1937 erwarben Adolf und Amalia Finkelstein ein Grundstück ganz oben an einer der repräsentativsten und teuersten Straßen von Lwów, engagierten einen namhaften Architekten und stellten den Bauantrag für die Planung und Errichtung einer großen Villa für die Familie und ihr Personal.
Die Nummer 12 unterschied sich von allen anderen Häusern in der Herburtów-Straße, ja eigentlich von allen Häusern in dieser aufstrebenden Stadt, dem Wirtschaftszentrum Ostpolens. Während die Nachbarn in vorwiegend neugotischen und neoklassizistischen Gebäuden lebten, gaben Dolu und Lusia, wie sie allgemein genannt wurden, ein bemerkenswert modernes, von ausgeprägtem Stilwillen gekennzeichnetes Haus in Auftrag.
Der preisgekrönte Entwurf der Villa bildete den Höhepunkt in der Berufslaufbahn des Architekten Artur Stahl.60 Der Stil, der zu jener Zeit in Europa in Mode kam, war die sogenannte Stromlinien-Moderne, die gern mit Art déco kombiniert wurde, statt des Ornaments jedoch auf klare und lange Linien, Bewegtheit und Funktionalität setzte. Die aus der Produktgestaltung – etwa für Autos, Busse, Flugzeuge – stammenden Elemente kamen auch in der Architektur zur Anwendung.
In Frankreich nannte man die Stromlinien-Moderne Style Paquebot, »Ozeandampferstil«, und Dolu und Lusias neue Villa war ein klassisches Beispiel dafür. Stahl nutzte die Keilform des Grundstücks am oberen Ende der steil abfallenden Herburtów-Straße und schuf ein Gebäude, das mit seinen gerundeten Balkonen, relingartigen Arkaden und Bullaugenfenstern an ein weißes Passagierschiff mit hoch aufragendem Rumpf erinnerte, das jetzt am Pier vertäut lag.
Innen war das Haus eher weitläufig als prunkvoll, äußerst komfortabel und bei alledem mehr Familienheim als herrschaftliches Anwesen. Im Erdgeschoss ging der offene Eingangsbereich in ein Wohn- und ein Speisezimmer über. Dank einer faltbaren Trennwand konnte man aus diesem Bereich zwei getrennte Räume oder aber einen einzigen großen Raum für Gesellschaften machen.
Die Familienräume waren im oberen Stock, zu dem eine gewundene Holztreppe im Art-déco-Stil führte. Wie damals üblich, hatten Dolu und Lusia je ein eigenes Zimmer mit einer Verbindungstür dazwischen. Und auf der anderen Seite des Flurs hatte mein Vater Ludwik, das einzige Kind, sein Schlafzimmer mit Balkon; nebenan schlief das Kindermädchen.
Mit einer Zentralheizung, einer Garage für den chauffeurgesteuerten Wagen, einem ausgebauten Souterrain, in dem der Hausmeister wohnte und die Wäsche gemacht wurde, und einer geräumigen Küche, dem Reich der Köchin, war das Haus mit der Nummer 12 im Sommer 1938 bereit für den Einzug der Finkelsteins.
Das Haus war eine Aussage. Natürlich kündete es vom Reichtum der Familie. Aber auch von der Modernität und der progressiven Einstellung seiner Bewohner. Und von deren festem Vertrauen in das Leben, das sie führten. Die Finkelsteins hatten seit Jahrhunderten in dieser Gegend, Galizien, gelebt und sich jetzt voller Zukunftsoptimismus ein Zuhause geschaffen, das, wie man sich vorstellen konnte, der Familiensitz für die nächsten Jahrhunderte wäre.
Sie wohnten dort etwas länger als ein Jahr.
Dolu hatte das Vermögen der Familie vermehrt, den Grundstock gelegt aber hatte sein Vater, mein Urgroßvater Maks. Dieser, Sohn eines Fuhrmanns, war als junger Mann nach Wien gegangen, um dort das Handwerk der Stahl- und Eisenbearbeitung zu lernen.61 Nach Lwów zurückgekehrt, begründete er mit seinem Kompagnon Gustav Fehl ein Geschäft, das zu einem mächtigen Unternehmen und zum größten Eisen- und Stahllieferanten in der Region heranwuchs.
1911 zahlte Maks seinen Kompagnon aus und errichtete in der Słoneczna-Straße 47, mitten in der Innenstadt, ein großes Wohnhaus für mehrere Parteien mit Geschäftslokal: ein imposantes Gebäude mit keramikgefliesten Fluren und schmiedeeisernen Geländern aus eigener Herstellung; von den Wohnungen blickte man in den Innenhof hinunter, in dem Finkelstein & Fehl Warenlager und Büroräume hatten. In einer der Wohnungen lebte Maks mit seiner Frau Charlotte und der jüngsten, jetzt zwölfjährigen Tochter Lola. Die beiden älteren Söhne, Dolu und Bernard, einundzwanzig beziehungsweise neunzehn Jahre alt, waren schon auf dem Weg hinaus in die Welt.
Die Finkelsteins hatten auch in Wien Besitz, vor allem eine Adresse in einer exklusiven Wohngegend. Vor dem Ersten Weltkrieg und der anschließenden Schaffung eines polnischen Staates hatte Lwów Lemberg geheißen und war die viertgrößte Stadt im riesigen Habsburgerreich. An der Kreuzung von Ost und West gelegen, war Lemberg eine bedeutende Handelsstadt, und ihr wirtschaftlicher Erfolg hatte ein starkes Bürgertum mit entsprechenden städtischen Einrichtungen hervorgebracht. Die aufeinanderfolgenden Kaiser ließen ihr eine vergleichsweise große Autonomie, die den Stolz der Stadt auf ihre Identität spiegelte und bis zu einem gewissen Punkt die rivalisierenden Nationalismen der dort lebenden unterschiedlichen Ethnien neutralisierte. Rund die Hälfte der etwa zweihunderttausend Einwohner waren Polen, die andere Hälfte bestand zu gleichen Teilen aus Juden und Ukrainern. Die Politik der Kaiser schien im Großen und Ganzen aufzugehen, das Verhältnis zwischen den einzelnen Gruppen war recht gut.62
Wenn Dolu und Lusia miteinander korrespondierten, dann auf Polnisch, aber die Finkelsteins beherrschten auch fließend Deutsch, Maks besaß eine umfangreiche Bibliothek deutschsprachiger Bücher und hatte mehrere Wiener Zeitungen abonniert. Dolu führte diese Gepflogenheiten weiter, und die Verbundenheit der Familie mit dem Deutschen war immerhin so stark, dass die Eltern, als mein Vater Ludwik 1929 zur Welt kam, ein deutschsprachiges Kindermädchen engagierten, um sicherzustellen, dass auch der Sohn die Sprache beherrschte. Deutsch zu sprechen war für gebildete, wohlhabende jüdische Familien eine Selbstverständlichkeit. Man zeigte damit die eigene Kultiviertheit, Weltläufigkeit und Verbundenheit mit der westlichen Kultur.
Als Maks und Charlotte die neue Wohnung in der Słoneczna-Straße bezogen, zog Dolu nicht mit, er war zu der Zeit nicht einmal in Lemberg. Er hatte 1909 maturiert und war dann nach Wien gegangen, um Jus zu studieren. Und nach dem Studienabschluss trat er als Freiwilliger der österreichischen Armee bei und diente dort während des ganzen Ersten Weltkriegs, hauptsächlich als Quartiermeister. Erst 1918, nach seiner Demobilisierung als Leutnant, kehrte er nach Hause zurück, um im väterlichen Betrieb zu arbeiten.
Zu der Zeit war der fragile Frieden zwischen Lembergs ethnischen Gruppen erschüttert. Der Kriegsausbruch hatte die alten Träume von polnischer Eigenstaatlichkeit wiederbelebt, und die ukrainischen Nationalisten fühlten sich zu den gleichen Bestrebungen inspiriert. Kurz nach Beginn des Krieges, im September 1914, fiel Lemberg an die Russen, die es ein knappes Jahr hielten, bevor die Österreicher wiederkamen. Ein weiteres Jahr später, 1916, ließen der deutsche und der österreichische Kaiser ihren Beschluss zur Errichtung eines Königreichs Polen verkünden, doch bis zum Ende des Kriegs blieb unklar, wo dessen Grenzen verliefen und ob Lemberg dazugehören sollte.
Als Österreich-Ungarn besiegt war, fiel auch dieses konfuse Vorhaben in sich zusammen, und in den allgemeinen Nachkriegswirren erhoben Ukrainer und Polen konkurrierende Souveränitätsansprüche, die in den polnisch-ukrainischen Krieg mündeten. Und als dieser Konflikt zugunsten der Polen beendet war, versuchte Russland den entstehenden polnischen Staat zu zerschlagen, was ihm auch beinahe gelungen wäre. Der russische Militärangriff entsprang teils dem Wunsch, alte Territorialstreitigkeiten beizulegen, und teils der neuen Ideologie: Die Russen wollten auch ihren Nachbarn die Vorteile des Sozialismus zugutekommen lassen.
Marschall Józef Piłsudski führte den Widerstand gegen die russische Besatzung an, und der wider alle Wahrscheinlichkeit errungene Sieg seiner Truppen über die Rote Armee machte ihn zum Nationalhelden. Die Bolschewiken, Stalin im Besonderen, nahmen die Entwicklung sehr schlecht auf, und bei vielen Weltmächten, die mit einer Ausdehnung Polens so weit nach Osten nicht einverstanden waren, blieb dieser Ausgang umstritten. Erst 1923 wurde der neu geschaffene, unabhängige polnische Staat, zu dem auch Lemberg gehörte, von der internationalen Gemeinschaft anerkannt. Aus Lemberg wurde Lwów.63
Eine Konstante hatten die in rasendem Tempo aufeinanderfolgenden Machtwechsel in der Stadt: Wer immer neu kam, schob den Juden Schuld zu. Sie seien zu loyal gegenüber dem bisherigen Regime gewesen, sie seien nicht loyal genug gegenüber dem neuen, sie verkauften zu viele Waren, sie behielten zu viele Waren für sich.
Aus Furcht vor Pogromen waren 1914 Juden in großer Zahl vor den heranrückenden Russen geflohen. Noch vor deren Ankunft begann eine systematische Plünderung jüdischer Geschäfte, der sich die Russen gleich anschlossen, sobald sie in der Stadt waren. Auf dem Land ringsum kam es aus Rache für die Unterstützung der österreichisch-ungarischen Armee zu Massenvergewaltigungen und Brandanschlägen gegen Juden. Als im Jahr darauf die Österreicher zurückkamen, wurde den Juden vorgeworfen, sie hätten die Russen mit Blumen empfangen und von Hamsterkäufen und Finanzspekulationen profitiert. Jüdische Politiker wurden aus dem Amt getrieben, jüdische Händler schikaniert.
Das Muster hielt sich.64 Als sich der österreichische Griff um die Stadt Lwów zu lockern begann, kam es erneut zu Plünderungen, in öffentlichen Verkehrsmitteln wurden jüdische Passagiere zusammengeschlagen. Es ging das Gerücht, auf dem Marktplatz vor dem Rathaus würden Lebensmittel an Juden billiger verkauft als an Christen, woraufhin der Pöbel dort jeden verprügelte, der auch nur »jüdisch« aussah.
Und der polnisch-ukrainische Krieg endete damit, dass sich beide Seiten gegenüber den Juden benachteiligt fühlten. Nach dem Abzug der Ukrainer aus Lwów kam es zu einem dreitägigen Pogrom, an dessen Ende über siebzig Tote und mehrere Hundert Schwerverletzte zu beklagen waren. Viele Juden berichteten, es seien polnische Soldaten in ihre Häuser eingedrungen und hätten ihnen mit der Drohung, Feuer zu legen, oder einer simulierten Hinrichtung durch Erhängen an einem Balken Geld abgepresst.
Dies war also die Stadt Lwów, in die Dolu 1918 zurückkehrte: nicht nur bitter zerstritten, sondern auch von Kämpfen verwüstet. Die Stadt war bankrott. Ein Viertel ihrer Häuser war schwer beschädigt oder irreparabel zerstört, das Stromkraftwerk produzierte nur noch einen Bruchteil dessen, was es vor dem Krieg erzeugt hatte, und die Wasserversorgung war nach einem Angriff gegen das Leitungssystem unterbrochen. Die Menschen gingen zu Fuß zur Arbeit, weil kaum Straßenbahnen fuhren, und holten sich Wasser an öffentlichen Brunnen.65
Für Dolu hatte die Lage allerdings auch eine positive Seite. Der Wiederaufbau von Lwów war nicht nur eine zivilgesellschaftliche Herausforderung für seine Generation, sondern auch eine enorme wirtschaftliche Chance für ein Geschäft wie Finkelstein & Fehl, das mit der Lieferung von »Eisenträgern, Eisenplatten, Gasleitungen und Wasserrohren« für Bauunternehmen warb.66 Und trotz allem war Lwów eine Stadt, in der Juden Ansehen erwerben und behalten, wirtschaftlichen Erfolg erzielen, ein Gemeindeleben in kosmopolitischer Urbanität führen konnten. Außerdem war es Heimat: Die Finkelsteins waren seit jeher hier zu Hause.
Daher wollte auch er in Lwów bleiben, wollte sein Geschäft ausbauen, ins städtische Leben eintauchen. Zuallererst aber wollte er eine Familie gründen. Wollte es zumindest versuchen.
Am 28. September 1921 erschien in der Lwówer jüdischen Tageszeitung Chwila (Augenblick) eine Anzeige in großen Lettern und Fettdruck: »Unserem LIEBEN Chef Herrn Adolf Finkelstein am Tag seiner Hochzeit mit Fräulein Lusia Diamantstein die herzlichsten Glückwünsche von den Angestellten der Firma Finkelstein & Fehl.«
Es war eine freudige Angelegenheit und ein rauschendes Fest, wie nicht anders zu erwarten, wenn die Sprösslinge zweier wohlhabender Familien zusammenkamen. Sechzig Jahre später, nach Lusias Tod, schrieb eine Zeitgenossin des Brautpaars, die zur Hochzeit geladen war, meinem Vater, es sei »für uns ein wahrhaft unvergessliches Ereignis [gewesen]. Ihre Mutter war wunderschön, sie war eine bezaubernde Braut, und bis zum heutigen Tag entsinne ich mich, wie schön sie in ihrem Ausgehkostüm aussah.«67
Schön mag sie gewesen sein, aber das war nicht der einzige Grund, weshalb Dolu seine junge Frau liebte. Lusia war klug, geistreich und vor allem, wie sich im Lauf der Zeit erwies, widerstandsfähig. Meine Großeltern waren einander »vorgestellt« worden, wie mein Vater es taktvoll ausdrückte, doch hatte die arrangierte Ehe seiner Eltern zu tiefer und dauerhafter Liebe geführt.
Lusia entstammte einer Familie wohlhabender Grundbesitzer in der Umgegend von Lwów, damals noch Lemberg, und war das jüngste von sieben Kindern. Am nächsten stand sie ihrer Schwester Dorotea (beim nächtlichen Artilleriefeuer der sich gegenseitig beschießenden polnischen und ukrainischen Truppen schmiegten die Mädchen sich eng zusammen, um sich gegenseitig zu trösten), und ihr Lieblingsbruder war Wilhelm, weil er ihnen alle ihre kindischen Streiche durchgehen ließ, sogar als sie ihm einmal im Schlaf den Schnurrbart abschnitten.
Sie war fast zehn Jahre jünger als ihr frischgebackener Ehemann und hatte, wie er, den Ersten Weltkrieg in Wien verbracht, allerdings als Schülerin.
Wie viele andere Juden, die es sich leisten konnten, war die Familie vor den Russen aus Lemberg geflohen. Lusia kam daraufhin in den Genuss einer bemerkenswert liberalen Erziehung an der Wiener »Freien Schule« in der Albertgasse, die unter anderem mit dem Ziel gegründet worden war, den katholischen Einfluss im österreichischen Schulsystem zurückzudrängen. Nach ihrer Matura kehrte sie nach Lemberg zurück, studierte Kunstgeschichte an der Jan-Kazimierz-Universität und wurde versierte Linguistin, nachdem sie bereits Deutsch und Polnisch sprach und nun auch Englisch und Französisch studierte. Ihre Brüder erhielten eine orthodoxere jüdische Erziehung, was für ein Mädchen als unnötig angesehen wurde; höhere Bildung jedoch galt als Zierde für eine Tochter aus gehobenem Haus, die dereinst Gespräche in eleganten Kaffeehäusern führen und bei Gesellschaftseinladungen glänzen müsste.
Nach ihrer Hochzeit bezogen Dolu und Lusia eine Wohnung in der Akademicka-Straße 28, einer der beiden noblen, innerstädtischen Einkaufsstraßen, die als lange baumbestandene Avenue ins Zentrum der Stadt führte. Dolus Bruder Bernard, der 1922, nachdem Maks sich aus dem Geschäft zurückgezogen hatte, sein Kompagnon wurde und den ganzen Tag mit ihm zusammenarbeitete, wohnte mit seiner Frau Linka in einem Haus direkt gegenüber.
Dolus und Lusias Wohnung war perfekt gelegen für ein junges Paar, das zur Lemberger Kaffeehausgesellschaft zählte. Die angesehensten Örtlichkeiten der Stadt befanden sich praktisch vor ihrer Haustür; in dem Haus, das sie bewohnten, gab es sogar ein Kino, und gegenüber, neben Bernards Haus, war das Schottische Café, in dem sich die Lemberger Mathematiker trafen, Kuchen aßen und gemeinsam, auf Servietten kritzelnd, ihre mathematischen Probleme bearbeiteten. Wahrscheinlich lernten Dolu und Lusia hier den Mathematikprofessor und dreimaligen polnischen Ministerpräsidenten Kazimierz Bartel kennen, mit dem sie sich später befreundeten.
Besuchen bei Freunden zu Hause ging vielleicht ein Einkauf beim renommierten Zuckerbäcker Zalewski ein paar Häuser weiter voraus. Zalewski-Pralinen waren ein traditionelles Gastgeschenk. Kauf und Erhalt solcher Konfiserien, Kaffeehausbesuche, Empfang von Gästen zu Hause, Ersteigen der Marmorstufen zu einer Loge im prächtigen Lemberger Opernhaus, Ferien in den Bergen und in Kurorten, Bridgenachmittage, tadellose, weiß behandschuhte Eleganz mit Tuchmantel und feschem Hütchen, wenn sie aus dem Haus ging, das war Lusias Leben.
Doch trotz alledem und trotz ihrer Liebe zu ihrem Dolu war es kein ungetrübtes Glück. Denn während alle, die sie kannten, nach und nach Kinder bekamen, wollte es bei ihnen nicht klappen. Acht lange Jahre hofften sie auf ein Kind, das nicht kam, und als sie die Hoffnung schon fahren ließ, stellte Lusia fest, dass sie schwanger war. Am 6. Dezember 1929 brachte sie einen Sohn zur Welt, der mein Vater Ludwik wurde. Es war eine schwere und gefährliche Geburt, die einen Kaiserschnitt erforderlich machte, und es war ihnen klar, dass sie kein zweites Kind haben würden.
Weil seine Eltern so lange auf ihn gewartet hatten und weil seine Geburt so kompliziert gewesen war, weil er einziges Kind war und bleiben würde, wurde Ludwik ganz besonders gehegt und umsorgt. Er stand immer im Mittelpunkt, er war die Zukunft. Nach Überzeugung seiner Eltern würde er ein herausragender Lwówer Bürger wie sein Vater und sein Großvater und in der nächsten Generation die Geschicke von Finkelstein & Fehl leiten.
In Erwartung dieser Zwangsläufigkeiten erlebte er, was er später als »sehr glückliche und wonnevolle Kindheit« bezeichnete. Außer der Zuwendung seiner Eltern hatte er sein geliebtes Kindermädchen, Monika Nenza, die man bei den Finkelsteins immer als Teta kannte. Und auch das sonstige Personal umschwirrte ihn wie einen kleinen Prinzen.68 Er fand auch dann noch Nachsicht, wenn er sich in die Küche schlich und heimlich die von der Köchin in langwieriger Arbeit hergestellte Füllung aus den Piroggen pulte.
Als Ludwik alt genug war, wurde er an eine Privatschule geschickt. Zwei Fünftel der Schüler waren jüdisch, aber es war eine polnische Schule, was dem Wunsch seiner Eltern entsprach, ihren Sohn zu einem modernen Polen zu erziehen. Auch Hebräischunterricht erhielt Ludwik, allerdings außerhalb des normalen Stundenplans.
Viel später sagte mein Vater, nach seinen Schulfreunden gefragt, es seien hauptsächlich Juden gewesen. Und er fügte hinzu: »Ich hatte Freunde, die ich aus der Schule kannte. Sogar ziemlich viele. Wahrscheinlich haben nur wenige den Krieg überlebt. Ich weiß von keinem einzigen.«69
Eine Kindheitsfreundschaft aber gab es, die den Krieg überstand und für den Rest seines Lebens Bestand hatte. Aldona Paneths Eltern waren mit Dolu und Lusia befreundet und gingen in der Akademicka-Straße ein und aus, oft in Begleitung ihrer Tochter. Allerdings ließen sich Aldonas Eltern scheiden, als das Mädchen noch sehr klein war, und ihre Mutter Jadzia heiratete ein zweites Mal.
Aldonas Stiefvater, Ignacy Schrage, war Major, und Aldona liebte ihn. Er begegnete ihr mit großer Freundlichkeit, sie durfte sogar auf seinem Pferd reiten.70 Auch Ludwik war hingerissen von ihm, seiner Ritterlichkeit, seinen Tapferkeitsmedaillen und seiner Uniform. Major Schrage, der in der schweren Artillerie diente, war Mitstreiter des Helden Piłsudski, hatte an seiner Seite für die Unabhängigkeit Polens gekämpft und war dabei verwundet worden. Dies alles erhöhte seinen Ruhm.
Zu den liebsten Erinnerungen aus Ludwiks Kindheit zählten die Hohen Feiertage – das jüdische Neujahr und Jom Kippur, der Versöhnungstag – in der prächtigen Tempel-Synagoge, wo die progressiven Lemberger Juden unter der riesigen Kuppel beteten. Ludwik liebte die Feierlichkeit der Gottesdienste und war stolz, wenn sein Großvater als besonderer Wohltäter der Synagoge genannt wurde.
Am meisten beeindruckt war der achtjährige Ludwik jedoch von dem vor ihm sitzenden Ignacy, der in seiner Ausgehuniform eine blendende Figur machte und seine Verbundenheit sowohl mit dem Judentum als auch mit Polen stolz unter Beweis stellte. Und so erging es nicht nur Ludwik – die Achtung, in der Ignacy allgemein stand, war nicht zu übersehen.71
Am 27. Mai 1934 hielt der Stadtrat von Lwów, dem Machtzentrum einer Region mit drei Millionen Einwohnern, die erste richtige Wahl seit dem Ende der österreichischen Herrschaft ab.72 Im Wohn- und Geschäftsviertel im Herzen der Stadt war das Ergebnis ein Erdrutsch: Die Kandidaten der »Liste fünf« erhielten 2890 Stimmen und ließen ihre nächsten Rivalen mit lediglich 140 Stimmen weit hinter sich zurück. Und der eine, der die meisten Stimmen auf sich vereinte, war Adolf Finkelstein.73
Seine neue Position an der Spitze des Lwówer Gemeindelebens verdankte Dolu drei Faktoren. Der erste war zweifellos sein Reichtum.
In den Jahren, seitdem er und sein Bruder Finkelstein & Fehl führten, hatte sich der Betrieb dank exklusiver Verträge im Ausbau der Eisenbahn und der Wasserversorgung erheblich vergrößert. Schrauben, Muttern, Nieten, Haken, glatte Rohre, Reparaturschellen, Lkw-Achsen, Eisenbahnschienen, das alles war bei Finkelstein & Fehl erhältlich. Das Unternehmen war bald der einzige Vertreter einer Reihe von Eisenhütten in Galizien, erwarb ein Blechwalzwerk in Oberschlesien und betrieb das Kleinpolnische Rohrzentrum in Lwów.74 Die Expansion der Firma war derart, dass Dolu inzwischen den Spitznamen »Eisenkönig« trug.75
Und dies geschah zu einer Zeit, in der es allgemein mit der Stadt bergauf ging. Seit 1921 gab es die Ostmesse, die einmal im Jahr auf dem Hügel über der Stadt im Stryjskyj-Park stattfand und jährlich an die zweihunderttausend Besucher herbeilockte.76 Durch die Messe gewannen Unternehmen wie Finkelstein & Fehl neue Kundschaft in ganz Europa.
Wohlstand aber war nicht das Einzige, was Dolu die Achtung seiner Gemeinde eintrug. Ein weiterer Grund war sein überaus einnehmendes Wesen. Gut aussehend, mit roter Haarpracht und entsprechendem Schnauzbart, war er belesen, ein fesselnder Gesprächspartner und verstand viel von Kunst. Außerdem war er freundlich, liebenswürdig. Eine seiner Hausangestellten sagte am Ende ihrer achtjährigen Dienstzeit: »Ich habe die ganze Zeit über im Hause des Herrn Finkelstein gewohnt und wurde dort als Familienmitglied betrachtet und behandelt … Er führte ein glückliches Familienleben. Er fand auch immer Zeit nicht nur für seine Angehörigen, sondern auch für alle, die seines Rates und seiner Hilfe bedurften.«77
Und er war tatkräftig. Kaum im Stadtrat, nahm er sogleich die Schaffung und Finanzierung von Hilfsprogrammen für Arbeitslose und ein erfolgreiches Neubauprojekt am Stadtrand für Obdachlose in Angriff.
Mit demselben Engagement unterstützte er zahlreiche kulturelle und humanitäre Einrichtungen, darunter diverse kaufmännische Vereinigungen, in deren Vorstand er saß. Als das Wohnheim für jüdische Studenten – in dem sie nicht nur untergebracht waren, sondern das auch ein Ort für studentisches Gesellschaftsleben und ihre Verbindungen war – wegen allzu vieler Schulden zwangsversteigert werden sollte, schaltete Dolu sich ein.78 Er kümmerte sich darum, eine Summe aufzutreiben, die für die Sicherung des Anwesens ausreichte, schlichtete einen Streit mit dem Wasserversorger, der den Studenten das Wasser abzuschalten drohte, und veranlasste bei einer Fabrik in Białystok die Beschaffung eines Boilers zu einem sehr günstigen Preis. Er war ein Problemlöser.
Ein Artikel, der am 9. März 1935 in der unabhängigen radikalen Wochenzeitung Krzyk erschien, brachte es auf den Punkt. Er schilderte eine ursprünglich geringfügige Unstimmigkeit zwischen dem ersten und dem zweiten Vorsitzenden des Handelsverbands von Lwów, die dermaßen ausartete, dass sie die Existenz des ganzen Verbands bedrohte. Die lange und komplizierte Geschichte endete mit der Bemerkung, dass »zahlreiche Versuche, den Streit zu schlichten, scheiterten«, bis
in den letzten paar Tagen Herr Stadtrat Adolf Finkelstein, eines der seriösesten Mitglieder der Verbandsleitung, eingeschaltet wurde. Er brachte es dahin, dass sich beide Herren beieinander entschuldigten, löste den Vorfall ohne Hinzuziehung der Gerichte und ohne weitere Zerwürfnisse und ermöglichte damit die fortgesetzte und ungehinderte Tätigkeit des Verbands.79
Jahre später schrieb Dolu seiner Frau einen Brief, in dem er ihr von einem Problem ihrer häuslichen Umstände berichtete, das er bereinigt habe: »Ich habe eine Lösung gefunden. Du weißt ja, ich kann Menschen versöhnen.«80
Der dritte Grund für seinen haushohen Sieg bei den Stadtratswahlen war einfacher und weniger auf seine Person bezogen: Er war Jude. Neben Adolf Finkelstein wurden auch Leon Rosenkranz, Moses Reich und Jakob Mund gewählt. Die Politik der Stadt Lwów war weitgehend ethnisch, und in der Gegend, in der es die besten Einzelhandelsimmobilien und Cafés gab, dominierten die Juden.
Dolu und Lusia waren nicht praktizierend. Die Synagoge besuchten sie nur zweimal im Jahr an den Hohen Feiertagen, und sie führten kein koscheres Haus, sondern aßen, wonach ihnen der Sinn stand. Dennoch war besonders Dolu stolz darauf, dass er Jude war, und im polnisch-jüdischen Almanach seiner Zeit hieß es über ihn, er nehme »einen Ehrenplatz in der jüdischen Gesellschaft« ein.81 Für den Stadtrat bewarb er sich ausdrücklich als jüdischer Kandidat, ließ Wahlplakate auf Jiddisch drucken und sah sich als Verteidiger seiner Glaubensgenossen.
Mit Vergnügen erinnerte sich mein Vater an einen positiven Nebeneffekt der Position seines Vaters – die Geschenke, die er bekam, wenn er über den Marktplatz ging:
Die polnische Regierung, die eigentlich den Einfluss jüdischer Geschäfte abstellen oder jedenfalls einschränken wollte, erließ Gesetze, die für zahlreiche Brezelbäcker das Ende ihres Handwerks bedeutet hätten. Mein Vater verteidigte die Brezelbäcker von Lwów, die erfolgreichen jüdischen Brezelbäcker von Lwów. Ich weiß noch, dass mir ständig Brezeln angeboten wurden, weil mein Vater ein großer Held war.82
So wenig wie die Wieners waren Dolu und Lusia Zionisten. Tatsächlich hatte Dolu einige politische Auseinandersetzungen mit den Zionisten wegen seiner Siedlungspläne. Letztere hielten jede Investition in die polnische Infrastruktur für Zeit- und Geldverschwendung; er hingegen war der Meinung, dass es zwar wichtig sei, in Palästina Siedlungen zu errichten, doch werde es immer eine jüdische Gemeinde in Polen geben, und das Schicksal der Polen zu verbessern sei ein ehrenwertes Anliegen – dagegen zu argumentieren sei einfach nur dumm.83
Sein Traum war ein modernes, liberales, multiethnisches Polen, und dieser Traum war mit Marschall Piłsudski verknüpft, auch wenn der kein Liberaler war. Dolu trat den Reservisten bei, was sich als ungeheuer folgenschwere Entscheidung erwies. Finkelstein & Fehl sind unter den ersten Spendern für ein Denkmal, »Vereintes polnisches Land« genannt, ein Symbol ebenjenes Polens, in das Dolu seine Hoffnungen setzte, nicht unähnlich der Freiheitsstatue in den USA.84 Der Plan zerschlug sich, genau wie sein Traum.
Mit anderen Worten, Dolu und Lusia hegten exakt dieselbe Hoffnung wie Alfred und Grete. Sie glaubten, dass die entstehende Identität der aufstrebenden modernen Nation mit ihrer Identität als Juden vereinbar sei, dass Jüdischkeit und modernes Polen zusammengehörten.
Piłsudski war, nach einem Staatsstreich 1926, über dessen Umstände man sich in Polen noch heute nicht einig ist, de facto der Staatschef, auch wenn er das Präsidentenamt ablehnte. Klar ist jedenfalls, dass Piłsudski Polen als ein Land sah, das keineswegs nur den ethnischen Polen vorbehalten sein sollte. Sein erster Ministerpräsident war der mit Dolu und Lusia befreundete Mathematiker Kazimierz Bartel, der sich, mit begrenztem Erfolg, die einer vollständigen Beteiligung der Juden am Leben der Nation entgegenstehenden Hürden aus dem Weg zu räumen bemühte.85
Aus diesem Grund empfanden die Juden Piłsudskis Tod im Mai 1935 in gewisser Weise als Katastrophe. In den achtzehn Monaten zuvor hatte Polen einen Nichtangriffspakt mit Hitler geschlossen, und es gab schon Befürchtungen unter den Juden, was diese Absprache wohl bedeuten mochte. Jetzt war Piłsudski, das Symbol eines Vielvölkerstaates Polen, tot. Jüdische Geschäfte und Fabriken schlossen in Trauer, die jüdische Gemeinde sagte für einen Monat alle Trauungen ab, und in jeder Synagoge brannten Kerzen für den Verstorbenen.86
Und es steht außer Zweifel, dass den polnischen Juden nach Piłsudski das öffentliche Leben schwerer gemacht wurde. Man versuchte Juden von bestimmten Berufen auszuschließen, machte sich für ein Verbot koscherer Schlachtungen stark, erließ kleinliche Gesetze gegen bestimmte Geschäftsmodelle wie den Verkauf von Brezen auf dem Markt, und dazu mussten die Juden ständig fürchten, es könnten mittels einer Verfassungsänderung die Rechte der Minderheiten zurückgenommen werden. Das alles machte ihnen das Leben beschwerlich und besorgniserregend.
Als mein Vater, längst erwachsen, nach seinen Antisemitismuserfahrungen an der Schule gefragt wurde, sagte er erst, es seien eher Sticheleien im Pausenhof gewesen. Auf genauere Nachfrage räumte er ein, ja, einmal habe sich ein Junge »abfällig über Juden geäußert«. Ludwik verfolgte ihn von der Schule nach Hause. Die Verfolgung sei »langsam, aber entschlossen« gewesen, und »ich lief ihm den ganzen Weg hinterher, bis ich ihn hinter seinem Haus schließlich erwischte und auf die Nase haute. Sie blutete.«87
Wer meinen Vater gekannt hat, hätte ihn in der Langsamkeit seiner Verfolgung gleich wiedererkannt. Auch in der Entschlossenheit. Der Rest war, gelinde gesagt, unerwartet.
Die größte Ablehnung schlug den Juden an den Universitäten entgegen. Polnische Studenten von der großen, rechtsgerichteten Nationalpartei fingen damit an, dass sie die Uni an bestimmten Tagen für »judenfrei« erklärten; dann standen sie am Tor und wiesen ihre jüdischen Kommilitonen ab. Die Technische Hochschule von Lwów führte ein Quotensystem ein, das die Höchstzahl jüdischer Studenten auf zehn Prozent pro Fakultät begrenzte, und an der Jan-Kazimierz-Universität verlangten und bekamen die Antisemiten die Einführung sogenannter Ghettobänke für jüdische Studenten: Das waren die letzten beiden Reihen auf der linken Seite des Hörsaals. Viele jüdische Studenten erschienen sicherheitshalber nur gruppenweise zu den Vorlesungen und blieben dann aus Protest stehen.
Diese hässliche Stimmung führte bald zu den ersten Toten; ein jüdischer Student wurde ermordet, dann ein zweiter. Im Frühjahr 1939 wurde Markus Landesberg, Student an der Technischen Hochschule, auf dem Campus totgeprügelt. Seine Beerdigung geriet zur Massendemonstration, zwölftausend schlossen sich der Prozession zum jüdischen Friedhof an, darunter viele ethnische Polen, die ihre Solidarität bekundeten; auch Kazimierz Bartel war unter ihnen.88
Nicht nur aus Anlass seines siebzigjährigen Bestehens, sondern auch wegen der Morde an drei Studenten in jüngster Zeit gab das jüdische Studentenhaus von Lwów ein Gedenkbuch heraus, in dem unter anderem eine Fotografie von Landesberg und ein Artikel von Dolu abgedruckt waren. Unter der Überschrift Nil desperandum (sinngemäß: kein Grund zur Verzweiflung) befasst er sich mit den materiellen und politischen Hürden, die jüdischen Studenten in den Weg gestellt wurden.
Jüdische akademische Jugend! Gebt die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht auf. Unsere Geschichte kennt zahlreiche Beispiele für Zeiten wie diese, in denen wir verfolgt und von Land zu Land vertrieben wurden. Und doch haben wir überlebt! Die Wolken am Himmel bleiben nicht ewig.
Selbst am Nordpol bricht nach sechsmonatiger Nacht der Tag wieder an, und die Sonnenstrahlen scheinen auf die Erde und alles, was auf ihr lebt.
Wenn sie uns Steine vor die Füße werfen, wenn Ihr auf dem Weg zu Euren Zielen Hindernissen begegnet, strengt Euch um Euer selbst und der Menschheit willen an – lasst Euch nicht entmutigen. Verstärkt Eure Bemühungen und beweist, wie Ihr es auch bisher gewohnt wart, dass Arbeit und schöpferische Anstrengung Euer Motto sind und Ihr Euch in diesem Sinne auf den Weg in Euer Leben und hinaus in die Welt macht.
Wir, die ältere jüdische Gesellschaft, versprechen Euch, unseren Studenten, dass wir Euch auch weiterhin beispringen werden … Gemeinsam werden wir für die Gleichberechtigung der jüdischen Gesellschaft und ihrer Jugend und für den freien und unbeschränkten Zugang zu den Quellen des Wissens kämpfen.
Und die Losung, die uns in unserem unbeugsamen Beharren stärkt, lautet:
Nil desperandum!89
Auch Dolu und Lusia gaben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht auf. Sie verzweifelten nicht. Sie hatten sich voll und ganz ihrem Leben in Polen verschrieben. Wenn man das Haus sieht, das sie sich in der Herburtów-Straße bauten, diese hochmoderne, elegante weiße Villa, wundert man sich über ihr unerschütterliches Vertrauen in die Zukunft und fragt sich: Hatten sie keine Vorahnungen?
Aber das hieße, mit unserem heutigen Wissen um ihre Zukunft, zu unterstellen, dass Dolu und Lusia zumindest Zweifel gehabt haben müssten, weil sie, die Zukunft, sich eben als so verheerend und übermächtig erwies. Und es hieße ferner zu unterstellen, dass ihre allfälligen Zweifel, Ängste, Sorgen hätten ausreichen müssen, um sie zu veranlassen, ihr Leben hinzuwerfen und zu gehen. Wohin wären sie gegangen, und vor wem wären sie geflohen? Flucht allein hätte ja nicht gereicht, sie hätten auch den richtigen Fluchtpunkt finden müssen, den richtigen Ort. Und den konnte man nicht wissen, auch wenn man erkannt hätte, dass man ihn brauchte.
Es ist durchaus möglich, diese Zeilen achtzig Jahre nach den Ereignissen zu lesen und tatsächlich nichts von dem Schicksal zu wissen, das den Finkelsteins widerfuhr. Umso verständlicher, dass auch sie selbst nichts ahnten, bevor es geschah.
So kam es, dass Dolu, Lusia und Ludwik von der Akademicka-Straße in das neue Haus an der Herburtów-Straße zogen, um in eine neue Phase ihres Familienlebens einzutreten.
In fast jedem Haus an dieser Straße wohnte eine Person, die eine prominente Rolle im öffentlichen Leben der Stadt spielte, zumal im intellektuellen Leben. Vom Balkon vor Ludwiks Schlafzimmer sah man das Haus Nummer 7, die Villa von Aleksander Mazzucato, der in Lwów eine große Buchhandlung mit Verlag leitete. Ein Stück weiter standen die Häuser des angesehenen Professors für Bauingenieurswesen Adam Kuryłło und des Lehrers Mieczysław Kistryn, des Begründers der Henryk-Jordan-Privatschule. Und in der Nummer 5 wohnte eben jener Kazimierz Bartel, der nach drei Amtszeiten als Ministerpräsident an die Technische Hochschule zurückgekehrt war, mit seiner Frau Maria Bartlowa, die seit 1938 Mitglied des polnischen Senats war.90
Mit anderen Worten, die Herburtów-Straße war das Bollwerk der polnischen Intellektuellen und der Finanzelite, die zu vernichten Josef Stalin und Adolf Hitler sich anschickten.
Moskau, 23. August 1939, gegen Mitternacht. Im Saal wurde es still, als Stalin sprach: »Ich weiß, wie sehr das deutsche Volk seinen Führer liebt. Daher würde ich gern auf seine Gesundheit trinken.«
Die Verhandlungen über den »Nichtangriffspakt«, die der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow mit seinem deutschen Amtskollegen Joachim von Ribbentrop geführt hatte, waren beendet. Das Ergebnis war zur beiderseitigen Zufriedenheit Stalins und Hitlers geraten; Letzterer wartete in Berlin auf die Nachricht. Zur Feier des Anlasses waren die versammelten Nationalsozialisten und Kommunisten mit Krimsekt versorgt worden. »Das geht auf uns«, sagte Molotow.91
Stalin empfahl Hitlers Fotografen, die Bilder davon, wie der sowjetische Diktator und der deutsche Außenminister miteinander anstießen, lieber nicht zu veröffentlichen. Und als Hitler später die Fotos von der Unterzeichnung des Vertrags zu Gesicht bekam, wollte er sie retuschiert haben, damit man nicht sah, dass geraucht wurde, besonders dass Stalin rauchte. Beide Seiten wollten vermeiden, dass die jeweilige Öffentlichkeit das deutsch-sowjetische Abkommen etwa nicht ganz ernst nähme. Auch sollte es als unerlässliches Verteidigungsbündnis gelten – keinesfalls als das, was es in Wahrheit war: ein Pakt mit dem Ziel, zu erobern und zu morden.
In einem geheimen Zusatzprotokoll zu dem sogenannten Nichtangriffspakt vereinbarten Hitler und Stalin, Osteuropa zwischen sich aufzuteilen. Und innerhalb eines Monats waren beide in Polen einmarschiert.
Die beiden Parteien des Abkommens hatten unterschiedliche Beweggründe. Hitler hatte einmal gehofft, die deutsche Ostgrenze mit polnischer Zustimmung zu erweitern, und gegen eine fünfundzwanzigjährige Garantie der neuen Grenzen die Freie Stadt Danzig begehrt, hatte jedoch eine Abfuhr kassiert. Großbritannien hatte daraufhin den Polen im Fall eines deutschen Angriffs Unterstützung zugesichert. Gleichzeitig war Stalin zu dem Schluss gekommen, dass Frankreich und Großbritannien keine tatkräftigen oder verlässlichen Verbündeten für die Sowjetunion wären. Daher begannen beide Diktatoren zu sondieren, was Bolschewiken und Nationalsozialisten trotz offenkundiger politischer Feindschaft voneinander bekommen könnten.
Ihr Verhältnis war weder defensiv noch friedlich. Wie das geheime Zusatzprotokoll zeigt, war der Pakt so konzipiert, dass beide Parteien das Recht hatten, mit stillschweigendem Einverständnis der jeweils anderen einen Angriffs- und Okkupationskrieg zu führen. Verbündet waren die beiden Mächte insofern miteinander, als beide relativ ähnliche Ziele anstrebten – die Expansion ihres jeweiligen Kontroll- und Machtbereichs, und dies zuerst auf Kosten der Republik Polen, die zerschlagen werden sollte.
Ähnlich waren nicht nur ihre militärischen Begehrlichkeiten, sondern, trotz oberflächlicher Differenzen, auch die jeweilige Doktrin. Wie einer der deutschen Unterhändler in Moskau es ausdrückte: »Es gibt ein gemeinsames Element in der Ideologie Deutschlands, Italiens und der Sowjetunion: die Opposition gegen die kapitalistischen Demokratien.«92
Die Faschisten und die Kommunisten waren beide überzeugt, dass die Eliten dem Willen des Volkes entgegenstünden und die Individuen, aus denen sich die Eliten zusammensetzten, mit Gewalt beseitigt werden müssten. Zwar hatten beide ihre speziellen Vorstellungen davon, wer diese Individuen seien, in vieler Hinsicht aber stimmten sie auch überein. So war ein jüdischer Ladenbesitzer den Sowjets deshalb verdächtig, weil er einen Laden besaß, Jude war er nur nebenbei, den Nazis hingegen war er als Jude verdächtig und Ladenbesitzer nur nebenbei. Und beide fassten den Begriff Elite so weit, dass auch meine Mutter und mein Vater darunterfielen, auch wenn beide zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Nichtangriffspakts noch keine zehn Jahre alt waren.
Der Pakt ermöglichte Stalin, Territorium in Besitz zu nehmen, zu dem auch Lwów gehörte, und Hitler erlaubte er, nicht nur in Polen einzumarschieren, sondern auch, sicher vor einem sowjetischen Angriff, in die Niederlande.
Der Molotow-Ribbentrop-Pakt war das wichtigste politische Ereignis im Leben meiner Eltern. Nichts von dem, was folgte, wäre geschehen, hätte es ihn nicht gegeben.