Am 24. Januar 1945 um halb zwölf Uhr nachts fuhr der Zug aus Bergen-Belsen im Bahnhof von Kreuzlingen in der Schweiz ein. Dort stiegen die Passagiere in einen anderen Zug um, der sie nach St. Gallen brachte, etwa eine Stunde entfernt, wo eine Unterkunft für sie bereitstand.
Aber nur Mirjam und ihre Schwestern fuhren weiter, ihre Mutter blieb zurück. Gleich hinter der Grenze zur Schweiz hatte Grete zum letzten Mal das Bewusstsein verloren und nicht wiedererlangt. Mit einer Trage wurde sie ins Krankenhaus von Kreuzlingen gebracht, kurz nach Mitternacht war sie tot.499
Die Mädchen erfuhren von ihrem Tod erst am nächsten Morgen. Obwohl sie gesehen hatten, wie schlecht es ihr ging, waren sie sicher gewesen, dass ihre Mutter überleben werde. Nach allem, was sie miteinander durchgemacht hatten, war ihr Tod unvorstellbar. Die drei Mädchen waren wie betäubt und brauchten ewig, bis sie begriffen, dass Grete tatsächlich gestorben war. Ich glaube, dass meine Mutter es noch als alte Frau, als sie selbst dem Tod nahe war, nicht ganz zu fassen vermochte. Sie sagte oft, ihre Mutter sei doch erst neunundvierzig gewesen. »Ja. Neunundvierzig. Noch nicht fünfzig. Das ist doch kein Alter.«500
Gretes Tod und der Tod zweier weiterer ehemaliger Häftlinge in ihrem Transport führte den Alliierten klar vor Augen, welche Zustände in den Konzentrationslagern herrschten. Ross McClelland vom War Refugee Board berichtete nach Washington: »Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass die extreme Unterernährung, unter der die Ausgetauschten leiden, sich keineswegs auf Bergen-Belsen beschränkt, sondern in allen deutschen Konzentrationslagern und Zwangsarbeitsunternehmen die Regel ist.« Die Militärbehörden müssten die Truppen darauf vorbereiten, dass sie, wenn sie Gebiete von den Nazis befreiten, Zehntausende Menschen wie diese anträfen.501
Die Wiener-Mädchen standen nach wie vor unter Aufsicht und hatten ihre Mutter deshalb nicht ins Krankenhaus begleiten dürfen, hatten nicht bei ihr sein können, als sie starb. Dem Bekunden nach fürchteten die Schweizer die Ausbreitung von Krankheiten, ihre wahre Sorge aber dürfte gewesen sein, dass die Flüchtlinge versuchen könnten, unterzutauchen und dann in der Schweiz zu bleiben – was so nicht vereinbart war und verhindert werden musste.
Grete wurde am 26. Januar um halb vier Uhr nachmittags in Kreuzlingen beerdigt. Mirjam und Eva durften nicht dabei sein, aber Ruth erhielt nach viel Bitten und Flehen die Erlaubnis, unter Aufsicht eines bewaffneten Soldaten zur Beerdigung zu reisen. Der Rabbiner Lothar Rothschild und der Gemeindevorsitzende Robert Wieler hatten Alfred vor dem Krieg gekannt; am traditionellen Gottesdienst nahm die ganze jüdische Gemeinde teil, und der Rabbiner hielt eine Trauerrede.
Wieler und seine Frau luden Ruth danach zu sich ein, setzten ihr ein Abendessen vor, drängten sie zu einem heißen Bad und versorgten sie mit frischer Kleidung. Sie gaben ihr auch Kleidung für ihre Schwestern mit, die Gemeindemitglieder gespendet hatten. Die Wielers erwähnten später, dass Ruth mit dem Essen auf sie gewartet habe, obwohl sie sicher entsetzlich hungrig gewesen sei, und Ruth stellte fest, dass das KZ Gretes Erziehung nicht hatte auslöschen können.502
Die Vereinbarung des Kriegsflüchtlingsrats mit Paraguay ähnelte dem Abkommen mit der Schweiz. Die Schweiz wirkte bei der Aushandlung des Abkommens mit und erhielt im Gegenzug die Zusage, dass die Flüchtlinge sich nicht in der Schweiz niederließen, so wie Paraguay durch Anerkennung der Pässe den Austausch ermöglichte und dafür die Garantie der Amerikaner erhielt, dass die Flüchtlinge nicht nach Paraguay einwanderten, sondern in dem Lager der Vereinten Nationen im algerischen Philippeville untergebracht würden.
Am 30. Januar 1945 fuhren die Mädchen in ihren neuen Kleidern – die alten Lumpen hatten sie verbrannt, um womöglich noch vorhandene Läuse zu vernichten – zurück nach St. Gallen und von dort weiter mit dem Zug zum Hafen von Marseille. Journalisten, die meine Mutter und ihre Mitreisenden in den Zug steigen sahen, bemerkten den Kontrast zwischen den amerikanischen Internierten und der Gruppe aus Bergen-Belsen.
Diese Menschen sind in einem jammervollen Zustand zu uns gekommen: entkräftet, abgemagert, gealtert, zum Teil todkrank … Diese Leute schleppten sich nun gestern früh die kleine Wegstrecke vom Gaiserbahnhof nach dem Hauptbahnhof, stiegen langsam die Perrontreppen hinunter, als ob sie sämtlich alte Greise wären. Kinder und Frauen humpelten davon, und selbst auf Tragbahren mußte man die Menschen in den Zug bringen.503
Der Zug fuhr durch das Rhône-Saône-Tal, ein Kriegsgebiet voller Panzer und anderer Militärfahrzeuge, und nach der Ankunft im Hafen von Marseille wurde die Gruppe geteilt. Die Amerikaner gingen an Bord der Gripsholm, eines schwedischen Ozeandampfers, der im Auftrag des Roten Kreuzes verwundete Soldaten in die USA brachte. Die Überlebenden von Bergen-Belsen sollten ein italienisches Schiff nach Algerien besteigen. Zu dieser Gruppe gehörten Mirjam und ihre Schwestern.
Jedoch bemühte sich Alfred, seitdem er von dem Austausch erfahren hatte, von New York aus um die Erlaubnis, seine Töchter zu sich zu holen. Sein Verhältnis zum US-Außenministerium mochte anfangs nur mäßig gut gewesen sein, inzwischen war er ein vertrauenswürdiger Mitarbeiter und besaß viele Kontakte. Mit ihrer Hilfe – und durch Zahlung von 1000 Dollar für die Überfahrt – ergatterte er Platz für seine Töchter auf der Gripsholm.504
Im letzten Moment, als das Schiff nach Philippeville schon im Begriff war abzulegen, wurden die Schwestern von Bord geholt und zu dem Linienschiff nach New York gebracht.
Die Gripsholm brauchte fast zwei Wochen bis an ihr Ziel, denn sie wich weit vom üblichen Kurs ab, um U-Boote, Minen und so weiter zu meiden. Jedoch war es eine komfortable Reise. Die Innenausstattung des Schiffs entsprach noch weitgehend dem Vorkriegsluxus: Fotografien aus der Zeit zeigen makellose Salons und schöne Speisesäle. Und weil die Mädchen mit normalen Fahrkarten reisten, hatten sie Zutritt zu den Vergnügungseinrichtungen und speisten in eleganter Umgebung (Speisesaal C, Platz 2, Tisch 158).
Als sie ablegten, spielte eine amerikanische Militärkapelle. Alle waren berauscht, manche im wörtlichen Sinn, die meisten vor Freude. Das Essen war reichlich, aber so üppig, dass die drei Schwestern davon krank wurden. Trotzdem legten sie ein wenig Gewicht zu. Das war auch dringend nötig: Eva war 1,63 Meter groß505 und wog 36 Kilo.506
Aber man konnte nicht vergessen, dass es keine normale Reise war. Das Schiff transportierte Kriegsverletzte nach Hause, die, wie Mirjam sagte, »in einem fürchterlichen Zustand waren … diese armen jungen Männer hatten entsetzliche Verwundungen«.507 Offenbar entsetzlich genug, um die Mädchen ungeachtet ihres eigenen Zustands und nach allem, was sie im KZ gesehen hatten, noch zu schockieren. Ein Soldat hatte alle vier Gliedmaßen verloren. Er sagte zu Eva, er würde sich umbringen, wenn er noch Hände hätte.508
Und es wuchs ihre Sorge, was sie wohl in New York erwartete. Natürlich wussten die Mädchen nichts von den Debatten um die Austauschaktionen, nichts von den Warnungen vor der Spionagegefahr, die sie angeblich darstellten, von den Gerüchten, dass sich Spione mittels plastischer Chirurgie in vermeintliche Juden verwandeln ließen. Allerdings hatte Ruth mitbekommen, dass man sie nach ihrer Ankunft wahrscheinlich einem Verhör unterzöge.
Deshalb ging sie, als sie sich New York näherten, mit ihren Schwestern in ihre gemeinsame Kabine auf Deck A, gleich unter dem Promenadendeck, um Alfreds Kriegsmedaillen zu holen – das Eiserne Kreuz zweiter Klasse, den Eisernen Halbmond –, die sie in ein Taschentuch wickelte und durch das Bullauge ins Wasser warf.
Mit jeder Stunde kamen wir näher, und dann war der große Augenblick da. Lange stand ich an Deck, und auf einmal sah ich in weiter Ferne die Küste. Wir fuhren langsam in den Hafen ein, vorbei an der Freiheitsstatue, dem Symbol für alles, was Amerika uns schenkt. Ich betrachtete die Wolkenkratzer, die tausenden Lichter, die ich so lang nicht gesehen hatte. Ich stellte mir redende und lachende Menschen vor, volle Straßen und regen Verkehr, und ich sagte mir: Das ist Amerika. In einem dieser Häuser lebt mein Vater und wartet auf uns … Und ich war glücklich, überglücklich.509
So beschrieb Ruth den Moment, als sich die Gripsholm am Mittwoch, dem 21. Februar 1945, New York näherte. Trotz allem, was sie verloren hatten, und allem, was sie hatten zurücklassen müssen, trotz ihrer Angst vor dem Empfang, mit dem staatenlose Flüchtlinge in Kriegszeiten zu rechnen hatten, trotz ihres erbärmlichen Zustands und ihrer ungewissen Zukunft waren die Mädchen euphorisch.
Zwei Tage zuvor hatte ihnen Alfred eine liebevolle Nachricht aufs Schiff geschickt: Er dürfe leider nicht an Bord kommen, könne es aber kaum erwarten, sie zu sehen, und sie sollten sich nur ja nicht erkälten. Seine Worte trugen sie durch die kommenden Tage.
Denn ehe jemand in New York von Bord gehen durfte, führten FBI und Geheimdienst Befragungen durch – laut New York Times »gründliche Vernehmungen zur Abwehr feindlicher Agenten«.510 Von den 622 Zivilpersonen an Bord wurden einige Dutzend zu weiteren Verhören nach Ellis Island gebracht, darunter auch die Wieners, nachdem sie bis zum späten Freitagnachmittag an Bord hatten ausharren müssen.
Zwei Tage brauchten der Geheimdienst und die Einwanderungsbehörde, um sich davon zu überzeugen, dass die drei jungen jüdischen Mädchen keine Spioninnen waren. Alfred hatte ihnen versichert, dass sie freundlich behandelt und bald freigelassen würden. Und er hatte ihnen Schokolade, ein paar Bleistifte und Hopjes, traditionelle holländische Karamellbonbons, geschickt. Dennoch war es eine Tortur. »Meine Schwestern und ich«, sagte Eva, »bekamen wieder Angst, weil die Türen abgesperrt waren. Wir dachten, wir wären auch in Amerika wieder in einem Lager.«511
Am Montagmorgen wurden sie entlassen. Mit einem Boot fuhren sie zu einem Pier im New Yorker Hafen und von dort weiter mit einem Auto zum Einwanderungsbüro am Columbus Circle. Dort bekämen sie ihre Papiere, sagte man ihnen, und sie sollten sich in einem langen Korridor auf eine Bank setzen.
Wenige Augenblicke später erschien ein Mann. Er war kahl, etwas förmlich und hatte unverwechselbare große Ohren. Er stand einfach da. Den Mädchen hatte man nicht gesagt, dass er schon da war, und auch er wusste nichts von ihrer Anwesenheit. Es war der letzte Wahrheitstest: Erkannten sie ihren Vater, erkannte er sie? Eva entdeckte ihn als Erste. »Papa! Papa!«, rief sie, und alle drei liefen auf ihn zu.
Die Mädchen mussten einen Eid schwören, dass er ihr Vater sei, und ihr Vater schwor einen Eid, dass sie seine Töchter seien. Dann nahm Alfred seine drei Mädchen an die Hand, wie Grete sich vor Jahren geschworen hatte, und sie gingen gemeinsam auf die Straßen von Manhattan hinaus. Sie bogen in die Fifth Avenue ein. Und alle, erinnerte sich Eva, »starrten uns an. Wir waren drei große Skelette und ein sehr kleiner alter Mann.«512