In der ersten überschwänglichen Korrespondenz nach ihrer vorerst nur brieflichen Wiedervereinigung 1941 versicherten Dolu und Lusia einander nicht weniger überschwänglich, dass sie gesund seien. Vor allem Dolu machte viel Aufhebens darum.
»Ich bin durch Gefängnisse und Arbeitslager gegangen«, schrieb er im allerersten Brief, der Frau und Sohn erreichte.
Es war hart, sehr hart, doch ich bin ohne Beschädigung meiner physischen Gesundheit und ohne psychischen Zusammenbruch daraus hervorgegangen … Es war ein gutes Abmagerungsprogramm, jedoch fühle ich mich gesund, und niemand, weder zuvor in den Lagern noch unter den Leuten hier, kann glauben, dass ich schon 50 bin. Alle halten mich für wenigstens 10 Jahre jünger. Ich schreibe Dir dies, damit Du Dir keine Sorgen machen musst.480
Ähnliche Aussagen finden sich in späteren Briefen, und vielleicht schrieb Dolu es wirklich nur, um seine Frau zu beruhigen. Vielleicht glaubte er es auch – diesen Eindruck gewinne ich aus der Korrespondenz. Es stimmt aber nicht. Der Gulag hatte ihn gebrochen. Nach seiner Befreiung lebte er noch knapp neun Jahre; doch umgebracht hat ihn letztlich der Gulag – so sicher, wie wenn er direkt im Schnee, beim Schleppen von Stämmen zum Fluss, gestorben wäre.
Die ersten Tage im Iran im Gefolge der Anders-Armee, als Lusia und Ludwik im August 1942 ans Ufer des Kaspischen Meeres wateten, waren ein Elend. Es fing an zu regnen, und sie hatten kein Obdach. Hunderte Polen starben an Krankheit und Erschöpfung.481 Ludwik bekam Fieber, und Dolu kümmerte sich fürsorglich um ihn und beschaffte ihm ein gummiertes Offizierscape als Regenschutz. Nach einigen Tagen regnete es nicht mehr, Ludwik erholte sich, und sie wurden verlegt, erst in ein Zeltlager, später – endlich – in ein Quartier in Teheran.
Für den Rest seiner Tage erinnerte sich Ludwik an das erste Ereignis seines neuen Lebens. »Wir besuchten ein Restaurant! Ich konnte nicht glauben, dass man da einfach Platz nahm, und jemand setzte einem einen enormen Brotkorb, dazu Tomaten und Gurken vor, wie es bei den Persern üblich ist, und dann konnte man bestellen, was man wollte!«482
Doch als die Mahlzeit vorbei war, ging es ans Abschiednehmen. Dolu begleitete die Anders-Armee, die an der Seite der Briten im Irak kämpfte, und die Familie war abermals fast ein ganzes Jahr getrennt. Doch abgesehen von diesem neuerlichen Schmerz konnten Lusia und Ludwik in Teheran wieder ein zivilisiertes Leben führen, in Frieden, ohne Gefahr; Ludwik begann wieder zu lernen, und er kam in das Alter für seine Bar Mizwa – ein Sieg nach allem, was geschehen war, auch wenn es keine nennenswerte jüdische Gemeinde gab, um sie zu feiern.
Im Iran waren gastfreundliche Menschen, es gab zu essen, heißes Wasser und ein Gefühl von Gemeinschaft. Es gab Klassenzimmer im Schatten von Bäumen, es gab Läden und einheimische Getränke, die ihnen exotisch erschienen, ein Café-Restaurant für Polen, wo die Gäste Wiener Schnitzel und Berge von Kuchen bekamen.483 Das Lager, in dem sie anfänglich lebten, war recht rudimentär, doch sie fanden bald ein Zimmer in einem Haus. Und nicht nur dies – Lusia fand auch Arbeit: Sie unterrichtete Englisch am polnischen Kulturzentrum. Übrigens übte sie diese Arbeit, Englischunterricht für Nichtmuttersprachler, bis weit über siebzig aus.
Im Sommer 1943 wurde Dolu auf einen neuen Posten versetzt. Er war jetzt Anfang fünfzig, und es wurde beschlossen, ihn aus dem aktiven Militärdienst abzuziehen. Da er gut Deutsch konnte und Erfahrung in Buchhaltung und Administration hatte, wurde er in der Ausbildung von Personal für die Verwaltung der jetzt noch deutsch besetzten Gebiete eingesetzt. Weil die Kurse in Tel Aviv stattfanden, zog die ganze Familie nach Palästina.
Dort blieben sie während der nächsten vier Jahre, Dolu hauptsächlich als Dozent und in der Armeeverwaltung, Lusia als Englischlehrerin. Als ein Teil der Anders-Armee am Italienfeldzug teilnahm, in der Schlacht um Monte Cassino kämpfte und sich dann der britischen Eighth Army anschloss, blieb Dolu in Palästina zurück, denn der administrative Bereich und die kämpfenden Verbände der Armee waren fortan getrennt.
Doch Dolus Militärdienst verlief nicht kontinuierlich. Es gab lange Phasen, in denen Krankheit und Depression ihn niederstreckten. Im Irak war er an Gelbsucht erkrankt, in Palästina an Bluthochdruck. 1946 hatte er seinen ersten Herzinfarkt. Ein alter Freund aus Lwów, der ihn in Palästina traf, vermerkte erschüttert die Veränderung, die mit Dolu vorgegangen war. »Er war ausgezehrt und in sehr niedergedrücktem Zustand, kaum wiederzuerkennen.«484
Er wurde alt, er war sehr fern seiner Heimat, er hatte sein Vermögen verloren, sein Ansehen. Und seinen geliebten Bruder.
Nach ihrer beider langen Haft, nachdem er den Bruder durch die düstere Zeit im Gefängnis Brygidki 1940 gebracht hatte, nach den Jahren ihres Getrenntseins hatte Dolu seinen Bruder zum ersten Mal wiedergesehen, als er mit der Truppe im Iran von Bord gegangen und, ungeheuerlicher Zufall, an Bernard vorbeimarschiert war. Aber er durfte nicht stehen bleiben, musste weitergehen, die Augen geradeaus. Erst später konnten sie einander endlich umarmen. Die Begegnung war filmreif; dennoch nahm ihr Wiedersehen kein glückliches Ende. Bernard, dessen Gesundheit ebenfalls von der Zeit im Gulag ruiniert war, starb bei der Arbeit am Bau der Teheraner Eisenbahn, nicht einmal ein Jahr später, am 3. Mai 1943, an Typhus: genau an seinem einundfünfzigsten Geburtstag.
In einem Brief an die gemeinsame Schwester Lola in New York berichtete Dolu davon und fügte hinzu: »Meine liebe Schwester, ich trauere um unseren toten Bruder. Er war nicht nur mein Bruder, sondern mein bester Freund, mein Arbeitskollege und mein ehrlicher Geschäftspartner. Ich werde ihn nie vergessen, ich werde für immer um ihn trauern.«485
Bernard war nicht der einzige Verlust, den die Familie in dieser Zeit erlitt.
Am 5. Juni 1941, siebzehn Tage vor dem Unternehmen Barbarossa, dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion, schrieben Lusias Schwester Dorotea und ihr Mann Szymek einen Brief mit den neuesten Nachrichten aus der Heimat, dem Inhalt der zuletzt geschickten Päckchen und Worten der Liebe.
Bruder Wilhelm, stand darin, habe kein Geld mehr und auch keinen weiteren veräußerbaren Besitz; die Menschen in Lwów litten; noch mehr Freunde seien von den Sowjets verhaftet oder deportiert worden. Etwas Tee, etwas Reis und etwas Gummiband seien unterwegs. »Bitte schreib uns, wir lieben euch und küssen euch viele Male, Dorotea und Szymek.«486
Der Brief war das Letzte, was Lusia von ihrer Schwester, überhaupt von ihren Geschwistern hörte.
Lusia, Dolu und Ludwik hatte das Unternehmen Barbarossa die Freiheit gebracht. Andernfalls wären sie zweifellos alle drei im nächsten, spätestens übernächsten Winter gestorben. Aber für alle ihre Angehörigen, die noch in Lwów lebten, war Hitlers Einmarsch eine Katastrophe.
In den Unterlagen der Familie ist ein unheimliches Schweigen um das Schicksal von Lusias Familie, um den Verbleib der Diamantsteins. In keinem späteren Brief steht etwas darüber, es kommt nicht in den mündlichen Berichten meines Vaters vor, schriftliche Erwähnungen in den vielen Dokumenten, die mein Vater zurückließ, gibt es nicht. Kein einziges berichtet davon, was aus seiner Tante, seinen Onkeln, seinen Cousins wurde. Es ist, als wäre dies das eine Ereignis in der Geschichte der Leiden meiner Familie, das zu schmerzhaft ist, als dass man es auch nur hätte erwähnen können.
Leider ist leicht herauszufinden, was geschah.
Am Tag der Invasion begannen die Sowjets ihre Gefangenen in Lwów zu erschießen. Nach einem Fluchtversuch aus dem Gefängnis Brygidki, den das NKWD verhinderte, wurden Tausende politische Häftlinge und jene, denen sie »Verbrechen gegen sozialistisches Eigentum« vorwarfen, von ihnen ermordet. Viele der Ermordeten waren Juden, die Mehrheit aber Ukrainer.487 Und als die Sowjets endlich abgezogen waren, wurde die Schuld an dem Massaker großenteils den Juden in die Schuhe geschoben.
Das Ergebnis war ein Pogrom noch vor dem Einzug der Nazis in die Stadt. Ukrainische Milizionäre schlugen Juden mit Stöcken und Peitschen auf der Straße. Für viele Juden war es ein Spießrutenlaufen durch riesige Menschenmassen, die sie Richtung Gefängnis trieben, und sie mussten Leichen beseitigen und Straßen säubern. Bis zu 8000 Juden sollen ermordet worden sein.
Unter den Toten war Rabbi Ezekiel Lewin vom Tempel, der Synagoge, die auch die Finkelsteins besucht hatten. Ukrainische Geistliche, die der Rabbiner aufgesucht und um Beistand gebeten hatte, damit sie die Bevölkerung zu bändigen versuchten, boten ihm Zuflucht an, doch er lehnte ab: Sein Platz sei bei seiner Gemeinde, seinem Volk. Er wurde auf der Straße festgenommen, nach Brygidki gebracht und dort vor den Augen seines Sohnes erschossen.488 Als die Deutschen in der Stadt eintrafen, war eine ihrer ersten Taten die Zerstörung der Synagoge, erst mit Feuer, das Kultgegenstände und Schmuckwerk vernichtete, dann mit Dynamit. Das ganze Gebäude wurde gesprengt.489
Etwa um dieselbe Zeit trafen die ersten Mördertruppen der Nazis in der Stadt ein und begannen Juden zu erschießen und aufzuhängen. Innerhalb von zwei Monaten waren über 4000 tot.490
Am Ende der ersten Woche ihrer Besatzung hatten die Deutschen im Rahmen ihres Feldzugs gegen polnische Intellektuelle fünfundzwanzig Professoren und siebzehn weitere Universitätsangestellte zusammengetrieben. Unter ihnen war Dolus und Lusias alter Freund aus der Herburtów-Straße und dem Schottischen Café, der Mathematiker und frühere Ministerpräsident Kazimierz Bartel. Erst wegen seines freundlichen Verhaltens gegenüber Kommunisten und Juden verhöhnt, dann gezwungen, ukrainischen Rekruten die Stiefel zu polieren, wurde er schließlich auf direkten Befehl Himmlers am 24. Juli 1941 erschossen.491
Bald trugen die Juden spezielle Armbinden und durften sich nicht mehr frei bewegen; die neuen Einschränkungen betrafen ihre Ernährung, ihre Arbeit, die Orte, die sie aufsuchen durften. Ein Ghetto wurde eingerichtet, und die Juden mussten in überfüllte, absurd überteuerte Unterkünfte einziehen. Wenn sie mit Sack und Pack auf dem Rücken oder in Karren auf dem Weg dorthin waren, wurden die Alten und Kranken unter ihnen herausgeholt, zu einer nahe gelegenen Sandgrube geführt und erschossen.
Aus dem Ghetto wurden viele in die Gaskammern des Vernichtungslagers Belzec deportiert, andere auf der Straße erschossen oder in ihren Häusern verbrannt, wieder andere kamen ins Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska. Und im Juni 1943 wurde das Lwówer Ghetto liquidiert, seine Bewohner entweder an Ort und Stelle getötet oder ins Lager Janowska gebracht und dort ermordet. Im Herbst waren nahezu sämtliche Juden tot; nur einer Handvoll war die Flucht geglückt. Im September 1943 meldete die NS-Kreisleitung aus dem Gebiet: »Die jüdische Frage im Distrikt Galizien muss daher in der Hauptsache als geklärt angesehen werden.«492
Wann genau die Diamantsteins umkamen, ist unklar. Aber Lusia hatte sechs Geschwister, und 1945 war sie die einzige Überlebende.
Lusias Bruder Leopold war kurz vor dem Krieg, im Juli 1938, mit 47 Jahren an Diabetes gestorben. Und ihre Schwester Róża schon 1910 im Kindbett. Alle anderen Geschwister waren noch am Leben, als Hitler-Deutschland Polen überfiel.
Es gibt keinerlei Aufzeichnungen darüber, was aus Lusias ältestem Bruder Mayer, seiner Frau, der gemeinsamen Tochter, dem Schwiegersohn und den drei Enkelkindern wurde. Auch von ihrem Bruder Oskar weiß man nichts. Bei Juden, die nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion in Polen ermordet wurden, ist das sehr verbreitet.
Von Wilhelm, Lusias Lieblingsbruder, und ihrer geliebten Dorotea ist wenigstens etwas mehr bekannt. In der Aussage eines gewissen Leopold Gatz, die dem Holocaust-Archiv Yad Vashem vorliegt, heißt es lediglich, dass Wilhelm im Holocaust umkam, während Szymeks Schwester aussagte, dass Dorotea, Szymek und ihre Tochter Halina 1944 in Lwów ermordet wurden.
In der Yad-Vashem-Datenbank stehen neben den Namen der Angehörigen, die Lusia und Ludwik mit ihrer Liebe und ihren Päckchen retteten, die Worte:
Während der Shoah wurden Juden auf vielfältige Weise ermordet, unter anderem durch Vergasen, Erschießen, Verbrennen, Ertränken oder Lebendig-Begrabenwerden, Entkräftung durch Zwangsarbeit, Verhungern, durch Seuchen, Verweigerung der ärztlichen Versorgung und grundlegenden Hygiene und anderes. Einige Juden nahmen sich das Leben, um Verhaftung und weiterer Verfolgung zu entgehen oder um ihr aussichtsloses, unerträgliches Leiden zu beenden.493
Einige Zeit nach dem Krieg, aber noch bevor meine Eltern einander kennenlernten, erstellte Lusia den Stammbaum der Kinder, Enkel und Urenkel von Izak und Sława Diamantstein. Neunundzwanzig Personen sind dort genannt. Als Lusia den Stammbaum zusammenstellte, waren fast alle tot, die meisten ermordet. Lusia, Dolu und Ludwik hatten überlebt, natürlich. Und es gab noch drei weitere Personen, die bis ins hohe Alter lebten.
Leopold Diamantsteins eleganter und geselliger Frau Zosia und den beiden Söhnen Josek und Eduard war tatsächlich die Flucht aus Lwów gelungen. Eduard hatte im Widerstand gekämpft und war danach sogar noch aus einem Gefangenenlager geflohen. Mit Unterstützung von Dolu und dem Geld von Zosias Bruder schafften sie es nach Argentinien. Zosia konnte dort wieder Fuß fassen, sie eröffnete einen Modesalon als Damenschneiderin. In meiner Kindheit waren meine Tante Zosia und ihre Familie die einzigen Verwandten von der Diamantstein-Seite.
Viel später, wenn Lusia elegant gekleidet mit Mantel, Hut und Handtasche nach Hendon Central zum Einkaufen ging, trug sie oft Kleidung, die Zosia ihr geschickt hatte.
Selbst in den schlimmsten Zeiten verloren Dolu und Lusia nie die Hoffnung, und mehr noch, sie verloren nie den Glauben daran, dass sie eines Tages wieder zu Hause wären. Sie stellten sich vor, wie sie »wie früher unter den Linden der Herburtów-Straße dahinschlenderten«, wie sie lange Gespräche führten wie einst in besseren Tagen, als ihnen nie die Themen ausgingen.494
Doch es war ihnen nicht bestimmt. Sie kehrten nie nach Lwów zurück, auch nicht besuchshalber. Und dasselbe galt für ihren Sohn, meinen Vater, obwohl er den Mauerfall und die Auflösung des Ostblocks um mehr als zwanzig Jahre überlebte.
Vielleicht war Dolus und Lusias Traum immer unrealistisch. Aber das wurde ihnen erst im Lauf des Krieges bewusst. Den ersten Schritt zu dieser Einsicht taten sie im Januar 1943, als dem Führungsstab des im Wald von Katyn stationierten deutschen Nachrichtenregiments zu Ohren kam, es befänden sich in der Nähe die Gräber von polnischen Offizieren. Einige Polen hatten das Gebiet erkundet und Knochen und militärische Abzeichen entdeckt. Der Kommandeur des Regiments ordnete Grabungen an. Freigelegt wurde schließlich eines der Massengräber, in denen die Opfer des Massakers von Katyn vergraben worden waren.
Dem Oberkommando der Wehrmacht war sehr genau bewusst, was da zum Vorschein gekommen war – ein klarer Fall eines sowjetischen Verbrechens – und wie sich der Fund propagandistisch ausschlachten ließe. Womöglich konnte man damit Stalin unterminieren, die Alliierten spalten, Unterstützung von Polen erwirken. Folglich ging man an die Exhumierung der Leichen. Die Funde wurden fotografiert und katalogisiert, und es wurden Augenzeugen für die Massengräber und deren Inhalt herbeigeschafft.
Die Sowjets reagierten zunächst reflexhaft mit der Behauptung, die polnischen Offiziere, die in den Massengräbern lagen, seien von den Deutschen ermordet worden. Es war klar, dass ein Verbrechen dieser Kategorie genau auf der Linie der Nazis lag, und dass sie sich derart moralisch über ihren Fund entrüsteten, war obszön. Genauso klar war, dass die Behauptung der Sowjets absurd war.
Die Polen wussten natürlich, wann und wo ihre Offiziere verschwunden und wo sie vor ihrem Verschwinden gewesen waren. So oder so waren die bei den Toten gefundenen Briefe und Dokumente alle älter als von 1940, und die Leichen trugen Winterkleidung; die Behauptung, sie seien im Sommer 1941 von der vorrückenden deutschen Armee umgebracht worden, war also widerlegt.
Doch alle Hoffnungen der Polen, die Sowjets würden ihre Lügen über Katyn einstellen oder die Alliierten sich auf die Seite Polens stellen, zerschlugen sich schnell. Als erst die Polen, dann auch die Deutschen eine Untersuchung durch das Rote Kreuz verlangten, reagierte die sowjetische Presse mit Schlagzeilen wie »Hitlers polnische Kollaborateure«. Und am 21. April 1943 teilte Stalin Churchill und Roosevelt mit, er sei sehr erzürnt über das Verhalten der Polen und werde der polnischen Exilregierung seine Anerkennung entziehen. Seine Ankündigung setzte er dann auch sehr schnell um, nämlich fünf Tage später, am 26. April.
Der Zorn war natürlich vorgeschützt: Selbstverständlich wusste Stalin, wie die polnischen Offiziere ums Leben gekommen waren. Doch er nutzte gern die Gelegenheit, um die Konkurrenz um die Herrschaft über das Nachkriegspolen auszuschalten.
Bescheid wussten auch die Alliierten. General Sikorski, der Ministerpräsident der Exilregierung, hatte am 15. April mit Churchill zu Mittag gegessen und ihm mitgeteilt, seiner Meinung nach seien die Morde vom NKWD durchgeführt worden. Churchill pflichtete ihm bei: »Ja, die Bolschewiken können sehr grausam sein.« Aber er sei nicht bereit, sich wegen Katyn mit seinem sowjetischen Bündnispartner zu überwerfen. Im Gegenteil, die Skrupellosigkeit der Sowjets, so entsetzlich sie in diesem Fall sei, könne sogar der gemeinsamen Sache dienen.495
Stalin ging nun daran, das Werk zu vollenden, das er 1940 mit dem Einmarsch in Polen und den Morden von Katyn begonnen hatte.
Als Erstes setzte er in Polen eine kommunistische Regierung ein, um das Land in der sowjetischen Einflusssphäre zu halten. Im Nachkriegspolen gäbe es keinerlei Ämter mehr für Nationalisten oder freiheitliche Demokraten, vor allem nicht für Rückkehrer aus London. Sehr zugute kam seinem Bestreben, dass Sikorski im Juli 1943 bei einem Flugzeugabsturz nur Sekunden nach dem Start vom Flughafen Gibraltar ums Leben kam. Damit war die Exilregierung ihres charismatischsten Vertreters beraubt.
Im Sommer 1944 half die Polnische Heimatarmee, die im Land im Widerstand kämpfte, jedoch weitgehend der Londoner Exilregierung unterstellt war, der Roten Armee bei der Befreiung von Lwów. Unmittelbar danach wurden ihre Offiziere festgenommen, ihre Einheiten aufgelöst.
Ebenfalls im Sommer 1944 kam es in Warschau zum militärischen Aufstand der Heimatarmee, die mit der nahen Ankunft der Sowjets rechnete, gegen die deutschen Besatzungstruppen. Sowjetische Rundfunksendungen hatten dazu ermutigt. Doch als es dann so weit war, hielt Stalin seine Truppen zurück und überließ Warschau den Deutschen, die ein Massaker unter der Zivilbevölkerung anrichteten, in Schulen eindrangen und Kinder mit Gewehrkolben erschlugen. Himmler jubelte, dass jetzt das geistige Kapital Polens zerstört und eine Nation ausgelöscht werde, die Deutschland jahrhundertelang im Weg gestanden habe.496 Genau so sah es Stalin aus seiner russischen Perspektive. Der Geist, dem der Molotow-Ribbentrop-Pakt entsprungen war, war nach wie vor lebendig, auch wenn der Pakt selbst Makulatur war.
Als die sogenannten großen Drei – Churchill, Roosevelt und Stalin – sich im Februar 1945 in Jalta trafen, um über die Nachkriegsordnung zu beraten, ließ Stalin nicht mit sich über Polen reden. Dieses Thema gab mehr Anlass zu Streit als alle anderen. Am Ende gaben die Amerikaner und die Briten nach.
Vereinbart wurden neue Grenzen für Polen: Das Land würde im Ganzen nach Westen verschoben, wo es einen Teil Deutschlands hinzubekäme, während es im Osten Gebiete an die Sowjetrepublik Ukraine abtreten musste. Lwów, heute Lwiw, sollte nach dem Krieg Teil der UdSSR werden, und regiert würde Polen, trotz einiger schwammiger Formulierungen über geplante Wahlen, die Stalin hinnahm, von Kommunisten.
Als Dolu und Lusia die Nachricht vernahmen, war klar, dass an eine Rückkehr nach Hause nicht zu denken war. Auf jeden Fall nicht nach Lwów, wo Dolu sicher rasch verhaftet und wieder in den Gulag deportiert würde, aber auch nicht in das neue Polen, wo ihre Aussichten kaum besser wären. Es fragte sich nur, ob sie zur Rückkehr gezwungen wären, weil sie nirgendwo anders unterkämen. Womöglich unterstellten die Briten die Anders-Armee der Kontrolle der kommunistischen polnischen Regierung und schickten sie wieder nach Polen.
Nach Jalta kam es zu einer wütenden Auseinandersetzung zwischen General Anders und Churchill. Man schrie einander an, doch als die Wut sich gelegt hatte, offenbarte sich das schlechte Gewissen des britischen Premierministers. Churchill bekundete erst gegenüber Anders, dann gegenüber dem Unterhaus seine Hoffnung, dass man den tapferen Polen, die unter britischem Kommando gekämpft hatten – zu dieser Kategorie gehörte Dolu –, die britische Staatsbürgerschaft anbieten werde.497
Das war zwar beruhigend, doch die Ungewissheit blieb. Etwa um diese Zeit brach Dolu zu einem kurzen Einsatz in Ägypten auf, und Ludwik begleitete seinen Vater zum Bahnhof von Tel Aviv. Er werde vielleicht nicht zurückkehren, vertraute Dolu ihm an. »Wenn sie uns den Kommunisten unterstellen«, sagte er, »werden wir uns das nicht gefallen lassen.« Er würde dann sicher verhaftet und vielleicht erschossen. »Kümmere dich um deine Mutter«, fügte er noch hinzu.498
Dazu kam es nicht, die Briten lösten Churchills Versprechen ein. Angehörige der Anders-Armee durften sich dem neu gebildeten Polnischen Umsiedlungskorps anschließen, das ihnen eine Heimat in Großbritannien bot. Ludwik war nicht sicher, ob er wirklich nach England wollte, lieber wäre er in Palästina geblieben, wo er Freunde gefunden hatte. Auch Dolu überlegte kurz, ob er sich um die Einwanderungsgenehmigung bemühen sollte. Aber er hatte übergenug von Krieg und Kampf, und das Leben in Großbritannien schien weniger von beidem zu verheißen. Ludwik war inzwischen schon siebzehn, doch ohne seine Eltern in Palästina zu bleiben kam ihm nicht in den Sinn.
Daher trafen Dolu, Lusia und Ludwik am Mittwoch, dem 27. August 1947, per Schiff in Großbritannien ein. Ihr erster Eindruck waren die regennassen Hafenanlagen von Southampton. Sie fühlten sich, sagte mein Vater, »demoralisiert und als Polen geschlagen«.
Sie hatten kein Geld, kein Ansehen, kein Zuhause. Immerhin hatten sie einander. Und nach allem, was hinter ihnen lag, hatten sie nichts zu verlieren und nichts zu fürchten. Sie konnten noch einmal anfangen. Es war nicht das Ende der Finkelsteins. Es war ihr Neubeginn.