnete er als »satanische Kombination aus britischer Mutlosigkeit und diplomatischen Ausflüchten, kalt und korrekt und auf ein Todesurteil hinauslaufend«.462 Aber bisher war es ihm fast unmöglich gewesen, irgendetwas zu erreichen. Roosevelt hatte nicht viel Interesse an dem Thema, und die Briten waren ungerührt. Doch Ende 1943 sprang der US-Kongress Morgenthau bei, und bald zeigte sich, dass der Präsident, sofern er nicht selbst einen Rettungsplan für Juden aufstellte, vom Repräsentantenhaus und dem Senat dazu gezwungen würde.

Am Sonntag, dem 16. Januar 1944, begab sich Morgenthau also zu Roosevelt. Bei sich hatte er eine kurze Aktennotiz darüber, inwiefern Roosevelts Regierung der Ermordung von Juden zustimmte, sowie eine Forderung an den Präsidenten: Die Regierung müsse einen Ausschuss einrichten, dessen Aufgabe es sei, so viele Juden wie möglich zu retten. Das Gespräch fand am frühen Nachmittag statt und dauerte nicht länger als zwanzig Minuten. Roosevelt hörte sich Morgenthaus Zusammenfassung der Lage an, und da er sich des Drucks vonseiten des Kongresses bewusst war, gab er der Forderung nach. Am 22. Januar ordnete Roosevelt mittels Präsidentenverfügung die Schaffung der interministeriellen Behörde War Refugee Board an.

Es wäre zu viel gesagt, wenn wir von einem Wendepunkt in der amerikanischen Politik sprächen. Der Kriegsflüchtlingsrat hatte nur dreißig Mitarbeiter, und seine Arbeit wurde nach wie vor vom Außenministerium behindert, das, zumindest in Teilen, dessen Existenz und Politik missbilligte. Dass es ihn jetzt aber gab, bedeutete, dass die Alliierten zum ersten Mal eine Behörde hatten, die aktiv nach Möglichkeiten suchte, um Juden in Sicherheit zu bringen.

So wurden beispielsweise Kinder, die versteckt in Vichy-Frankreich lebten, in die Schweiz gebracht, ehe die Nazis sie aufspürten. Mithilfe des Kriegsflüchtlingsrates wurde in einer ehemaligen Kaserne im algerischen Philippeville ein Flüchtlingslager eingerichtet. Gleichzeitig erkundete er, welche Austauschmöglichkeiten noch nicht ausgeschöpft worden waren.463

Recht früh stellte sich heraus, dass die von der Ładoś-Gruppe fabrizierten paraguayischen Pässe eine solche Möglichkeit waren. Mit anderen Worten: Endlich gab es eine Behörde mit einer Agenda, um Grete und die Mädchen und andere in der gleichen Lage zu retten, und es gab eine Strategie dafür.

Anfang 1942 waren auf Betreiben der USA die in lateinamerikanischen Ländern lebenden Deutschen zusammengerufen und festgenommen worden. Die Idee dahinter war, dass die Ausweisung dieser Personen der Sicherheit aller amerikanischen Länder diene, doch als man sie dann beisammenhatte, wusste man nicht, was man mit ihnen anfangen sollte. Manche wurden für einen Austausch gegen Amerikaner in NS-besetzten Gebieten benutzt, allerdings bestand immer die Sorge, dass jeder Deutsche, den die Alliierten nach Hause schickten, von den Nazis für ihre Kriegsführung eingesetzt würde. Daher gerieten die Austauschaktionen ins Stocken, und Tausende Deutsche mit Wohnsitz in Südamerika saßen am Ende in Internierungslagern fest, viele im texanischen Crystal City.

Dem Kriegsflüchtlingsrat war klar, dass diese Leute womöglich gegen Juden mit lateinamerikanischen Pässen, so fragwürdiger Herkunft sie sein mochten, eingetauscht werden könnten. Sofern die mit solchen Papieren ausgestatteten Juden nicht umgebracht wurden, ehe jemand dazu kam, ihre Freilassung auszuhandeln. Denn bis weit in ihre Haft in Bergen-Belsen hinein war die Sicherheit, die das paraguayische Dokument den Wieners bot, äußerst fragil: Die Nazis hatten schon damit begonnen, die Inhaber lateinamerikanischer Papiere umzubringen.

Ende 1943 machten sowohl die Alliierten als auch die Regierung Paraguays unmissverständlich klar, dass sie diese Papiere nicht anerkannten. Die Schweizer hatten den Aktivitäten der Ładoś-Gruppe ein Ende gesetzt, und Hügli, der paraguayische Konsul in Bern, war gefeuert. Die Nazis wussten schon lang, dass die Papiere fälschlicherweise ausgestellt worden waren, doch darum ging es nicht. Solange die Alliierten bereit waren, die Inhaber als rechtmäßig anzuerkennen, hatten sie einen Tauschwert. Wenn nicht, verfiel ihr Wert.

Daher begannen die Nazis, sie zu töten. Ende 1943 zogen sie in Bergen-Belsen 1700 Polen zusammen, die sogenannte promesas besaßen, Schreiben von Konsuln, die bestätigten, dass der reguläre Pass demnächst ausgestellt werde. Sie schickten alle nach Auschwitz. Auf der Rampe brach ein Aufruhr aus, doch es half nichts, jede einzelne Person wurde ermordet.464 Im März 1944 begann die Verlegung von Polen mit lateinamerikanischen Pässen aus einem Internierungslager in Vittel im besetzten Frankreich. Auch sie waren für den Tod in Auschwitz bestimmt.465

Informationen über die Notlage der polnischen Juden, der Menschen, denen die Ładoś-Gruppe als Erste zu helfen versucht hatte, erreichten die jüdischen Gemeinden in den Ländern der Alliierten und in neutralen Staaten, und diese begannen sich für sie einzusetzen. Ładoś übernahm persönlich die Führung, schickte Telegramme an maßgebliche Stellen, erwirkte die Unterstützung des Vatikans, alarmierte die polnische Exilregierung, damit alle ihre Beziehungen spielen ließen, um das Unheil noch abzuwenden.466 Der amerikanische Kriegsflüchtlingsrat nahm Anteil, war aber machtlos, weil das State Department nach wie vor darauf pochte, die Papiere seien falsch, und sich querstellte. »Wir werden in die Position gedrängt, Kindermädchen für Personen spielen zu müssen, die auf unseren Schutz keinen Anspruch haben«, schrieb der US-Legationssekretär aus Bern.467

Henry Morgenthau beendete die Krise. Nachdem eine Delegation orthodoxer Rabbiner aus New York nach Washington gereist und der Älteste in Morgenthaus Büro in Tränen ausgebrochen war und nicht mehr aufhören konnte zu weinen, reagierte der Finanzminister, indem er das Außenministerium anrief und dessen Eingreifen verlangte.

Danach dauerte es nicht mehr lang, bis der Strategiewechsel, der mit der Schaffung des Kriegsflüchtlingsrates begonnen hatte, umgesetzt war. Auf Druck der USA und unter der Voraussetzung, dass keinerlei Verpflichtung bestand, den Passinhabern die Einwanderung tatsächlich zu genehmigen, erkannte Paraguay die Pässe jetzt an; außerdem hatte die paraguayische Regierung, wiederum auf Druck der USA, die Gültigkeit der Pässe über das darauf angegebene Ablaufdatum hinaus pauschal verlängert und die Deutschen dazu gebracht, dass sie diese neue Politik akzeptierten und keinen Inhaber eines paraguayischen Passes mehr in den Tod schickten.468

Für die Polen kam das alles zu spät. Für viele der holländischen Juden in Bergen-Belsen, für die Wieners, war es lebensrettend. Jedenfalls vorläufig. Es bedeutete, dass ihre Pässe nicht beschlagnahmt würden; es schob den Weitertransport ins Vernichtungslager hinaus.

Doch jeder Tag im KZ brachte die Häftlinge in Bergen-Belsen dem Tod durch Krankheit und Hunger näher. Mit dem Zusammenbruch des Lagers starben auch die Inhaber lateinamerikanischer Pässe. Der Kriegsflüchtlingsrat und zumal Roswell McClelland im Berner Büro als wichtigster Initiator und Organisator arbeiteten fieberhaft am Austausch der in Bergen-Belsen inhaftierten »Lateinamerikaner« gegen die in Texas internierten Deutschen. Aber es lief ihnen die Zeit davon.

Vereinbarungen waren fast unmöglich zu treffen, außerdem würden bei jedem Austausch zwangsläufig erst einmal alle von den Deutschen festgenommenen US-Vollbürger bevorzugt. Die Diskussionen und Auseinandersetzungen raubten Zeit und waren zum Jahreswechsel 1944/45 noch immer nicht abgeschlossen.

Dann kam es doch noch zum Durchbruch. Es sollte ein Austausch in der Schweiz stattfinden, je 800 Personen auf beiden Seiten. Eine kleine Gruppe von Häftlingen aus Bergen-Belsen sollte auch darunter sein. Das war der Grund, weshalb Moes und Slottke am 19. Januar 1945 nach Bergen-Belsen kamen. Das war der Grund, weshalb Ruth und Mirjam und der Rest der Familie aufgerufen wurden.

Aleksander Ładoś hatte mit seiner Lobbyarbeit für die Anerkennung der paraguayischen Pässe den Wieners einen letzten Gefallen getan, hatte ein letztes, entscheidendes Mal zu ihrer Rettung beigetragen.

 

Trotz aller Gerüchte war es nicht nur verheißungsvoll, zu Moes und Slottke gerufen zu werden, es war auch beunruhigend. Bei den Nazis konnte man nie wissen. »Wir wussten nicht, worum es ging, aber wir hatten große Angst«, erinnerte sich Eva. »Wir dachten, wir stehen auf der nächsten Todesliste; jetzt konnte alles passieren.«469

Diese Angst blieb so lange bestehen, bis sie tatsächlich in Freiheit waren. Und angesichts des Schicksals der polnischen Besitzer von lateinamerikanischen promesas, die 1943 am Ziel die Türen der Güterwaggons geöffnet und festgestellt hatten, dass der einzige Weg zu den Gaskammern führte, war die Angst vollkommen begründet. Dennoch hofften sie. Sie konnten ja nichts anderes tun, als zu hoffen.

Am Morgen des 20. Januar 1945, dem Morgen nach dem ersten Aufruf, flog die Tür der Baracke auf, Stiefel marschierten über den Boden, es wurde »Alles herhören!« gerufen, dann folgte die Anweisung: »Wer einen nord- oder südamerikanischen Pass besitzt, muss sich sofort beim Oberarzt melden, der die Tauglichkeit für den Austausch feststellen wird.«470

Mirjam hatte immer gedacht, dass die ärztliche Untersuchung dazu diente, die Personen auszuschließen, deren Zustand den Alliierten verriet, wie katastrophal die Lage in den KZs tatsächlich war. Der Austausch war schließlich der Grund, warum die dafür vorgesehenen Häftlinge nicht tätowiert worden waren. Falls das Ziel aber darin bestand, die Mängel des Lagers zu verschleiern, konnte es nur schiefgehen: Zu diesem Zeitpunkt war der Zustand aller Insassen von Bergen-Belsen, die Wieners eingeschlossen, verheerend. Ein Schweizer Jude, Mitglied des St. Galler Hilfskomitees, der sah, wie Mirjam und andere Überlebende am Ende ihrer Reise in die Freiheit aus dem Zug stiegen, sagte: »Ich habe schon viel Elend gesehen, doch noch nie sind mir solche schattenhafte, seelisch und körperlich gebrochene Gestalten begegnet, wie bei diesem Transport. Gespensterhaft zogen sie an mir vorüber.«471

Der eigentliche Grund für die ärztliche Untersuchung war vermutlich ein praktischer. Die Nazis wollten vermeiden, dass die Leute auf dem Transport starben. Das wäre ein Ärgernis. Man hätte nur Tote am Hals. Vielleicht ließe sich das Problem an die Schweizer abschieben, auf jeden Fall aber stimmte dann die Zahl der Auszutauschenden nicht mehr. Die schwierigen Verhandlungen hatten zu der strikten Regel geführt, dass eins zu eins ausgetauscht würde, für jede an Deutschland überstellte Person aus Crystal City eine von den Deutschen freigelassene Person.

Welche Überlegung auch immer dahinterstand, die Aussicht auf die Untersuchung war eine düstere. Seit fast zwei Monaten war Grete kaum noch in der Lage, ihre Koje zu verlassen. Es war objektiv schwer vorstellbar, wie eine Untersuchung beschaffen sein müsste, damit Grete sie bestand. Grete selbst sah es anders. Fünf Jahre waren vergangen, seitdem sie Alfred am Flughafen von Amsterdam verabschiedet hatte, und seither hatte sie jeden einzelnen Tag gekämpft. Sie hatte gekämpft, um ihre Kinder vor der Unterdrückung zu schützen, hatte gekämpft, um ihnen trotz allem eine Form von Kindheit zu ermöglichen, sie hatte auf ihre Rationen verzichtet, damit die Kinder mehr bekämen. Sie konnte nicht im letzten Moment ausfallen. Rettung war in Sicht. Sie würde die Mädchen nicht ausgerechnet jetzt im Stich lassen.

Die Töchter halfen ihr von der Koje herunter und stützten sie auf dem Weg zum Appellplatz, wo ein Tisch aufgestellt war. Daran saßen, in weißen Kitteln, der Lagerarzt und eine Assistentin. Vor sich hatten sie maschinenbeschriebene Papiere und Karten, auf denen sie die einzelnen Punkte mit blauen Kreisen markierten. Der Arzt hatte eine Adlernase und einen Überbiss und einen gütigen Blick, der niemanden über seinen Charakter hinwegtäuschte.472 Auch Slottke war anwesend.

Mirjam beschrieb es so: »Man sieht diese Szenen oft in Filmen … wir mussten an [dem Lagerarzt] vorbeigehen. Und er entschied, wer verschickt werden konnte. Wohin sie uns eben schicken wollten.«473

Hunderte Passbesitzer standen Schlange, und viele bestanden den Test nicht. Marion und Erika Neuburger standen mit ihrem Vater Wilhelm an, die Mutter war schon gestorben. Als sie an die Reihe kamen, wurde Wilhelm, der Typhus und Diarrhö hatte, als zu krank aussortiert. Die Familie wurde vom Austausch ausgeschlossen. Wilhelm starb kurz danach. Seine Töchter blieben in Bergen-Belsen bis fast zum Ende und überlebten mit letzter Kraft den berüchtigten »Verlorenen Zug«.474

Als Grete und die Mädchen an der Reihe waren, wurden ihnen dieselben Fragen gestellt wie allen. Wie ihre Namen seien, ob sie verstünden, was passiere, ob sie am Austausch teilnehmen wollten … Und: »Sind Sie krank?« Eine Frage, die umso nachdrücklicher gestellt wurde, je unübersehbarer war, dass der Mensch vor ihnen dem Tod viel näher war als dem Leben.475 Grete brachte es fertig, alle Fragen zu beantworten, sich aufrecht zu halten, am Tisch vorbeizugehen. Sie bestand die Untersuchung. »Der Nächste!«, rief der Arzt und strich die Wieners von seiner Checkliste. Es war ein Augenblick höchster Beherztheit und Tapferkeit, der Höhepunkt unter allen Leistungen Gretes in den vergangenen fünf Jahren, und davon gab es zahlreiche. Die Familie wurde angewiesen, ihre Sachen zu packen.

Am nächsten Tag, am 21. Januar, sollte es losgehen, doch zuvor, hieß es, müssten die Austauschjuden duschen. Sie wurden zum Waschhaus geführt und mussten sich ausziehen. In dieser Phase des Krieges wusste jeder, was das bedeuten konnte. Mirjam sagte, sie habe nichts empfunden, aber die Furcht der Erwachsenen gespürt.476 Als aus den Duschköpfen Wasser kam, war die Erleichterung so groß, dass sogar gelacht wurde.

Anschließend bekamen die Häftlinge zu essen, nur Suppe zwar, doch war sie gehaltvoller als das normale Rübenwasser. »Es schwammen sogar Kartoffelstückchen darin«, sagte Mirjam. »An so was erinnert sich ein Kind.«477

Es folgte eine letzte, befremdliche Handlung, ehe die Wieners den Zug bestiegen: Sie erhielten ihr Geld zurück. Am ersten Abend in Westerbork hatte Grete alles Bargeld und alle Wertsachen ausgehändigt und eine Quittung dafür erhalten. Seither wurde, ohne dass sie es ahnte, gewissenhaft Buch geführt und Beträge abgezogen: einerseits für die privaten Käufe (die Zahnbürste im Laden von Westerbork, Briefmarken), andererseits für die kollektiven Ausgaben (Kosten für den Lagerbetrieb, für den Transport von Menschen in den Tod und so weiter). Groteskerweise wurde Grete jetzt der Restbetrag ausgezahlt, als handelte es sich um einen völlig normalen Geschäftsvorgang.

Gegen vier Uhr nachmittags war es endlich Zeit für den Aufbruch. In der Austauschgruppe waren etwa 300 Juden, die auf die Ladeflächen von Lkws gesetzt und zum Bahnhof von Celle gebracht wurden. Es war eiskalt, auf den Ladeflächen war man den Elementen ausgesetzt, doch es war besser, als zu Fuß zu gehen. Und der Anblick, der sie am Bahnsteig empfing, entschädigte sie reichlich für die beschwerliche Fahrt. Denn der Zug, der dort auf sie wartete, bestand nicht aus Viehwaggons. Es war ein Rote-Kreuz-Passagierzug, und rote Kreuze waren auch überall aufgemalt, auf dem Dach und den Flanken der Waggons, damit die Alliierten ihn nicht bombardierten.

Im Zug war es warm. Es gab eine richtige Heizung. Und sie ließen sich auf weich gepolsterte Sitze fallen. Gertrud Slottke ging durch den Wagen und verteilte Scheren, damit sich alle die gelben Sterne von der Kleidung abtrennen konnten. Die Reise ginge in die Schweiz, sagte man ihnen.

An der Grenze in Konstanz, erfuhren sie weiter, stünde ein zweiter Rote-Kreuz-Zug, dieser mit den Deutschen, die von den Amerikanern interniert worden waren, hauptsächlich deutschstämmige Zivilisten, Leute, die kriegsbedingt in Nord- oder Südamerika gestrandet und als ausländische Elemente festgehalten worden seien. Für alle, Männer, Frauen, Kinder, bestand der einzige Ausweg aus der Internierung darin, nach Deutschland zu gehen, auch wenn sie dort nie gewesen waren. Wenn der Zug aus Celle an der Grenze ankäme, würde er neben dem Zug mit den Deutschen halten, es fände eine Kontrolle statt, und die Deutschen würden nach Deutschland einreisen. Die Juden wären dann frei.478

Heute dauert eine Zugreise von Celle nach Konstanz vielleicht zehn Stunden. 1945 brauchte der Zug, in dem die Wieners saßen, dreieinhalb Tage bis ans Ziel. Viele Male musste er anhalten, weil die Gleise zerstört waren und Notreparaturen durchgeführt werden mussten. Außerdem fuhr der Zug erst einen Umweg über Berlin, um internierte Amerikaner aufzulesen, die zahlenmäßig das Gros des Austauschkontingents ausmachten. Die Wieners erschraken über das Ausmaß der Zerstörung Berlins, das sie durchs Zugfenster sahen, obwohl sie ein Jahr zuvor schon das in Trümmern liegende Bremen gesehen hatten.

Grete hing vollkommen kraftlos in ihrem Sitz und verlor immer wieder das Bewusstsein, während der Zug langsam, aber stetig der Sicherheit, der Freiheit entgegenfuhr. Draußen wurde das Wetter immer schlimmer, es schneite, es fror, doch der Zug kam voran.

Dann ein letzter Moment des Schreckens. Sie näherten sich der Grenze, und auf einmal gelangten die Deutschen zu der Erkenntnis, dass sie zu viele Häftlinge für den geplanten Austausch hatten. Von den 306 Menschen, die im Zug saßen, wurden nur 136 gebraucht. Es würden etliche den Zug verlassen müssen. Sie würden ausgesetzt, dachten Eva und Mirjam, um zu Fuß durch den Schnee nach Bergen-Belsen zurückzukehren, und das war gleichbedeutend mit dem Tod. Ruth hielt es für wahrscheinlicher, dass sie in letzter Minute in ein ziviles Internierungslager geschickt würden. Recht hatte Ruth. Diejenigen, die aussteigen mussten, wurden zwar unter besseren Bedingungen gehalten als in Bergen-Belsen, waren aber nach wie vor Gefangene. Und konnten nach wie vor jeden Moment ermordet werden.

Ein SS-Mann, »einer von diesen SS-Leuten mit hohen Stiefeln und allem«, sagte Mirjam, kam durch den Waggon, deutete auf die Mädchen und befahl: »Raus.« Ruth antwortete: »Wir können nicht. Meine Mutter ist zu krank, um zu gehen.« Es trat eine Pause ein. Der Mann zuckte mit den Achseln und sagte: »Na gut. Bleibt«, und ging weiter.

Wen wundert’s, dass Mirjam ihr Überleben immer als Wunder empfand?

 

Es war fast Mitternacht des 24. Januar 1945, als die Wieners die Grenze in die Schweiz und in die Freiheit passierten. Grete hatte triumphiert. Sie hatte ihre Mädchen durch die langen Jahre der NS-Besatzung und des Terrors beschützt, hatte sie auf dem Weg durch das Tal des Todes am Leben erhalten, ihnen den letzten Krümel Nahrung abgetreten und sie begleitet, bis sie in Sicherheit waren.

In New York wartete Alfred auf Nachricht. Camille Aronowski, die in der Schweiz lebte, hatte von dem voraussichtlichen Austausch erfahren und ihn informiert. Jetzt erhielt er über das Rote Kreuz ein Telegramm:

DR ALFRED WIENER 111 WEST 46TH STREET NEW YORK IHRE FRAU MARGARETHE WIENER MIT KINDERN RUTH EVA MIRJAM WIENER AUS LAGER BERGENBELSEN DEUTSCHLAND IN SCHWEIZ EINGETROFFEN KINDER GESUND.

Es folgten die letzten Zeilen:

MARGARETHE WIENER NACH ANKUNFT AN SCHWÄCHE VERSTORBEN JÜDISCHES BEGRÄBNIS 26 JANUAR IN KREUZLINGEN.479