Mum

Eine Kindheit in Amsterdam

Meine liebe Ruth, meine liebe Eva, meine liebe Mirjam,

das war gestern Abend eine große Freude, als Euer Brief ankam! Es war beinahe so, als ob Ihr alle drei zur Tür hereingehopst kommt, und jede sagt was und will was und Mutti kann vor Lärm und Aufregung garnicht alles verstehen. Aber ich habe es doch alles verstanden, und vor allem freue ich mich, dass Ihr gesund und vergnügt seid und soviel Schönes erlebt. Ich kann mir denken, Muzi, wie schön es war, mit dem neuen Gebetbuch mit Tante Nuti zusammen zur Synagoge zu gehen. Und dass Du, Ev, jetzt dabei bist, das Puzzle zu kleben, finde ich fein! Du malst es doch sicher auch noch an in allen möglichen schönen Farben? Schnubri, wie gut, dass Du noch ausgestrichen hast, dass Betty »gek« ist! Sonst hätten wir es am Ende noch geglaubt! …

Grüßt mir Tante Nuti und Onkel Jan. Ich werde ihnen bald schreiben. In meinen Gedanken küsse ich Euch drei, wie wir es morgens immer tun, meine geliebten Hündchen!

Eure Mutti93

Nach allem, was geschehen war – die Jahre des Widerstands gegen den Aufstieg der Nazis, die Begegnung mit Göring, der Nervenzusammenbruch, die Flucht aus Hitlerdeutschland ins neutrale Amsterdam –, und allem, was den Wieners noch bevorstand, gab es zwischen 1933 und 1939 dennoch lange Phasen des Alltags und des Glücks.

Jahre, in denen Alfred und Grete zur Kur in die Schweiz reisten, die Töchter bei ihrem Kindermädchen Betty Lewin zurückließen und ihnen liebevolle Briefe schrieben, in denen sie auf typische Gewohnheiten und Hobbys jeder Einzelnen eingingen. Bei Ruth, der Ältesten, waren es die Freude am Lernen und ihre Verbundenheit mit der Synagoge und dem Hebräischen; bei der mittleren Tochter Eva die künstlerische Veranlagung und die Begeisterung fürs Malen und Basteln, und bei der Jüngsten, meiner Mutter Mirjam, dem Nesthäkchen, der Schalk – der sich natürlich in Grenzen hielt.

Jahre, in denen sie als Großfamilie lebten. Gretes geliebte Schwester Trude (die Kinder nannten sie Tante Nuti) wohnte mit Jan und dem kleinen Sohn Fritz ganz in der Nähe, und die drei gingen bei den Wieners ein und aus. Alfreds Mutter wohnte bis 1938 (sie starb eines natürlichen Todes) in der Wohnung über ihnen und pflegte von oben Naschwaren herunterzuwerfen, die dann die Mädchen, sehr zu Gretes Missfallen, im Garten aufsammelten. Wenn Großmutter nicht Konfekt verteilte, betete sie viel. Ihre Religiosität und ihre Erscheinung im bodenlangen schwarzen Kleid, wenn sie mit dem Gebetbuch in der Hand in der Wohnung hin und her ging, machten ihren Enkelinnen fast so viel Eindruck wie die Naschereien.94

Jahre, in denen die Familie im Süden Amsterdams wohnte, fernab des traditionellen jüdischen Bezirks in der Innenstadt. Sie waren in die Rivierenbuurt gezogen, das neue, moderne Stadtviertel, das auch von anderen deutschjüdischen Flüchtlingen geschätzt wurde, etwa von Otto und Edith Frank, die mit ihren Töchtern Margot und Anne hier lebten. Mit der Zeit nahm die Gegend den Charakter ihrer neuen Bewohner an. Die Haupteinkaufsstraße, eigentlich Beethovenstraat, hieß bald Brede Joodenstraat, »Breite Judenstraße«.95

Auf der Terrasse des Café de Paris in der Beethovenstraat 9 konnten sich die Wieners mit anderen Einwanderern treffen; im Tabakladen L. de Leeuw in Nummer 6 kaufte Alfred seine Zigarren (Louis de Leeuw, gestorben 1942 in Auschwitz); in Nummer 58 kauften Betty und Grete Gemüse (Samuel Polak, gestorben 1942 in Auschwitz) und das Fleisch bei Popplesdorf-Druijf, Nummer 82 (Juda Poppelsdorf und Estherina Druijf, gestorben 1944 in Auschwitz); das Geflügel bei Bamberger in Nummer 37 (Hartog Bamberger, gestorben 1944 in Auschwitz), und die ganze Familie liebte Kaffeehaus und Backwaren – eingeschlossen deutsche Spezialitäten wie Nuss- und Quarktaschen – von Delicia in Nummer 55 (Leo und Lina Pollack, gestorben 1943 in Auschwitz).96

Die Wohnung der Wieners war in der Jan van Eijckstraat 16, nicht weit von deren Einmündung in die Beethovenstraat. Es war ein klassisches Amsterdamer Haus mit engen, steilen Stiegen; die Wieners hatten die Räume im Erdgeschoss und im ersten Stock. Die Nummer 16 war, als Alfred und Grete einzogen, relativ neu, erst fünf Jahre zuvor errichtet, innen aber war es gar nicht modern. Die altmodische Einrichtung entsprach sowohl Alfreds Verbundenheit mit deutscher Kultur als auch seinem intellektuellen Interesse am Orient. 1934 konnten Juden noch mit sämtlichem Hab und Gut aus Deutschland ausreisen, und das hatten die Wieners getan. Folglich waren ihre Möbel dieselben wie in Charlottenburg, gediegen und dunkel und zu groß für die Räume, und zudem mussten sie mit Alfreds Kollektion orientalischer Teppiche und Antiquitäten, die er von seinen Reisen in den Nahen Osten mitgebracht hatte, um den knapp bemessenen Platz konkurrieren. Die Mädchen hatten ihr Zuhause als beengt und überfüllt in Erinnerung.

Das lag natürlich nicht nur an den Möbeln, sondern auch, wie immer, an den Büchern. Überall, wo Alfred lebte oder arbeitete, war er umringt von Büchern, und das nicht in normalen Durchschnittsleser-Mengen. Bei ihm reihten sich die Bücher in dicht gefüllten Regalen bis unter die Decke, stapelten sich gebirgig auf Tischen, lagen auf den Armlehnen jedes Sessels und zu Füßen derjenigen, die sich darin niederließen. »Bücher, Bücher und wieder Bücher«, kommentierte Ruth.97

Im Erdgeschoss waren, außer der Küche, ein freundliches Esszimmer, das einer großen Familie ausreichend Platz bot, wenn sie zu festlichen Anlässen zusammenkam, und ein großes Wohnzimmer, das Alfred und Grete zugleich als Arbeitszimmer diente. Die beiden Schreibtische standen einander gegenüber, eine Illustration der Rolle, die Grete für Alfreds Arbeit spielte – Beraterin, Sekretärin, Gefährtin.

Oben teilten sich die drei Mädchen ein großes Zimmer, auf dessen einer Seite das Schlafzimmer von Alfred und Grete lag, während Betty, die Haushaltshilfe, im Zimmer gegenüber wohnte.

Und es gab ein Gästezimmer. Denn es kamen häufig Leute, auch wenn die Mädchen oft nicht so recht wussten, wer diese Gäste waren.

Im späteren Leben betonten die drei Schwestern stets, wie glücklich sie in jenen Amsterdamer Jahren waren. Voller Zuneigung erzählten sie von ihrer Großmutter und von Betty, auch wenn die recht streng sein konnte. Ihren Vater himmelten sie an, doch ihre größte Bewunderung und Liebe galt ihrer Mutter. Grete war ein ganz besonderer Mensch, das hatten sie schon in früher Kindheit gespürt. Weich und fürsorglich und herzlich, zugleich aber mit hoher Menschenkenntnis und Verständnis für die Welt begabt. So nachhaltig der Eindruck war, den Alfred in jeder Gesellschaft hinterließ – die Atmosphäre im Haus bestimmte sie.

Das Wesen dieses Familienlebens, dazu Gretes Einfühlsamkeit, veranschaulichen Ruths zwei Poesiealben, in die sich deutsche und holländische Kinder von Schulkameraden, aber auch von Angehörigen Gedichte und Sinnsprüche schreiben ließen.98

Da gibt es die üblichen Einträge von Mitschülerinnen und Nachbarskindern, fast alle auf Holländisch; so schrieb zum Beispiel die zehnjährige Dorothee Miloslawski, die ein paar Häuser weiter, in Nummer 24 wohnte: »Liebe Ruth, sei ein Sonnenstrahl für jedermann, freundlich und wahrhaftig, und das Leben wird Dir nur Gutes bringen.« Oder dies: »Liebe Ruth, Meilen des Segens, Hektometer Freude, Stere guter Tage mit Hektaren Tugend, nicht einen Millimeter Leid, nicht ein Pfund Sorge wünscht Dir hier, meine liebe Ruth, Deine Schulfreundin Jacqueline van Maarsen.« Jacqueline wurde später bekannt als Anne Franks »beste Freundin« und die Person, der Anne mehrere Abschiedsbriefe schrieb.99

Die Einträge der Erwachsenen in Ruths Poesiealbum sind bezeichnend: Alfred schreibt auf Hebräisch und setzt darunter die deutsche Übersetzung. »Wer ist ein Held? Wer seine Leidenschaften bezwingt! Meiner lieben Ruth zur Mahnung.« Das Zitat stammt aus Pirkej Awot, Sprüche der Väter, dem Talmudtraktat mit rabbinischen Lehren, der ohne halbwegs umfangreiches Studium der Religionsliteratur kaum bekannt sein dürfte. Es ist eine recht feierliche Beschwörung – keine Ermutigung für ein junges Mädchen, wie sie die pflichtbewusste Ruth aber ohnehin nicht gebraucht hätte.

Grete ist sanftmütiger, aber nicht weniger intellektuell in der Wahl der Worte – die ja ein Eintrag ins Poesiealbum einer Zehnjährigen waren:

Edel sei der Mensch,

Hilfreich und gut!

Denn das allein

Unterscheidet ihn

Von allen Wesen,

Die wir kennen,100

schreibt sie, die ersten Zeilen von Goethes Gedicht »Das Göttliche« (1783) zitierend. Vielleicht in der Erkenntnis, dass das Goethe-Zitat womöglich noch zu hoch ist, setzt sie darunter:

Mein liebes Kind! Dies ist nur der Beginn eines Gedichts, das Du erst in einigen Jahren verstehen wirst. Ich schreibe es Dir in Dein Album, weil ich es sehr liebe und weil ich hoffe, dass die Kraft, Schönheit und Größe dieser Worte Deiner Seele Kraft, Schönheit und Größe geben.

Bei der Wahl der Schule für die Mädchen war es Gretes Meinung, die am stärksten ins Gewicht fiel. Zugegeben, die Montessori-Grundschule in der Corellistraat war zu Fuß keine fünf Minuten entfernt und allein aus diesem Grund attraktiv. Ihre Fortschrittlichkeit aber entsprach eben mehr Gretes Geschmack als den traditionelleren Vorlieben Alfreds. »Modern und ein bisschen anarchisch«, beschrieb eine Zeitgenossin Mirjams die Schule.101 Die Kinder durften dort frei über ihre Zeit bestimmen und erarbeiteten sich Themen in Eigenregie. Das Heft, das sie mit ihren Ergebnissen füllten, sah sich die Lehrerin jeden Tag an, um steuernd einzugreifen, wenn ein Kind sich von einem Thema gar nicht mehr trennen konnte, oder behutsam anzuschieben, wenn eines zu sehr hinterherhinkte.

Es ist keine Universalmethode und nicht für jedes Kind passend, aber wenn sie passt, lernt es außer dem Schulstoff etwas sehr Wertvolles: das eigenständige Arbeiten. Es kam der Tag, an dem sich diese Selbstständigkeit für die drei Schwestern als mindestens so nützlich erwies wie der Lehrstoff aus den Büchern. Grete besuchte die Elternabende meist ohne Alfred und bekam immer viel Gutes über ihre Töchter zu hören.102 Alle drei waren recht fleißig.

Die Montessorischule hatte einen weiteren Vorteil. Ein außerplanmäßiger freier Tag, den die Mädchen wegen eines jüdischen Feiertags hin und wieder brauchten, war kein Problem, weil es keine festen Stundenpläne gab und keine Lektionen wiederholt werden mussten. Mag sein, dass dies ein Grund war, weshalb die Montessorischulen bei den deutschjüdischen Flüchtlingen in Amsterdam-Zuid so viel Zuspruch fanden, hauptsächlich aber dürfte die Beliebtheit darin begründet gewesen sein, dass sie säkulare Schulen waren und Juden fraglos aufnahmen. Margot und Anne Frank waren ebenfalls Montessorischülerinnen, allerdings besuchten sie einen anderen Zweig.

Zu dem berühmten Foto von Anne Frank, auf dem sie mit dem Stift in der Hand im Klassenzimmer an ihrem Pult sitzt, gibt es eine exakte Entsprechung von meiner Mutter: derselbe Hintergrund, dieselbe Haltung, derselbe Fotograf, sehr ähnliche Kindheit.

Und auch dieselbe Synagoge.

Die Wieners gehörten – auch das war Gretes Entscheidung, die Alfred mittrug – der Liberaalen Joodse Gemeente an, der Synagoge, deren Mitbegründer Otto Frank war, nachdem er mit seiner Familie von Frankfurt nach Amsterdam geflohen war. Deutsche Flüchtlinge wie die Franks und die Wieners erweiterten die progressive jüdische Bewegung in Holland und machten sie etwas konservativer, als sie in anderen Ländern war. Grete begrüßte den herrschenden liberalen Geist; Ruth und ihren Schwestern gefielen die Orgelmusik und der junge Rabbiner Jacob Mehler; und Alfred fand es tröstlich, dass hier speziell deutsche Juden zusammenkamen. Dass die Gemeinde andererseits kein eigenes Gebäude hatte und in diversen Hallen kampierte, bis sie sich schließlich bei der Theosophischen Gesellschaft einmietete, führt uns wieder vor Augen, dass sie, so grundbürgerlich sie auch gewesen sein mochte, eine Gemeinschaft von Flüchtlingen war.103

Aus der Heimat vertrieben und auf die seelische und materielle Unterstützung anderer Exilanten angewiesen, schöpften die Wieners aus ihrem Judentum ein Gefühl von Kontinuität, Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit.

Jeden Freitagabend füllte sich das Esszimmer in der Jan van Eijckstraat 16 mit Angehörigen der Großfamilie, um den Schabbat einzuleiten. Die Kerzen wurden angezündet, Alfred ging um den Tisch und segnete jedes seiner Kinder, weitere Segnungen wurden über den Wein und die geflochtenen Challa-Brote gesprochen, dann aß man miteinander. Für die Zubereitung der Speisen war Grete zuständig, gelegentlich mit etwas Hilfe von Betty, meist gab es Hühnersuppe mit Matzeknödeln (manchmal mit Petersilie und einer Prise Zucker gewürzt), danach Brathähnchen und zum Dessert vielleicht Mandeltorte oder Obststreuselkuchen.

Die Stimmung war fröhlich, gastlich, behaglich. Es war fast so, als wäre alles ganz normal.

 

Für die Kinder mag es normal gewesen sein. Sie hatten ihre Schulfreundinnen, Schwimmunterricht, Spiele im Garten, bis sie einander in die Haare gerieten, ins Haus rannten und von Grete den Streit schlichten ließen. Für die Erwachsenen aber war es eine alles in allem beunruhigende Zeit.

Die Besucher, die im Gästezimmer nächtigten oder manchmal am Freitagabend dazustießen, gehörten zu der anschwellenden Flut deutscher Juden, die vor der immer schärferen Repression in der Heimat flohen, um sich entweder im neutralen Holland niederzulassen oder von hier aus zu einer längeren Reise in eine sichere Zuflucht aufzubrechen.

Ruth und Mirjam sprachen später von ihrer Zuneigung gegenüber den Holländern und versicherten, sie hätten keinerlei Vorurteil gegenüber Juden erlebt, und es besteht kein Grund, an ihrer Erinnerung zu zweifeln. Aber so einfach ist die Geschichte der niederländischen Haltung gegenüber den Juden nicht.

Nach dem Krieg wurde viel über die Mittäterschaft der Niederländer debattiert. Was war charakteristischer – die einen, die Juden versteckten, oder die anderen, die sie den Behörden meldeten? Die Polizisten, die Suchtrupps bildeten und Kopfprämien für aufgestöberte Juden kassierten, oder die anderen, die sich verweigerten? Die Institutionen, die sich der NS-Gesetzgebung widersetzten, oder jene, die kurzerhand kooperierten?

Die Diskussion betrifft allerdings die Ereignisse nach Beginn der deutschen Besatzung. Ein anderes Thema ist der niederländische Leumund in der Vorkriegszeit, während der halkyonischen Tage in der frühen Jugend meiner Mutter.

Bis 1938 brauchten Deutsche nicht einmal ein Einreisevisum für die Niederlande, und das Land war mit seiner Nähe und Neutralität ein verlockendes Ziel für Juden. Doch die holländischen Behörden sahen die neuen Immigranten mit wachsender Besorgnis. Nicht nur, weil es Juden waren, sondern auch wegen der Kosten. Es kamen Leute, die keine Unterkunft hatten, keine Arbeit, kein Geld. Wer sollte für ihren Unterhalt aufkommen?

Die Antwort war einfach. Holländische Juden.

Der von den Nationalsozialisten angezettelte Boykott jüdischer Geschäfte ab April 1933 hatte die Juden in aller Welt wachgerüttelt, und in Holland veranlasste er die jüdische Gemeinde, eine konzertierte Aktion zur Unterstützung der eingewanderten Flüchtlinge zu starten. Tonangebend in den neu geschaffenen Ausschüssen war David Cohen, Althistoriker an der Universität und prominenter Vertreter des jüdischen Establishments.

Der Historiker Bernard Wasserstein beschreibt Cohen als »zurückhaltend, liebenswürdig und arbeitsam, aber auch eitel und fantasielos«.104 Diese Einschätzung – der wohl wenige widersprächen – entstammt einer Biografie über Gertrude van Tijn, die zweite führende Persönlichkeit bei der holländisch-jüdischen Flüchtlingshilfe. Über sie sagt er: »Bei Gertrude war eine gewisse Herablassung gegenüber den Flüchtlingen im Allgemeinen festzustellen … dennoch schimmerte stets ihr grundsätzliches Wohlwollen durch.«105

Nach dem Krieg wurden beide, Cohen und van Tijn, kritisch gesehen, insbesondere Cohen. Inwieweit war es angemessen, wenn ein Jude mit den Behörden kooperierte, erst mit den niederländischen und später, moralisch weitaus schwieriger, mit den NS-Besatzern? Viele meinten, diese Form der Zusammenarbeit sei sehr nahe an der Kollaboration gewesen. Beide, Cohen und van Tijn, spielten eine signifikante Rolle im Leben der Wieners. Und eine eindeutiger positive.

Die neuen Ausschüsse versicherten der niederländischen Regierung, dass die Neuankömmlinge keine Belastung für den Staatshaushalt wären. Die jüdische Gemeinde werde für ihren Unterhalt aufkommen. Grete beteiligte sich aktiv an der Unterstützung und war eine unermüdliche und enge Vertraute van Tijns, wenn es darum ging, Suppenküchen einzurichten, Kleiderspenden zu organisieren, Lebensmittel zu verteilen. Sie suchten Unterkünfte für obdachlose Familien, und wenn jemand mittellos war, übernahmen sie die Miete. Sie organisierten Berufsausbildung und Sprachunterricht für jene, die bleiben wollten, und für andere – woraus ihnen später ein Strick gedreht wurde – agierten sie als eine Art Reiseagentur; sie redeten Neuankömmlingen zu, wieder abzureisen, und erleichterten ihnen die Abreise.

Alle jüdischen Gemeinden in Europa waren mehr oder weniger in der gleichen Lage. Alle kamen mit der finanziellen Belastung schwer zurecht und standen unter dem gleichen Druck seitens ablehnender Nationen, die nicht wollten, dass sich ihr Land mit deutschen Juden füllte. Folglich war jede jüdische Gemeinde, etwa die holländische und die britische, nach Kräften bemüht, andere Gemeinden zu überreden, dass sie ihre Flüchtlinge behielten. Noch schwieriger wurde es, nachdem die niederländische Regierung Arbeitsbeschränkungen zu erlassen begann; am Ende kauften die Ausschüsse Fahrkarten und setzten Flüchtlinge in den Zug zurück nach Deutschland.

David Cohen behauptete, das sei nur geschehen, wenn »es gefahrlos möglich war«.106 Mitte der 1930er Jahre konnte Alfred sie mit Fug und Recht warnen, dass es schon nicht mehr gefahrlos möglich war.

 

Denn auch in einer anderen Hinsicht war das Leben in der Jan van Eijckstraat durchaus nicht normal, nämlich insofern, als man in dieser Zeit, den Jahren zwischen dem Aufstieg der Nationalsozialisten und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, in den dritten Stock des Hauses meiner Großeltern hinauf- und den Flur entlangging und im weltweit wichtigsten – genauer: dem weltweit einzigen – Zentrum der Antinazi-Propaganda und Forschung stand.107

Nach den verheerenden Begegnungen mit Göring, der Flucht aus Berlin und dem Nervenzusammenbruch hatte Alfred neuen Halt gefunden und die Arbeit wiederaufgenommen. Noch immer hatte er sein Köfferchen bei sich, dazu eine oder zwei weitere Kisten mit Material aus seinem Berliner Archiv, und anfangs arbeitete er von einem kleinen Amsterdamer Hotel aus, wo er sich ein Zimmer mietete. Doch im Sommer 1934 hatte er die Privatbibliothek – und natürlich die Familie – wieder bei sich und richtete sich direkt nebenan ein Büro ein: Er ließ die Wand zum Nebenhaus, der Nummer 14, durchbrechen und konnte jetzt von der Wohnung der Familie ohne Umweg über die Straße zu seinem Arbeitsplatz hinübergehen. Dort ging er daran, seine Sammlung wiederherzustellen, indem er nach und nach den Großteil des auf Görings Anweisung hin vernichteten Materials ersetzte. Und dabei kam natürlich auch immer neues hinzu.

Die Finanzierung dieser Tätigkeit – die niemals üppig war, am Ende aber für etwa ein halbes Dutzend Mitarbeiter reichte, gelegentlich sogar etwas mehr – war ursprünglich ein Ergebnis der Lobbyarbeit von David Cohen. Auf einer Konferenz in London im Herbst 1933, zu der vierundvierzig jüdische Organisationen aus ganz Europa und den USA angereist waren, um über die Flüchtlingskrise zu diskutieren, hatte Cohen den Teilnehmern klargemacht, dass es eine Zentralstelle zur Bekämpfung der Nazipropaganda brauchte und von allen gemeinsam unterstützt werden musste. Er präsentierte die Idee eines »Jewish Central Information Office«, einer Jüdischen Informationszentrale, als sei sie ihm in dem Moment eingefallen, tatsächlich aber hatte er den Plan im Voraus mit Alfred ausgeheckt.

Was in der Jan van Eijckstraat vor sich ging, musste möglichst geheim bleiben. Der Name des Büros stand auf keinem Schild am Hauseingang; die Identität der Redakteure und Mitarbeiter war nicht öffentlich bekannt, so wenig wie die Adresse des Büros in den Publikationen genannt war: Alle Schriften erschienen ohne Impressum. Hätte die niederländische Regierung erfahren, dass Amsterdam ein Zentrum des Widerstands gegen die Nationalsozialisten beherbergte, hätte sie ihm aus Furcht, die Nachbarn mit der Existenz einer jüdischen Informationszentrale gegen sich aufzubringen und damit letztlich die Neutralität des Landes zu untergraben, zweifellos einen Riegel vorgeschoben.

Die niederländischen Behörden waren, auch ohne genau zu wissen, was Alfred und seine Mitarbeiter eigentlich trieben, lästig genug und schikanierten die dort beschäftigten deutschen Staatsangehörigen wegen deren fehlender Arbeitsgenehmigung für Amsterdam.

Wie schon in Berlin diente die Geheimhaltung darüber hinaus dem Schutz der Quellen. Nach Alfreds Meinung war die Wahrheit über die Nazis nicht nur aus jenen deutschen Zeitungen zu erfahren, die international im Umlauf waren, weshalb er eifrig auch Provinzblätter und Parteizeitungen sammelte, etwa das SS-Blatt Das Schwarze Korps und die wöchentlich erscheinende Die HJ – das Kampfblatt der Hitler-Jugend. Auch Alltagserscheinungen wie Nazi-Brettspiele hielt er für bedeutsam und führte gewissenhaft Buch über die Aushänge an deutschen Geschäften und öffentlichen Einrichtungen, die Juden den Zutritt verboten.

Und er sammelte Telefonbücher von Städten mit nennenswerter jüdischer Bevölkerung. Nach dem Krieg waren Telefonbücher oft der einzige Nachweis, dass eine Familie existiert hatte, und damit eine wichtige Quelle, um Holocaust-Opfer zuzuordnen und Entschädigungsforderungen zu untermauern. Neben vielen anderen besaß Alfred das Wiener Telefonbuch von 1938, in dem Sigmund Freud eingetragen war – mitsamt dem Vermerk, der Herr Professor wünsche in den Nachmittagsstunden nicht gestört zu werden.108

Ein Großteil des Materials musste von geheimen Agenten beschafft werden, die noch in NS-Deutschland lebten. Später erklärte Alfred: »Dass Amsterdam nur fünf Stunden von der deutschen Grenze entfernt war, versetzte mutige Männer und Frauen in Deutschland in die Lage, auf Umwegen und unter abenteuerlichen Umständen solche Berichte und Dokumente zu transportieren, die über normale Kanäle niemals aus Deutschland herausgekommen wären.«109

Alfreds verschwiegene, ja verschlossene Art, die er sich in Berlin zugelegt hatte, wurde ihm in seiner Zeit in Holland zur zweiten Natur. Seine Kollegen klagten oft darüber, sie wüssten nie genau, was er eigentlich vorhätte. Er hatte eine bunt gemischte Truppe um sich geschart – Exilanten aus dem Spanischen Bürgerkrieg und Berliner Aktuare, Personen mit aristokratischem Gebaren Seite an Seite mit dem geradezu karikaturesken Archetyp des preußischen Beamten, Journalisten mit vielfältigen Sprachkenntnissen und solche, deren verstümmeltes Holländisch schwer zu verstehen und deren Übersetzungen ins Englische und Französische stümperhaft waren. Sie alle drängten sich in dem kleinen Raum voller Papiere und Rauch von einer Unmenge Zigaretten und Zigarren.110

Für seine Mitarbeiter war Alfred, wie sein langjähriger Kollege und späterer Stellvertreter Caesar Aronsfeld sagte, »ein Getriebener« und »unverkennbar der Chef«.111 Mit Sicherheit peitschte er seine Mitarbeiter genauso wie sich selbst an, nämlich gnadenlos, und er konnte sehr förmlich und distanziert sein. Nach fast zwanzigjähriger Bekanntschaft und zahlreichen gemeinsamen Abenteuern adressierte Alfred seine Aktenvermerke nach wie vor an »Herrn Aronsfeld« und »Mr Aronsfeld« und unterzeichnete sie mit »Wiener«. Aber wer mit ihm zusammenarbeitete, kannte auch seinen Humor und seine Herzlichkeit. Und niemand war im Zweifel über die Dringlichkeit und Bedeutung der Aufgabe, die er sich und seinen Mitarbeitern gestellt hatte.

Dasselbe galt für seine Familie. Eine der prägendsten Erinnerungen der drei Schwestern an ihre Kindheit ist, dass der Vater immerzu arbeitete und kaum je zu Hause war. Es bedrückte sie zwar, doch spürten sie schon in sehr jungen Jahren, wie bedeutsam seine Tätigkeit war, und beklagten sich kaum.

Alfred war ein emsiger Briefschreiber, insbesondere korrespondierte er mit Journalisten und anderen Intellektuellen und Exilierten, doch seine bevorzugte Kommunikationsform waren das persönliche Treffen und der mündliche Austausch. Die Empfänger von JCIO-Berichten oder eines Briefes von ihm erwarteten wohl auch seinen Besuch, und es gab kaum eine jüdische Organisation oder NS-Widerstandsgruppe in Europa, die sich eine Begegnung mit Alfred und seinem Köfferchen entgehen ließ.

Ende der 1930er Jahre hatte das JCIO rund zehntausend Bücher und eine unüberschaubare Zahl gebundener und nicht gebundener Zeitungen und Presseausschnitte zusammengetragen, dazu Informationen über Treffen von Nationalsozialisten weltweit und faschistische Publikationen von allen Kontinenten, schlicht alles, was den Mitarbeitern in die Hände geriet und Aufschluss gab über den Aufstieg des Faschismus und die Gefahr für Minderheiten überall, wo er sich durchsetzte.

Das zusammengetragene Material beschränkte sich nicht auf die Juden als Zielgruppe. Alfred sah seine Arbeit als Kampf gegen Rassismus, der alle unterdrückten Minderheiten betraf, und als Einsatz für die Universalität der Menschenrechte.

Er wolle, sagte er, »den Verleumdungen der Nationalsozialisten und Dr. Goebbels’ Versuchen, die Meinung der Welt zu vergiften, entgegentreten … Wir waren Soldaten im Kampf wie alle anderen, doch waren unsere Waffen Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Dokumente aller Art, die das Nazitum als Gefahr nicht nur für Juden, sondern für die Sache der Demokratie in der ganzen Welt entlarvten.«112

Die Amsterdamer Informationszentrale leitete Berichte an jüdische Organisationen, an Aktionsgruppen für Menschenrechte, Journalisten und Regierungen überall auf der Welt und lieferte sachliche Information über NS-Aktivitäten – Reden von Goebbels, die jüngsten Unverschämtheiten und Verleumdungen in der Wochenzeitung Der Stürmer, den neuesten absurden und toxischen Beitrag »wissenschaftlicher Forschung« über die »Fremdartigkeit« der Juden und so weiter. Kommentare beschränkten sich auf ein Minimum – das Material sprach für sich.

Vielsagend war auch die Auswahl des Materials. Im August 1935 zum Beispiel verbreitete das JCIO einen Artikel aus der Amsterdamer Tageszeitung De Telegraaf, der fragte: »Was tun die nicht-deutschen Länder? Dass ein Politiker eines zivilisierten Landes sich auf lange Sicht nicht verpflichtet fühlte, den Verfolgten zu helfen, ist undenkbar.«113

David Cohen mochte deutschen Juden noch versichern, sie könnten unbehelligt nach Deutschland zurückkehren, Alfred wies zu dem Zeitpunkt schon die Welt auf die Gefahr hin, in der sie schwebten.

Und er griff zu jeder Waffe, um der Wahrheit Geltung zu verschaffen.

Die Wahrheit vor Gericht

An einem Morgen im Juli 1933 begann Georges Brunschvig, wie jeden Tag, mit seiner Tagesroutine. Er schaute bei seinen Eltern vorbei, trank dort eine Tasse Kaffee und notierte sich die Besorgungen, die er für sie erledigen wollte, bevor sein Arbeitstag in seiner Anwaltskanzlei begann.114

Während er in der Apotheke auf die Zubereitung der Medizin für seine Mutter wartete, kam er mit dem Apotheker ins Gespräch, der ein Freund der Familie war. Ob Georges von der Großveranstaltung der Schweizer Rechtsnationalen im Berner Casino gehört habe? Ja. Gut, dann müsse er wissen, dass die Schweizer jüdische Gemeinde zum Handeln entschlossen sei. Georges sei doch Anwalt, vielleicht könne er helfen.

Diese Massenversammlung von Faschisten in der Schweizer Hauptstadt sei generell ein Ärgernis, erklärte der Apotheker, es gebe aber noch ein besonderes Ärgernis, und dagegen könne und müsse man konkrete Maßnahmen ergreifen.

Die Veranstalter hätten dort eine Schrift verteilt, die sich Die Protokolle der Weisen von Zion nenne, und über Lautsprecher Ausschnitte daraus vorgelesen, um die Leute aufzupeitschen. Dieses Machwerk sei eine antisemitische Verschwörungstheorie, und die Berner Juden hätten genug von diesem Pamphlet und den Lügen, die es verbreite. Vielleicht könne man rechtlich gegen die Herausgeber vorgehen, und vielleicht sei Georges genau der richtige Mann dafür. Ob er Interesse habe?

Das Angebot war kein reines Kompliment. Ja, der Apotheker mochte den jungen Anwalt, er hielt ihn für kompetent und tüchtig, wusste aber auch, dass ein Gerichtsverfahren ein ziemlich spekulatives Unterfangen wäre. Und er war sich auch bewusst, dass der fünfundzwanzigjährige Georges am Beginn seiner Laufbahn das Mandat vielleicht dringend genug brauchte, um es anzunehmen.

Er vermutete richtig. Georges war zu idealistisch und zu erpicht auf die Herausforderung, um ablehnen zu können.

Außerdem meinte er bereits zu wissen, wie vorzugehen wäre. 1916 hatte die Schweizer Hauptstadt das »bernische Gesetz über das Lichtspielwesen und Massnahmen gegen die Schundliteratur« verabschiedet. Dahinter stand natürlich der Wille, gegen Pornografie vorzugehen, aber eine klare Definition, was unter »Schundliteratur« genau zu verstehen sei, fehlte. Folglich wäre vielleicht ein Richter zu überzeugen, die Protokolle als »politische Schundliteratur« anzusehen. Und selbst wenn er letztlich entschiede, dass politischer Schund nicht unter dieses Gesetz falle, bekäme die jüdische Gemeinde dennoch Gelegenheit zu beweisen, dass das Dokument eine Fälschung sei. Eine folgenreiche Fälschung.

Georges nahm das Mandat also an und legte sich seine Strategie zurecht. Beim Bezirksgericht Bern reichte er Klage ein und nannte als Beklagte eine Reihe von Personen, die als Herausgeber der Protokolle firmierten beziehungsweise für deren Vertrieb verantwortlich waren. Und so begann der sogenannte Berner Prozess wegen Verstoßes gegen das genannte Gesetz von 1916 durch die Protokolle, ein Strafverfahren, das die renommierte Juristin und Richterin Hadassa Ben-Itto als »einen der wichtigsten Prozesse des 20. Jahrhunderts«115 bezeichnete, und ein britischer Lord Oberrichter meinte dazu, es sei zweifellos »eines der faszinierendsten Verfahren [gewesen], die je stattgefunden haben«.116

Eine Woche später saß Brunschvig mit seinen Mandanten zusammen, den Klägern vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund und der Israelitischen Kultusgemeinde Bern – dem »engsten Kreise«, wie Ben-Itto sie in ihrem Buch »Die Protokolle der Weisen von Zion«: Anatomie einer Fälschung genannt hat, das die wichtigste historische Darstellung des Prozesses ist.

Zu diesem engsten Kreis zählte neben Georges Brunschvig die eine Person mit ausreichender Kenntnis der Protokolle, um als Sachverständiger für das Verfahren fungieren zu können, Dr. Alfred Wiener.

Wie schon in seiner Berliner Zeit spielten Gerichtsverfahren für Alfred eine Hauptrolle bei seinem Einsatz im jüdischen Widerstand. 1936 zum Beispiel wurde der Fall des jungen David Frankfurter verhandelt, der den Leiter der Schweizer Auslandsorganisation der NSDAP, Wilhelm Gustloff, ermordet hatte. Um ein möglichst breites Publikum für seine Sache einzunehmen, suchte Frankfurters Verteidigung auch Alfreds Unterstützung. Ein Reporter schrieb dazu: »Wenn die Verhandlung des Tages zu Ende war, traf man sich im Dunkel der Winternacht in einem abgelegenen Teil von Chur in einem kleinen Büro, wo man einem Mann namens Alfred Wiener half, Berichte und Pamphlete über den Prozess und die Nazi-Intrigen zu veröffentlichen und in alle Welt hinauszusenden.«117

Der Berner Prozess war jedenfalls das bei Weitem bekannteste und bedeutendste Gerichtsverfahren, bei dem Alfred mitgearbeitet hatte. Und das zeitaufwendigste. Wegen zahlreicher Vertagungen und einer Revision zog es sich über Jahre hin, und wenn meine Mutter und ihre Schwestern in den Amsterdamer Jahren nach dem Vater fragten, war er meist in der Schweiz, wo er dem Berner Prozess gegen die Herausgeber der Protokolle beiwohnte.

Die Zeit war gut investiert, denn Alfred war überzeugt, dass die Protokolle eine zentrale Rolle beim Aufstieg der Nationalsozialisten und ihrer Ideologie spielten. Er hatte sich ausgiebig mit dem Thema beschäftigt und für die Informationszentrale in Amsterdam jede erhältliche Ausgabe des Textes besorgt – die interessantesten Ausgaben hatte er sogar in seinem Köfferchen bei sich.118 Sein Glaube an die Macht der Wahrheit machte den Prozess zum idealen Forum: Die israelitische Gemeinde der Schweiz würde dem Gericht beweisen, dass die Protokolle eine Fälschung seien, und in ihrer Verbreitung eine besonders gefährliche dazu. Der Gerichtsentscheid wäre eine Hilfe für Juden in den zahlreichen Ländern, in denen die Protokolle erschienen. Deshalb setzte er bei den Besprechungen des engsten Kreises seinen Kollegen in aller Ausführlichkeit die Natur und die Konsequenzen der Protokolle auseinander und machte sie auf vergleichbare Fälle und die gesellschaftspolitischen Weiterungen aufmerksam.

1905 hatte der religiöse und antisemitische russische Schriftsteller Sergei Alexandrowitsch Nilus seinem Buch Das Große im Kleinen einen Anhang beigefügt, der das angebliche Sitzungsprotokoll eines angeblichen jüdischen Geheimtreffens in Basel anlässlich des ersten Zionistenkongresses 1897 enthielt.119 In vierundzwanzig Kapiteln, eben jenen »Protokollen«, ist darin der geheime Plan des »Weltjudentums« dargestellt, wie durch Manipulation der Wirtschaft, Kontrolle der Presse, Aufbringen der Religionen gegeneinander und so weiter die Herrschaft über die Welt zu erringen sei.120 Liberale Reformen sollten Regierungen schwächen, was eine allgemeine Anarchie zur Folge hätte, und in dieses Vakuum werde sich, insbesondere unter Aufbietung der »furchtbaren«121 jüdischen Macht des Geldbeutels, eine jüdische Diktatur über die Welt setzen. Mit Gewalt, List, Heuchelei, Bestechung, Betrug, Verrat und Raub fremden Eigentums würden die Staaten gezwungen, sich der neuen jüdischen Macht zu unterwerfen. Der einstige industrielle Wohlstand würde mittels Finanzspekulation und Dauerstreiks vernichtet.122 In allen weitgehend absurden Details umrissen die Protokolle die Taktiken – Mord, Terrorismus, Hinrichtung –, mit deren Hilfe »der feige Jude« die hirnlosen und schafartigen »Gojim« unter ihr Joch zu bringen gedenke.

Manche Leser erkannten sehr schnell, dass die Protokolle ein lächerliches Machwerk waren, eine Verschwörungstheorie ohne Hand und Fuß, die eindeutig nicht das Sitzungsprotokoll irgendeines Treffens, jüdischen oder nichtjüdischen, sein konnte. Für andere jedoch erklärten sie die Welt – den Sturz von Regierungen, Kriege zwischen Nationen, Aufstieg des Liberalismus, die Entmachtung des Christentums, Wirtschaftskrisen, Arbeitskämpfe. Die Protokolle fügten zusammen, was nicht zusammengehörte.

Und so zog die Fälschung ihre Kreise. Bei einer Besprechung des engsten Kreises berichtete Brunschvig, es kursierten in ganz Europa Ausgaben der Protokolle, und bisherige Versuche, gerichtlich dagegen anzugehen, seien gescheitert. Russische Soldaten hätten Exemplare im Tornister mitgeführt und die abscheulichsten Pogrome mit den Protokollen gerechtfertigt. Die Protokolle hatten Anhänger in England, wo die Morning Post sie in Fortsetzungen abdruckte, in Frankreich und natürlich in Deutschland. Eine anonyme Person hatte sie auf der Friedenskonferenz von Versailles vor den Platz jedes Abgeordneten hingelegt.

Dies alles verfolgte Alfred, der in der Ecke saß und die von Brunschvig zusammengestellten Prozesslisten durchforstete. Als der Anwalt endete, blickte Alfred erstaunt auf. Was ist mit Fords beiden Prozessen?, fragte er leise. Bei der Schilderung des weltweiten Einflusses, den die Protokolle hatten, durfte die Rolle des Automobilmagnaten und Unternehmers keinesfalls fehlen. Wie das Glück es wollte, hatte Alfred alle relevanten Informationen in seinem Archiv liegen. Eine Woche später fand Brunschvig, als er in die Kanzlei kam, auf seinem Schreibtisch eine umfangreiche Akte mit der Aufschrift »Henry Ford und die Protokolle der Weisen von Zion« vor.

1918 war Ford, Multimillionär, Pionier der Massenproduktion und einer der berühmtesten Männer Amerikas, Eigentümer einer Lokalzeitung geworden: Der Dearborn Independent war das wöchentlich erscheinende Klatschblatt seiner Heimatstadt und sollte fortan als sein Sprachrohr agieren.123

Ab Mai 1920 begann Fords Zeitung mit einer antisemitischen Hetzkampagne und berief sich dabei auf die Protokolle. Jüdische Richter am Obersten Bundesgericht, wurde unter anderem behauptet, benutzten die Präsidenten Taft und Wilson als Marionetten; die Juden hätten den Ersten Weltkrieg angezettelt; der Amerikanische Bürgerkrieg und die Ermordung von Abraham Lincoln gingen natürlich auf jüdisches Konto. »Alles wurde der jüdischen Weltverschwörung zugeschoben, vom Jazz angefangen über kurze Hosen, heruntergekrempelte Socken, steigende Mieten und die bolschewistische Revolution bis hin zur Entartung der amerikanischen Literatur, dem Sozialverhalten und was einem sonst noch einfallen konnte.«124

Ford setzte seine antisemitische Hetze fort, bis ihr eine Verleumdungsklage 1927 ein Ende machte. In diesem Jahr gab er seine Kampagne auf und entschuldigte sich mit einer öffentlichen Erklärung beim jüdischen Volk.

Nicht, dass er die Entschuldigung gelesen hätte, bevor er sie unterzeichnete, nicht, dass er sie ernst meinte. 1938 nahm er von der NS-Regierung eine hohe Auszeichnung entgegen, das »Adlerschild des Deutschen Reiches«. Und noch 1940 sagte er gegenüber einem Journalisten: »Ich glaube nach wie vor, dass dies ein Sitzkrieg der internationalen jüdischen Bankiers ist.«125

Auf jeden Fall war der Schaden, den er bis zu seiner erzwungenen Entschuldigung angerichtet hatte, ein nachhaltiger. Die antisemitischen Artikel aus Fords Zeitung erschienen in Buchform unter dem Titel Der internationale Jude und waren, wie Alfred den engsten Kreis wissen ließ, in siebzehn Sprachen übersetzt worden; das Buch sei in jedem Kiosk in Bern zu haben, zum Teil sogar gratis.

So bedeutend Fords Rolle bei der Verbreitung der Fälschung über die Zeitungskioske weltweit war, es war nicht sein größter Beitrag zum globalen Antisemitismus, auch nicht der relevanteste für den Berner Prozess. Sein bedeutendster Beitrag war ein zweifacher.

Da war zum einen die »Ford-Taktik«. 1921 veröffentlichte die Londoner Times mehrere Artikel über die Protokolle, die von ihrem Konstantinopler Korrespondenten Philip Graves stammten. Graves bewies zweifelsfrei, dass große Teile der Protokolle aus einem anderen Buch abgeschrieben waren, nämlich einem satirischen Kommentar zur Herrschaft Napoleons III., den der Franzose Maurice Joly 1864 verfasst hatte. Die identischen Formulierungen erwiesen das Plagiat als offensichtlich und unbestreitbar.

In seinem Dossier legte Alfred dar, wie Ford auf diese Enthüllung reagiert hatte: Er wisse nichts, sagte Ford, weder von The Times noch von Joly, noch von einem Plagiat; nichts dergleichen. Er wisse nur eines: Wenn man die Protokolle mit den gegenwärtigen Ereignissen vergleiche, zeige sich, dass der jüdische Geheimplan exakt so aufgehe, wie die Weisen von Zion es vorgesehen hätten. Es brauche keine Literaturanalyse, um die Echtheit der Protokolle zu beweisen, sondern eine kritische Prüfung der historischen und gegenwärtigen Ereignisse.

Ein durchaus brillanter Winkelzug, diese Ford-Taktik, meinte Alfred und war sicher, dass die Verteidigung vor Gericht auf sie zurückgreifen werde. So kam es dann auch.

Der andere wichtige Beitrag Fords, erklärte Alfred weiter, sei dessen Einfluss auf Adolf Hitler. Der hatte in seinem Münchner Büro ein Porträt von Ford, und nach dem Grund dafür befragt, sagte er: »Ich betrachte Heinrich Ford als meine Inspiration.«126 Ihren zentralen Platz in der NS-Ideologie verdanken die Protokolle nicht zuletzt dem amerikanischen Autobauer.

Zwischen 1919 und 1939 gab die NSDAP die Protokolle in über dreißig Ausgaben heraus.127 Und Hitler war von ihrer Wahrheit rückhaltlos überzeugt.

 

Am 29. Oktober 1934, dem ersten Tag des Berner Prozesses, hatte sich vor dem Gerichtssaal eine lange Warteschlange gebildet. Hadassa Ben-Itto schreibt in ihrem Bericht über den Prozess, die Hotels in Bern seien brechend voll gewesen mit Vertretern jüdischer Gemeinden aus ganz Europa und Journalisten aus aller Welt. Auch viele faschistische Sympathisanten waren in der Stadt. Restaurants und Läden freuten sich auf ein gutes Geschäft. »So weit man sich erinnerte, hatte nie ein Ereignis so viel Interesse erregt.«128

Der engste Kreis hatte bezüglich des Vorgehens der Anklage beschlossen, es müsse, bevor die Geschichte der Fälschung dargelegt werde, als erster Zeuge ein Zionist benannt werden, und zwar einer, der die Behauptung, der Basler Zionistenkongress des Jahres 1897 sei eine Verschwörung israelitischer Ältester gewesen, kraft einer Autorität, die das Gericht zwangsläufig beeindrucken werde, zurückweisen könne. Zur Eröffnung des Prozesses trat Chaim Weizmann vor das Gericht.

Die Autorität verlieh ihm sein Ansehen als Naturwissenschaftler und als Präsident der Zionistischen Weltorganisation, als der er Lobbyarbeit bei Präsidenten und Königen trieb, ein Ansehen, das ihn später zum ersten Staatspräsidenten Israels machte. Vor Gericht sagte Weizmann aus, dass schon die Grundannahme der Protokolle Unsinn sei. Der Basler Zionistenkongress sei eine Zusammenkunft vorwiegend armer, junger osteuropäischer Juden und Intellektueller gewesen. Die prominenten Fabrikanten und Bankiers hätten gar nicht erst teilgenommen.

Nachdem dies also festgestellt war, riefen die Kläger weitere Zeugen auf, die über die Entstehungsgeschichte und -gründe der Protokolle aufklären sollten. Das moderne Berner Gericht lauschte einer komplexen Geschichte russischer Hofpolitik im Zarenreich.

Die Aussagen zeichneten folgendes Bild: Die Protokolle seien das Produkt eines Kampfs um das Ohr des unerfahrenen und leicht beeinflussbaren Zaren Nikolaus II. und seiner Kaiserin mit ihrer Vorliebe für Mystiker und Scharlatane. Die Fälschung sei vom Chef der Auslandsabteilung des kaiserlich-russischen Geheimdienstes Ochrana in Auftrag gegeben worden. Er habe damit das Ziel verfolgt, die Liberalisierungsbestrebungen der beim Zaren in hoher Gunst stehenden Modernisierer zu untergraben, indem sie als Marionetten der Juden denunziert würden.129

Die Geschichte hat einen zweiten Strang. Die Protokolle sind nicht allein russischer, sondern auch französischer Herkunft; Alfred war eigens nach Paris gereist, um den maßgeblichen Sachverständigen zu konsultieren. Der russische Geheimdienst mag seine Gründe für die Fälschung gehabt haben – klar ist aber auch, dass es eine starke französische Mitwirkung gibt. Das zeigen die identifizierbare Verwendung eben jener gegen Napoleon III. gerichteten Satire von Maurice Joly ebenso wie die Tatsache, dass der Leiter des Auslandsgeheimdienstes zur Zeit der Entstehung des Textes in Paris ansässig war.

Bis spät in die Nacht diskutierten Alfred und Brunschvig über die Zunahme des französischen Antisemitismus am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als sich russische Juden auf der Flucht vor Pogromen in französischen Städten niederließen. Die zunehmend giftige Stimmung hatte zur Dreyfus-Affäre beigetragen, dem Justizskandal um die Verurteilung des jüdischen Artilleriehauptmanns Alfred Dreyfus wegen angeblichen Landesverrats – und es sei sicher kein Zufall, sagte Alfred, dass die Fälschung der Protokolle um dieselbe Zeit entstanden sei.

Seiner Meinung nach war dieser Umstand relevant für den Fall. Der bösartige Antisemitismus der Protokolle war nicht einfach Ausfluss unverständlicher Zwietracht in einem fernen Land, sondern war im Herzen Westeuropas und unter Mitwirkung von Westeuropäern entstanden. Der Richter würde sehen können, wie wichtig die Strafanzeige bei einem Schweizer Gericht wäre.

Die Klagebegründung kam vor Gericht hervorragend an. Die Verteidigung geriet ins Straucheln. Ihre Argumentation schlug in alle Richtungen aus und glitt häufig ins Komische ab.

Zum Beispiel behaupteten die Anwälte der Beklagten, der französische Schriftsteller Maurice Joly, dessen Satire in die Herstellung der Protokolle eingeflossen war, sei in Wahrheit ein beschnittener Jude mit Namen Moische Joel, woraufhin Brunschvig prompt Jolys Taufschein vorlegte. Auch versuchten sie in die angebliche jüdische Verschwörung die Freimaurer einzubeziehen und riefen als Zeugen den Schokoladenfabrikanten Theodor Tobler auf, den Erfinder der Toblerone. Der Versuch endete mit einem kostspieligen Verleumdungsverfahren gegen die Anwälte der Verteidigung, das Tobler angestrengt hatte.

Die Verteidigung hatte so viel Mühe, einen sachverständigen Zeugen für ihre Sache aufzutreiben, dass der Prozess für sechs Monate ausgesetzt wurde. Als schließlich ein Zeuge gefunden war, ein gewisser Ulrich Fleischauer, erwies der sich als verheerend. Michael Hagemeister, der sich aus der Sicht des Slawisten und Historikers mit dem Prozess befasste, nannte Fleischauers Einlassung eine »mäandernde, weitschweifige und nicht verständliche, mit einem Potpourri antisemitischer Stereotype durchsetzte Kompilation«.130

Alfred war entschlossen, die Klage nicht nur zu einem gewonnenen Prozess werden zu lassen, sondern auch zu einem Sieg im Propagandakrieg. Auf die deutsche Presse hatte er keinen Einfluss, sehr viel mehr jedoch auf die internationale. Daher verbrachte er, während der Prozess voranschritt, viel Zeit damit, sich mit Nachrichtenagenturen in Verbindung zu setzen und eine internationale Berichterstattung in die Wege zu leiten.

Unter seiner Leitung veröffentlichte die Jüdische Informationszentrale eine tägliche Kurzfassung des Verhandlungsfortgangs und sorgte dafür, dass weltweit darüber berichtet wurde – auch dann, wenn sich eine Zeitungsredaktion nicht erlauben konnte, einen Reporter nach Bern zu entsenden.131 Dass das Gerichtsverfahren als »Berner Prozess« in die Geschichte eingegangen ist, ist zu einem großen Teil Alfred zu verdanken.

 

Im Mai 1935, nach einem letzten Ansturm von Beweisvorlagen über zwei Wochen hinweg, erging das Urteil. Die Kläger bekamen in jedem Punkt recht. Der Richter bezeichnete die Protokolle als eindeutige Fälschung und als eindeutige Schundliteratur. Tatsächlich, sagte er, enthalte die Schweizer Ausgabe der Protokolle in ihrem Schlusswort einen derart haarsträubenden Aufruf zur Gewalt gegen Juden, dass er, selbst wenn sich das Protokoll einer »Geheimsitzung« als authentisch erwiesen hätte, allein darin Schundliteratur im Sinne des bernischen Gesetzes von 1916 erkenne, die eine Minderheit verleumde und zu Verbrechen aufreizen könne.

Aber es sei klar, dass die Protokolle eben nicht echt seien. Tatsächlich, sagte der Richter, sei die Anwendung der Ford-Taktik (die Behauptung, die Protokolle besäßen eine immanente Wahrheit) nichts anderes als das Eingeständnis der Fälschung.

Er schloss mit diesen Worten:

Ich hoffe, die Zeit wird kommen, in der kein Mensch mehr begreifen wird, wieso sich im Jahre 1935 beinahe ein Dutzend sonst ganz gescheiter, gesunder und vernünftiger Leute 14 Tage lang vor einem Bernischen Gerichte über die Echtheit dieser sogenannten Protokolle die Köpfe zerbrechen konnten, dieser Protokolle, die bei allem Schaden, den sie bereits gestiftet haben und noch stiften mögen, doch nichts anderes sind als ein lächerlicher Unsinn.132

Der Berner Prozess war ein Erfolg, aber kein ungeteilter. Im November 1937 hob das Berner Obergericht das erstinstanzliche Urteil von Richter Meyer partiell auf. Das Revisionsurteil lautete, Richter Meyer habe selbstverständlich zu Recht die Protokolle als Fiktion erkannt, doch beziehe sich das infrage stehende Gesetz nicht auf Schundliteratur, sondern eindeutig auf Pornografie. Damit blieb der zentrale und wichtigste Teil des Urteils zwar erhalten, dennoch waren die Beklagten begeistert, und die Zeitungen der extremen Rechten füllten sich mit Jubel über ihren »Sieg«.

Nichtsdestoweniger hatten die Kläger die Entstehungsgeschichte der fiktiven Protokolle auf nachvollziehbare Weise hergeleitet. Einige Wissenschaftler hielten sie zwar für etwas wirr und etliche Zeugen für eben nicht überzeugend,133 doch war jeder Versuch, den Text als sachlich wahr darzustellen, damit vereitelt.

Erfolglos war der Prozess insofern, als es nicht gelang, die Fälschung aus der Welt zu schaffen. In Deutschland erschienen die Protokolle noch bis 1939, dann wurde die Publikation aus unbekannten Gründen eingestellt. Doch in weiten Teilen der Welt sind sie noch heute im Druck erhältlich und online zu finden. Im Nahen Osten werden sie in hohen Auflagen gelesen.134

Bemerkenswert ist auch, dass die Idee, es gebe eine zionistische Verschwörung mit dem Ziel, die Weltpolitik zu beherrschen, Kriege anzuzetteln, Spitzenpolitiker zu bestechen und Kritiker mundtot zu machen, ja dass alle Unterstellungen der Protokolle inzwischen Eingang in die Politik gefunden haben, die rechte wie die linke, sogar bei jenen, die über den Text als solchen lachen würden. Die Idee, dass zionistische Drahtzieher die Politik der Weltmächte manipulieren, ist ein überraschend verbreiteter Bestandteil des politischen Diskurses.

Dennoch hatte die Entscheidung im Berner Prozess eine gewisse Wirkungsmacht. Sie war ein neutrales Urteil über die Authentizität der Protokolle, über das sich kein Verleger seither hinwegsetzen kann, und bedeutete, dass Juden stets mit Verweis auf Bern argumentieren konnten, die Protokolle seien kein normales und respektables Buch, sondern erwiesenermaßen Fiktion. Alfred hatte seine Zeit gut investiert.

Es gab einen weiteren Grund, weshalb er die in der Schweiz verbrachten Monate, die Jahre, die der Prozess in Anspruch nahm, niemals bedauerte. Denn hätte Alfred nicht am Berner Prozess teilgenommen, hätte er in der Zeit nicht Tag und Nacht in der Gesellschaft des engsten Kreises verbracht, so hätte meine Mutter den Krieg nicht überlebt.

In der Falle

Wenn meine Mutter Mirjam von ihrer Kindheit und den frühen Jahren in Amsterdam erzählte, war oft die Rede davon, wie sie mit ihren Schwestern und Freundinnen aus den umliegenden Häusern auf der Straße gespielt hatte. Und mit Erheiterung berichtete sie, wie sie einmal einen offenen Kanaldeckel mitten in der Straße übersehen hatte. Sie war ins Loch gefallen und hatte sich an der Kante das Kinn aufgeschlagen.

1938 war das Jahr, in dem die gesamte westliche Zivilisation in ein Loch fiel. Es war das Jahr des »Anschlusses«, der ergebnislosen Konferenz von Évian, des Münchner Abkommens, der »Kristallnacht«. Das Jahr, in dem der Krieg sich abzeichnete, das Jahr, das nichts zu bieten hatte als die Aussicht auf Blut, Schweiß und Tränen.

Der Kontrast zwischen dem glücklichen Leben, das Mirjam und ihre Schwestern im selben Jahr führten, und der Lage in der Welt könnte nicht größer sein.

Seit der Ankunft in Holland hatte Grete sich hauptsächlich um ihre Familie gekümmert, und das weitgehend allein, denn Alfred war selten zu Hause. Ruth sagte später einmal, Grete sei »Hausfrau-und-Mutter« gewesen.135 Aber die Bezeichnung greift zu kurz. Während des holländischen Exils unterstützte Grete ihren Mann mit Rat und administrativer Hilfe, was sie von zu Hause aus erledigen konnte, denn das Büro war ja Teil der Wohnung. Und sie unterstützte die israelitische Gemeinde bei der Flüchtlingsarbeit. Anfangs bedeutete das keinen besonderen Aufwand.

Mit dem »Anschluss« änderte sich die Lage. Die Eingliederung Österreichs in den deutschen Staat im März 1938 brachte eine neue jüdische Bevölkerung unter NS-Herrschaft; Berichte von antisemitischer Gewalt gingen um die Welt, und die Zahl jüdischer Flüchtlinge nahm zu, was wiederum die Aufnahmebereitschaft anderer Länder schrumpfen ließ. Die niederländische Regierung verkündete: »Es gelte fortan ein Flüchtling als unerwünschtes Element in der niederländischen Gesellschaft und damit als unerwünschter Ausländer, der an der Grenze abzuweisen oder, sollte er im Landesinneren aufgegriffen werden, über die Grenze zurückzuschicken ist.«136

Dies erschwerte natürlich die Arbeit des »Comités«, wie Grete die von Gertrude van Tijn geleitete Flüchtlingshilfe unter Vorsitz von David Cohen nannte. Juden kamen trotz der neuen Flüchtlingspolitik in die Niederlande, und es war jetzt erheblich schwieriger, Unterkünfte oder Verdienstmöglichkeiten für sie aufzutreiben. Grete wurde im Lauf des Jahres ein immer größerer Einsatz in der Flüchtlingsarbeit abverlangt. Ende 1938 überreichte ihr das Komitee ein Geschenk, und der beiliegende Brief sprach ihr im Namen der jüdischen Gemeinde »große Dankbarkeit« aus und lobte ihre »große Hingabe und Hilfsbereitschaft gegenüber der Flüchtlingsarbeit«.137

Hingabe und Hilfsbereitschaft waren umso dringender geboten, als drei weitere Ereignisse erschwerend hinzukamen. Zum einen fand im Juli 1938 auf Veranlassung des amerikanischen Präsidenten Roosevelt eine internationale Konferenz in Évian statt, auf der über die Problematik der zunehmenden jüdischen Flüchtlinge diskutiert, aber keine Lösung gefunden wurde. Großbritannien und die USA setzten nur ihr Anliegen durch, Kritik an ihren Einreisebeschränkungen für Palästina beziehungsweise Amerika zu unterbinden; von anderen Ländern kamen keinerlei substanzielle Angebote für die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge. Infolgedessen versuchten Juden umso verzweifelter nach Holland zu gelangen, und jene, die schon da waren, sahen ihre Hoffnung schwinden, je in die Heimat zurückkehren zu können.

Zum anderen wurde, mit gleichen Folgen, im Oktober 1938 das Münchner Abkommen unterzeichnet, mit dem Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland die Tschechoslowakei zwangen, das Sudetenland an das Deutsche Reich abzutreten. Damit gerieten noch mehr Juden unter NS-Herrschaft.

Der dritte und schwerwiegendste Fall war im November. In der Nacht vom 9. auf den 10. wurde auf Betreiben der Staatsführung ein massives Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung Deutschlands durchgeführt – die Sorte, vor der Alfred seit 1919 gewarnt hatte: staatlich geförderte, sehr gezielte Ausschreitungen gegen jüdischen Besitz. Horden von Naziaktivisten fielen über Geschäfte und Wohnungen her und zerstörten, was sie fanden. Dreißigtausend Juden wurden festgenommen, Hunderte Synagogen in Brand gesteckt, von denen viele vollständig niederbrannten, weil sich die Feuerwehr ausschließlich der angrenzenden Gebäude annahm. Tausende Geschäfte jüdischer Eigentümer wurden geplündert, und die eingeschlagenen Glasscheiben gaben der Pogromnacht ihren zynischen Namen: »Kristallnacht«.

Als es vorbei war, verfügte Goebbels die Beschlagnahme von Versicherungsansprüchen zugunsten des deutschen Staates; die allfällige Wiederherstellung ihres Eigentums mussten die Geschädigten somit aus eigener Tasche bezahlen. Tags darauf wurden die Juden gezwungen, die Glasscherben auf der Straße mit bloßen Händen einzusammeln. Zusätzlich wurde der jüdischen Gemeinde die Zahlung einer »Sühneleistung« in Höhe von über einer Milliarde Reichsmark auferlegt, denn nach Görings Ansicht hätten die Juden das Pogrom selbst heraufbeschworen.

Das Novemberpogrom war eine unmissverständliche Botschaft. In seiner Studie über das deutsch-jüdische Bürgertum in den 1930er Jahren schreibt Jay Howard Geller: »Nach der Kristallnacht war allen Juden klar, dass sie Deutschland verlassen mussten.«138 Innerhalb der nächsten sechs Wochen erhielt das niederländische Komitee mehr als elftausend Briefe von deutschen Juden, die um Hilfe bei der Auswanderung baten. Jede Woche trafen jetzt tausend Flüchtlinge in den Niederlanden ein. Viele deutsche Juden hatten, bevor sie verhaftet worden waren, ihre Kinder einfach in den Zug nach Holland gesetzt, unbegleitet, und viele wurden ohne einen Pfennig Geld und dem Verhungern nahe in den Wäldern gefunden.139 Kein Wunder, dass Grete alle Hände voll zu tun hatte.

Die niederländische Regierung wurde nervös. Bei einem Gespräch mit David Cohen erklärten Regierungsvertreter, sie würden die Einreisebeschränkungen weiter verschärfen und die neue Richtlinie über Abweisungen an der Grenze, bis dahin nur Rhetorik, in die Tat umsetzen. Jeder Neuankömmling müsse interniert und in der Folge so schnell wie möglich abgeschoben werden. Und für die Einrichtung und den Betrieb des Internierungslagers werde die israelitische Gemeinde eine hohe Summe aufbringen müssen, in heutiger Währung über zehn Millionen Dollar.

Innerhalb weniger Monate war der Entschluss gefallen, in den Niederlanden ein großes Sammellager nahe der deutschen Grenze einzurichten. Der Staat, hieß es, werde Planung und Bau vorfinanzieren und sich von der israelitischen Gemeinde die Beträge in Raten zurückerstatten lassen, die Betriebskosten jedoch entfielen von Anfang an auf die Gemeinde. Im Gegenzug durften illegale Flüchtlinge sich so lange legal im Lager aufhalten, bis eine Auswanderungsmöglichkeit gefunden war.

Der Bau des »zentralen Flüchtlingslagers« im Dorf Westerbork hatte bereits im Sommer 1938 begonnen. Die Juden in den Niederlanden errichteten und bezahlten ihr künftiges Gefangenenlager.

 

Für die Wieners hatte die Reichspogromnacht eine weitere, ebenso einschneidende Folge wie die Errichtung des Lagers Westerbork.

Wann immer die Nazis etwas taten, so geringfügig es sein mochte, archivierten Alfred und seine Mitarbeiter die Belege dafür. Ein Ereignis vom Ausmaß des Novemberpogroms verstärkte naturgemäß ihren ohnehin großen Einsatz. Die Jüdische Informationszentrale trug zahlreiche Zeugenaussagen zusammen, die heute eine der frühesten Sammlungen von Augenzeugenberichten über NS-Verbrechen bilden. Darüber hinaus belieferten sie die Weltpresse mit Informationen über die Geschehnisse. Damit stand das JCIO stark im Fokus der Öffentlichkeit, und dies wiederum machte die niederländische Regierung zusätzlich nervös.

Es dauerte nicht lang, bis David Cohen, der nach wie vor Alfreds enger Verbündeter und Mitstreiter war, von Premierminister Hendrikus Colijn einbestellt wurde. Ein Buch über die »Kristallnacht« , das, wie Cohen zugab, in Alfreds Büro in der Jan van Eijckstraat entstanden war, enthielt Passagen, die nach Auffassung des Premierministers die niederländische Neutralität gefährdeten: Die Schrift sei aus dem Verkehr zu ziehen.

Es war klar, was das bedeutete. Das Spiel ist aus, sagte Cohen, als er unmittelbar nach dem Gespräch Alfred Bericht erstattete. Die Anweisung bedeutete nicht nur, dass sie sich fügen mussten, womit die Jüdische Informationszentrale ihren Daseinszweck verloren hatte, sondern sie bedeutete auch: Wenn schon ein einzelnes Buch ein diplomatisches und politisches Problem von solcher Tragweite darstellte, welche Folgen hätte es erst, wenn die niederländische – oder deutsche – Obrigkeit von der Existenz des Archivs erführe. Welche Folgen hätte es, wenn den Behörden klar würde, was Alfred und seine Mitarbeiter tatsächlich im Sinn hatten. Holland war nicht mehr sicher. Die Jüdische Informationszentrale würde umziehen müssen. Denselben Gedanken hatte auch Alfred schon gehabt, und er war sofort einverstanden.

Er würde nach London gehen und das Archiv mitnehmen müssen; wer von der Truppe ihn begleiten wollte, war ihm willkommen.

Alfred war schon früher in Großbritannien gewesen und besaß eine Reihe nützlicher Kontakte. Aus Amsterdam brachte er Louis Bondy mit, einen jungen Mitarbeiter, den er ursprünglich in London rekrutiert hatte – nicht zuletzt, damit er Alfreds noch recht schlechtes Englisch vorerst kompensierte.

Bondys Schilderung der Begegnung mit meinem Großvater charakterisiert Alfred anschaulich. »Mein erster Kontakt mit ihm war, als er mich im Winter 1937/38 in London anrief, nachdem ich mich um eine Mitarbeit im Jewish Central Information Office in Amsterdam beworben hatte. Schon eine halbe Stunde später war ich in Ford’s Hotel in der Manchester Street, wo Dr. Wiener logierte, wenn er in London war.«

Bondy fährt fort:

Wir gaben einander die Hände und wechselten ein paar Worte. Dann bückte sich Dr. Wiener ziemlich abrupt, hob ein riesiges Paket von einem Stapel neben sich und drückte es mir in die Arme, wuchtete ein zweites Paket von beträchtlichem Gewicht obenauf, hob ein drittes auf, das er selbst trug, und scheuchte mich hinaus auf die Straße. Er winkte einem Taxi, bugsierte mich hinein, setzte sich zu mir, schlug die Tür zu, und los ging es zur Hauptpost. Erst auf der Fahrt erklärte er mir, dass er dringend diese Pakete aufgeben müsse, aber nicht viel Ahnung von der erforderlichen Vorgehensweise habe, und bat mich – nein: wies mich an, mich der Sache anzunehmen. Es charakterisiert die einzigartigen Eigenschaften Dr. Wieners treffender als alles andere, dass es mir keinen Moment lang etwas ausmachte, von einem mir ganz fremden Menschen derart eingespannt zu werden; im Gegenteil, ich war begeistert, dass ich so rasch im Wirkungskreis dieser überaus angenehmen Persönlichkeit Aufnahme gefunden hatte.140

Während einige Mitarbeiter vorerst noch in der Jan van Eijckstraat zurückblieben, wurde der Großteil des Archivs in Schachteln verpackt, verschickt und irgendwo zwischen der Tower Bridge und der London Bridge an den Docks ausgeladen. Bondys Aufgabe bestand darin, sie von einem Lagerhaus abzuholen und in das Büro zu bringen, das sie direkt in der Innenstadt, nördlich der Oxford Street am Manchester Square 19 im ersten Stock gemietet hatten.

Am Freitag, dem 1. September 1939, wurde das Jewish Central Information Office in London eröffnet. Zwei Tage später, am Sonntag, erklärte das Vereinigte Königreich Deutschland den Krieg.

 

Bei ihrem Einsatz für die Sicherheit der eigenen Familie und die Rettung anderer, ja eigentlich die Rettung ihrer Auffassung von Zivilisation, waren Alfred und Grete immer einen Schritt voraus gewesen. Oft mehr als einen. Sie hatten die Ereignisse vorausgesehen und die richtigen Schlüsse gezogen. Und ausgerechnet jetzt machten sie einen schweren, einen verhängnisvollen Fehler.

Warum hat Alfred seine Familie nicht mitgenommen, als er Anfang 1939 nach London ging? Es war eine Entscheidung mit schlimmen Folgen und ein Rätsel, über das sich unsere Familie jahrelang den Kopf zerbrochen hat.

Als Alfred in Ford’s Hotel eingezogen war, fing er mit seiner Frau einen regen Briefwechsel an. Seine Briefe sind nicht erhalten, aber von Grete gibt es noch mehrere, und aus ihnen geht klar hervor, welche Überlegung hinter der Entscheidung stand: Grete blieb wegen der Kinder.

Die Briefe sind eine Mischung aus Liebesworten (samt Kosenamen; sie nennt ihn »Muli« und unterschreibt mit »Munz«), Neuigkeiten von den Mädchen, besorgten Kommentaren über die politische Lage, Angelegenheiten des JCIO, Kommentaren zur finanziellen Situation der Familie und Überlegungen wegen der Entscheidung, vor der sie standen. Nach Ausbruch des Kriegs zwischen Deutschland und England versucht Grete auf Englisch zu schreiben, aber sie findet es mühsam. Da Alfreds Englisch nach wie vor verbesserungsbedürftig ist, moniert sie oft die mangelnde Präzision seines Antwortens auf ihre Fragen. »Ich bitte Dich sehr«, schreibt sie einmal ungeduldig, »dies in deutscher Sprache zu tun, da ich … fürchte, wir reden auf Englisch aneinander vorbei.«141

Auch wenn sie einander auf Deutsch schrieben, gingen ihre Briefe nicht zwischen zwei deutschen Staatsbürgern hin und her. Im August 1939 erschien im Deutschen Reichsanzeiger und Preußischen Staatsanzeiger eine Liste der Personen, denen gemäß einem Gesetz von 14. Juli 1933 die Staatsbürgerschaft aberkannt worden war.142 Danach konnten »Reichsangehörige, die sich im Ausland aufhalten, der deutschen Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt werden, sofern sie durch ein Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verstößt, die deutschen Belange geschädigt haben.«143 Die gesamte Familie Wiener stand auf der Liste.

»Die Nachricht«, schrieb Grete, »hat mich im ersten Augenblick doch etwas erschreckt und eigenartig berührt, jetzt aber empfinde ich es, gerade angesichts der heutigen Situa-[tion,] wie eine Befreiung. Wir sind nun wirklich ganz frei!«144 Dieser Brief wurde am 3. September geschrieben, »die heutige Situation« bezieht sich also auf die Kriegserklärung Großbritanniens an Deutschland. »Als ich heute Vormittag ins Comité kam«, schreibt sie, »wurde die Nachricht von Chamberlains Rede gerade bekannt.« Sie fügte hinzu: »Es ist indessen so viel geschehen, dass es kaum zu bewältigen ist, wenn man es ganz erfassen will in seiner Tragweite. Ich habe den Eindruck, dass alles noch ganz benommen ist und noch nicht begreift, was heute über uns gekommen ist.«

Grete sprach von Befreiung, dennoch war die Aberkennung der Staatsbürgerschaft ein schwerer Schlag. Für Alfred war sie eine emotionale Katastrophe; dass ihm sein Status als deutscher Staatsbürger entzogen wurde, leugnete alles, wofür er sich je eingesetzt hatte. Und für die übrige Familie, Grete, Ruth, Eva und Mirjam, hatte sie einschneidende praktische Folgen.

Die Ausbürgerung war eine der mächtigsten und am häufigsten angewandten Techniken des NS-Staats, um seine Zielpersonen vulnerabel zu machen. Kein Land war verpflichtet, Staatenlose zu schützen oder aufzunehmen, keine staatliche Behörde protestierte, falls sie inhaftiert oder getötet wurden. Befreit war Grete von der Verantwortung für ihr Heimatland, und sie war auch für kein anderes Land verantwortlich; von dem Moment an, in dem die Wieners ihre deutsche Staatsangehörigkeit verloren, waren sie ganz auf sich gestellt, mit allen Konsequenzen. Die Suche nach Wohlgesinnten, die Papiere und Schutz bieten konnten, wurde im Lauf der kommenden Jahre immer dringlicher.

Bis die Staatenlosigkeit sich zur Krise auswuchs, war sie vor allem eines, ein Ärgernis. Ohne den richtigen Pass konnte Alfred nicht zu Besuch nach Amsterdam kommen. Wie sollte ihm Grete dann seine Wintersachen zukommen lassen, denn sie konnte es »nicht länger verantworten, daß Du ohne Wintermantel und in baumwollenen Strümpfen herumläufst«.145 Ob sie versuchen sollte, provisorische niederländische Papiere für die Familie zu bekommen, und wenn ja, ob ihr Alfred die für den Antrag erforderlichen Unterlagen zuschicke? Und ob er bitte direkt antworten könne, denn die umschweifige Art seiner Antworten auf Englisch sei lästig.

Zu dem Hin und Her kam, dass sich beide große Sorgen um die Finanzierung und die Zukunft des Amsterdamer Büros machten.

Grete setzte ihre Arbeit als Alfreds Assistentin fort, schickte ihm Exzerpte aus Büchern, die er benötigte, und Nachrichten von Personen, die in der Jan van Eijckstraat aufkreuzten. Und bei Besprechungen mit David Cohen und den Mitarbeitern des Büros über das weitere Vorgehen trat sie als Alfreds Stellvertreterin auf.

Cohen forderte – und Alfred schloss sich seiner Meinung an –, das Amsterdamer Büro zu schließen, doch einige Mitarbeiter wehrten sich. Gestritten wurde hauptsächlich über die Frage, welchen politischen Wert es habe, weiterzumachen. Gretes Hauptsorge wiederum war die finanzielle Lage.

Alfred lebte in London in einem Hotel, und das kostete. Noch hatte er für den neuen Standort in England kaum Spenden aufgetrieben, weshalb er und Grete das Archiv und die Widerstandsarbeit von ihren Ersparnissen finanzierten. Als Alfred sie einmal brieflich beruhigen wollte, fand Grete seine Worte »betrüblich«, und fügte hinzu: »Hinunterrutschen ist zwar bei so schönem Schneewetter, wie wir hier seit gestern haben, auf einem Rodelschlitten eine ganz angenehme Empfindung, nicht aber das Hinunterrutschen auf finanziellem Gebiete, das ist viel zu abschüssig, und man kommt nicht so leicht wieder hinauf.«146 An einem anderen Tag schreibt sie: »Ich wälze nur manchmal in schlaflosen Nächten das Problem, wie Deine privaten Ausgaben, seit Du in England bist, jemals verrechnet werden sollen.«147 Was sollten sie tun, wenn die Mittel für sein Amsterdamer Gehalt nun nur noch in die Londoner Arbeit einflossen?

Der Briefwechsel erinnert uns daran, dass der NS-Staat nicht nur Leben und Freiheit seiner Opfer bedrohte, sondern dass auch der normale Alltag zur Strapaze wurde. Die bürokratischen Erfordernisse und finanziellen Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsstatus waren eine große, ständige Last.

Er zeigt auch, wie schwierig Grete das Leben jenseits der Prekarität ihres Status fand. In einem Brief schreibt sie: »Ich neige nicht zu Angst und Nervosität«,148 und sie war tatsächlich ein ausgeglichener, widerstandsfähiger Charakter, doch in ihren Briefen spricht sie oft von Erschöpfung. »Ich glaube, die dauernde Spannung der Nerven, in der man jetzt lebt, macht so müde.«149

Natürlich war es nicht nur die Anspannung. Während sie »ein paar Stunden am Tag im Comité half«,150 kümmerte sie sich als alleinerziehende Mutter um ihre drei kleinen Töchter und um den Haushalt, außerdem war Vetter Fritz ständig bei ihnen, Halsweh musste kuriert werden, und die Kinder mussten pünktlich zur Schule. Trotz der Unterstützung von Betty und Gretes Schwester war das Leben recht anstrengend.

Aber es gab auch große Freuden. Die Briefe sind voller Berichte von Partys, auf denen die Mädchen waren, von Ruth, die spät von einer Schwimmveranstaltung heimkam, vom Schultheater, bei dem alle drei mitspielten, von Evas bestandener Fahrradprüfung, vom Zirkus, den Trude mit Mirjam und Fritz besuchte, von Chanukka-Geschenken und Schabbatmahlzeiten. Und trotz aller bürokratischer Hürden und Verzögerungen, die mit ihrer Lage als Staatenlose einhergingen, ist die Stabilität und Fröhlichkeit der Kinder der Hauptgrund, weshalb Alfred und Grete so und nicht anders entschieden.

Alfred war nach London gegangen, weil seine Tätigkeit in Amsterdam eine Gefahr für die niederländische Neutralität bedeutete. Dabei war es eben die Neutralität, von der sich die Menschen in den Niederlanden Schutz versprachen. Sie war der Grund, warum so viele Migranten nach Amsterdam kamen.

Im Herbst 1939, als schon Krieg war, der Krieg aber die Niederlande noch nicht erreicht hatte, äußerte Gertrude van Tijn gegenüber Chaim Weizmann, dass »die Holländer zumindest keine deutsche Invasion erwarten«.151 Das Land sei schon im Ersten Weltkrieg neutral und sicher gewesen, das werde auch jetzt so sein. Nachdem Gertrude mit Grete zusammenarbeitete und zum Zeitpunkt ihres Kommentars gegenüber Weizmann eben von einem Besuch bei Alfred in London zurückgekehrt war, können wir wohl davon ausgehen, dass die Wieners diese Einschätzung teilten.

Auf jeden Fall herrschte weithin Zuversicht. Vielen erschienen die Niederlande wie eine zweite Schweiz. Im Nachhinein ist leicht erkennbar, dass die Juden in England besser aufgehoben waren als in den Niederlanden, aber 1939, als die Entscheidung anstand, war das alles andere als klar. Tatsächlich hätte man die Vorstellung, dass jemand in England definitiv außer Gefahr sei, damals eher verschroben gefunden.

Man findet wohl keine drei Personen, die besser hätten beurteilen können, welche Absichten die Nazis gegenüber den Juden verfolgten, und folglich auch verstanden, wie dringend nötig es war, sich ihrem Zugriff zu entziehen, als Alfred, Grete und Gertrude van Tijn. Aber das Wissen allein reichte nicht. Man verkennt die damaligen Urteilsbildungen und Einschätzungen, wenn man jene, die sich festnehmen, einfangen, deportieren ließen, im Nachhinein für willfährig oder naiv hielte.

Im November 1939 teilte Grete Alfred brieflich mit, sie habe die Lage mit David Cohen besprochen, denn er sei ihrer Ansicht nach ein besonnener Mann, während »die meisten Leute sich mit aberwitzigen Berichten gegenseitig überbieten«.152 Der Professor sei derselben Auffassung, schreibt sie, auch er meine, sie sollten versuchen, Einreisegenehmigungen für England zu erlangen, möglichst auch für Betty.

Ich weiß nicht, ob dafür überhaupt eine Chance besteht, aber das wirst Du besser beurteilen können. Ich hätte dann für den Fall, dass sich hier die Lage ändert, die Möglichkeit, zu Dir zu kommen. Wenn ich auch, wie ich nochmals betone, wirklich nicht ängstlich bin, so wäre diese Möglichkeit doch sehr schön.

Meine Mutter glaubte, Grete habe sich für Amsterdam entschieden, weil sie sich nicht von ihrer Schwester Trude trennen wollte, nachdem feststand, dass die Abrahams nicht würden mitkommen können. Das ist sicherlich plausibel, wenn man bedenkt, wie nah die Schwestern einander waren; in den Briefen steht davon allerdings nichts, im Gegenteil, Grete betont, es gehe ihr um die Mädchen: »Sollte die Lage hier unverändert bleiben, so bin ich allerdings der Ansicht … daß es der Kinder wegen besser ist, hier zu bleiben.«153

Das zufriedene, stabile Leben und die schulische Laufbahn der Kinder sollten also nicht um der Wiedervereinigung der Familie willen abgebrochen werden. Und zu dem Zeitpunkt glaubte sie tatsächlich nicht, dass den Niederlanden ein Einmarsch feindlicher Truppen bevorstehe.

Möglicherweise ließ Grete ihre Tochter Mirjam in dem Glauben, sie sei wegen Trude geblieben, damit die Kinder, falls sie die Wahrheit erführen, sich nicht schuldig oder verantwortlich fühlten.

Im Februar 1940 kam Alfred zum letzten Mal nach Amsterdam, und zwar mit dem Flugzeug, was eine Sensation war. Der Besuch war viel zu kurz. Wenige Tage später brachten Grete und die Mädchen ihn zum Flughafen. Meine Mutter sah ihren Vater fünf Jahre nicht wieder.

Danach haben sich keine weiteren Briefe erhalten, aber wir wissen, dass Alfred sehr bemüht war, die Einreise seiner Familie zu ermöglichen.154 Die Visabeschaffung erwies sich als schwierig, erst Ende April 1940 kam der Durchbruch: Die Familie wurde benachrichtigt, dass es demnächst so weit sei.

Etwa um diese Zeit erhielt Alfred in seinem Büro am Manchester Square den Besuch eines Mannes, den er später als einen »uns bekannten Engländer, der die entsprechenden Verbindungen besaß und mit uns von Anfang an in London zusammen gearbeitet hatte« beschrieb. Es ist anzunehmen, dass er jemanden vom Abwehrdienst meinte. Dieser Engländer bestätigte, dass die Einreisevisa für die Wieners bald kämen, und wolle anraten, hielt Alfred fest, »diese alle nach London kommen zu lassen. Das war natürlich eine Warnung aus erster Quelle.«155

Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Die Familie musste sich sofort auf den Weg machen. Alfred versuchte sämtliche Verbindungen zu mobilisieren, die er besaß, doch das Nachrichtenwesen zu Kriegszeiten war gegen ihn. Er telegrafierte seinem Freund, dem Presseattaché Lord Chichester in Den Haag, drang aber nicht durch.

Unter den Papieren meiner Mutter findet sich ein an Grete adressierter Brief der britischen Passbehörde in Den Haag, datiert am 6. Mai 1940, mit dem das Amt ihr mitzuteilen wünscht, dass es befugt sei, ihr und ihren Töchtern Einreisevisa zu erteilen. Am selben Tag, an dem der Brief in der Jan van Eijckstraat eintraf, marschierten die Deutschen in die Niederlande ein. Es war zu spät.

Meine Mutter, meine Großmutter, meine Tanten saßen in der Falle.