Er war der größte und mächtigste Baum im Apfelhain. Kein anderer rund um Beuvron-en-Auge streckte seine alten, knorrigen Äste so weit in den Himmel, keiner verzweigte sich so oft, keiner hatte ein Blätterdach, das es mit dem Kirchengewölbe von Saint-Étienne de Caen aufnehmen konnte. Die Blätter lagen so dicht an dicht, dass der Schatten darunter stets tief wie die Dämmerung war und dass man geborgen unter dieser Kuppel die Welt nur noch gedämpft wahrnahm. Äpfel trug er nur noch wenige, doch Jules Ligniers Vater brachte es nicht über das Herz, ihn zu fällen, denn sein Sohn liebte den Baum so sehr, weil er sich einst darin ein Baumhaus errichtet hatte, ganz oben, wo die Äste immer schmaler wurden, bis sie schließlich ganz verschwanden. Niemand wusste, wie alt der Baum war, doch alle kannten seinen Namen. Sie nannten ihn Louis XIV ., weil keiner so viel Sonne abbekam wie er. Den alten Louis.
Jules rannte.
Er rannte, seit er an diesem Morgen ganz früh aus der Haustür des Gehöfts seiner Familie getreten war. Keinen Schritt war er gegangen, jeden gerannt. Er wollte zum alten Louis. So schnell wie möglich. Denn Jules war am Abend zuvor, beim Einschlafen, eine Idee gekommen.
Eine Idee, so glühend, so drängend, wie sie nur einem Neunjährigen kommen konnte. Eine Idee, die seine Welt wieder ins Lot setzen würde. Sie war ganz einfach, doch es war die richtige, das spürte er. Jules hatte nicht mehr schlafen können, nachdem sie ihm eingefallen war. Um die Stunden der Unruhe herumzubekommen, hatte er mit seiner kleinen roten Plastiktaschenlampe versucht, unter der Bettdecke zu lesen, Asterix und der Arvernerschild , bis die Batterien aufgebraucht waren. Jules hatte immer wieder die erste Seite gelesen, denn seine Gedanken waren längst beim alten Louis gewesen.
Nach dem Aufstehen hatte er als Erstes sein Schnitzmesser mit der ausklappbaren Klinge gesucht, das ganz unten in seiner Schatzkiste lag. Sie war im Kleiderschrank versteckt, hinter den alten Wintersachen, in die er schon lange nicht mehr hineinpasste.
Es lag in einer Zigarrenkiste seines Großvaters, einer kubanischen, das klang für Jules so verheißungsvoll nach Exotik und Abenteuer. Selbst jetzt, nach all den Jahren, duftete sie noch nach Ferne und nach Sonne. Er stellte sich immer vor, dass die Sonne in Kuba viel größer wäre als in der Normandie, ein riesiger Feuerball, der es das ganze Jahr Sommer sein ließ.
Unzählige Fußballsammelbilder seiner Lieblingsspieler hatte Jules auf die Kiste geklebt. Sie bewachten sie für ihn vor allen Angriffen. In ihr befanden sich ein paar Briefmarken, die er vorsichtig von Umschlägen gelöst hatte. Jules war sich ganz sicher, dass sie wertvoll waren, schließlich sahen sie wunderschön aus. Eine Feder vom Pfau im Jardin de Bagatelle in Rouen war darin. Sieben Steine, die er am Strand von Villers-sur-Mer gefunden hatte, beim Haus seiner Großeltern. Fünf besonders schöne Handschmeichler, darunter einen flachen, runden, der besonders gut titschen würde und den er sich für einen Wurf an seinem Geburtstag aufsparte, und schließlich einen, von dem Jules vermutete, dass darin Gold zutage trat, wenn man ihn aufschlagen würde.
Und ein Bild seiner Mutter war in der Kiste.
Jules hatte es gerettet. Es gab ansonsten keine Fotos seiner Mutter mehr im Haus. Sein Vater hatte sie alle verschwinden lassen, aber Jules nie gesagt, wohin. Er hatte den Anblick nicht mehr ertragen. Deshalb war das Foto Jules’ allergrößter Schatz. Es war das letzte Passbild von vieren, die sie einst hatte machen lassen. Jules hatte es in einer Schublade gefunden, neben dem Gedichtband von Rimbaud, in dem sie immer wieder gelesen hatte. Auf dem Foto saß sie kerzengerade, die Brust herausgestreckt, ihre Locken adrett in Form gelegt, ernst in die Linse der Kamera blickend. Doch Jules sah das Lachen dahinter, sah, wie albern sie sich vorkam, und wusste einfach, dass sie laut losgelacht hatte, nachdem der Fotograf ihr endlich gesagt hatte, dass das Bild im Kasten sei. Dieses Lachen war bereits in ihren Augenwinkeln zu sehen und auf ihren Wangen, es wartete nur darauf, losgelassen zu werden. Seine Mutter hatte lachen können wie keine andere Frau auf der Welt.
Jules strich zärtlich mit den Fingerspitzen über das Foto, dann griff er sich das Schnitzmesser und klappte die Schatzkiste zu, ganz sanft, als würde er eine Bettdecke über seine Mutter legen.
Das Messer durfte er gar nicht haben. Er hatte es mit einem Schulfreund getauscht – für eine Flasche Calvados, die er im Lager des Vaters gestohlen hatte. Jules’ Vater hatte sich als Junge beim Schnitzen den Zeigefinger der rechten Hand abgetrennt. Deshalb durfte Jules nicht schnitzen – und deshalb wollte er es unbedingt. Und heute gab es nichts, was er mehr brauchte als dieses Messer.
Er hielt es fest umklammert, als er zum alten Louis lief, er durfte es nicht verlieren.
Doch Jules war nicht der Einzige, der bereits wach und auf der Straße war. Auch Guillaume, der Sohn des Apothekers auf der Route des Forges de Clermont, und dessen beide Freunde fanden sich dort. Als sie ihn um die Ecke auf sich zulaufen sahen, grinsten sie, die Gesichter wie Fratzen, und sie bauten sich auf, um ihm den Weg zu versperren.
Sie durften das Messer nicht bekommen! Jules schob es sich in die Unterhose, ganz nach vorne.
»Guckt mal, wer da kommt. Der Junge ohne Mutter!« Guillaume tat, als wische er sich eine Träne fort. »Armer Jules, ist ganz allein. Armes Kind einer Selbstmörderin!« Die anderen folgten Guillaumes Vorbild und weinten ebenfalls theatralisch, dabei aber laut lachend.
Jules hatte sich damals im Kleiderschrank der Eltern versteckt. Sein Vater hatte ihn lange gesucht, doch er hatte nicht geantwortet. Jules hatte sie zuvor gefunden und bereute es. So hätte er sie niemals sehen sollen. Seine Mutter hatte am Fuß der Felsen gelegen, die man die Schwarzen Kühe nannte. Ihr Kopf wie eine Nuss gesplittert, die man geknackt hatte. Er hatte es vergessen wollen. Kein Wort darüber! Als sein Vater den Kleiderschrank öffnete, hatte er Jules in die Arme geschlossen und geweint. Es war das erste und einzige Mal, dass er seinen Vater hatte weinen sehen, das einzige Mal, dass er von ihm in die Arme geschlossen worden war. »Sag uns, Jules, warum ist sie denn gesprungen, deine Mutter?«
Jules wusste, was sie hören wollten, doch er presste die Lippen aufeinander.
»Ich sag dir, was alle im Dorf sagen, was jeder weiß: weil du so eine Enttäuschung für sie warst! Das hat sie nicht mehr ertragen. So einen erbärmlichen Sohn zu haben, über den alle lachen.«
Er spürte die Tränen, doch er hielt sie zurück. Diese Genugtuung wollte er ihnen nicht geben. Was sie sagten, konnte nicht wahr sein. Oder doch? Sein Vater hatte nie darüber gesprochen, warum sie gesprungen war. Und so gab es diesen Zweifel in Jules, der sich wie ein borstiges Insekt in sein Herz bohrte. Was, wenn sie recht hatten, was, wenn er nicht gut genug gewesen war? Nicht brav genug? Er hatte Widerworte gegeben, sich nicht immer die Hände vor dem Essen gewaschen, war häufig mit dreckiger Kleidung nach Hause gekommen, und auf dem Zeugnis hatten nicht nur gute Noten gestanden. Er hatte sie sogar einmal angeschrien, rund zwei Wochen bevor es passiert war. Jules war so wütend gewesen, weil sie ihm gesagt habe, er sei noch zu klein für ein eigenes Segelboot, das er sich so sehr wünschte, und dass er keines zum Geburtstag bekommen werde. Es sei auch sehr teuer. Heute wünschte er, er hätte sie damals umarmt, statt zu schreien. Nur eine Umarmung noch mit seiner Mutter, einmal noch ihre Geborgenheit spüren, nichts wollte er mehr.
Aber vielleicht war er schuld daran, und nur er allein, dass er diese nie wieder würde fühlen können.
Jules wollte zurück in den Kleiderschrank, wollte die Türen schließen und die Welt aussperren.
»Och, guckt, jetzt weint es, das Baby. Davon kommt deine Mutter auch nicht zurück! Hättest mal ein guter Sohn sein sollen!«
Jules rannte los, doch sie waren schnell, sie hielten ihn fest, die beiden Lakaien von Guillaume. Dieser krempelte seine Ärmel hoch und schlug ihn mit den Fäusten in den Bauch. »Das ist für deine Mutter.« Und dann trat er ihn ins Gemächt, das eingeklappte Messer bohrte sich in sein Fleisch, der Schmerz war unvorstellbar. Die Luft blieb ihm weg.
Doch sie ließen von ihm ab.
Jules versuchte zu laufen, doch er schaffte nur ein Humpeln, so sehr krümmte ihn der Schmerz zusammen.
»Muttermörder!«, rief Guillaume noch, dann rannten sie johlend Richtung Sportplatz.
Als er unter dem schützenden Blätterdach des alten Louis ankam, hatte die Luft wieder Platz in seinen Lungen gefunden und sein Rücken sich aufgerichtet. Jules’ Gesicht war nass vor Tränen. Die Welt war wie hinter einer Scheibe voll Regen gewesen, doch nun klärte sich sein Blick. Er stand vor dem Apfelbaum und klappte das Messer so andachtsvoll auf, als sei er ein Priester und hebe einen Kelch empor. Dann suchten seine Augen den Stamm ab, suchten die richtige Höhe und die schönste Stelle in der Rinde, ohne Unebenheiten, damit alles gut lesbar sein würde. Er nahm eine der wenigen, die von der Sonne beschienen wurden, damit jeder sie auch gleich sah. Wie eine Lichtreklame, so hell. Jules hatte den Text in der Nacht vorgeschrieben und bei jedem Wort überlegt, ob er es auch richtig schrieb. Es war wichtig, dass nichts falsch war, dass keiner es für einen Scherz hielt. Denn das war es nicht. Ganz im Gegenteil.
Suche nette Haushälterin für meinen Vater, dem alles über den Kopf wächst & der sein Glück verloren hat. Alter egal. Sie muss ihn nur wieder zum Lächeln bringen.
Jules Lignier
Le Lieu Joan (ganz am Ende)
Beuvron-en-Auge
(Sie können auch sonntags kommen, bin fast immer da)
Es dauerte lange, bis er alles eingeritzt hatte, und danach begutachtete er ganz genau, was er geschrieben hatte. Das »J« von seinem Namen war etwas lang geraten, weil er mit der Klinge abgerutscht war, aber ansonsten war alles perfekt.
Jetzt würde alles gut.
Für seinen Vater. Und auch für ihn.
Den alten Louis kannten doch alle. Bald würde jemand lesen, was er geschrieben hatte, und kurze Zeit später würde es bei ihnen klingeln.
Er würde jetzt jeden Tag warten und nicht mehr hinausgehen, um sie nicht zu verpassen.
Jules würde die Tür öffnen, und sie würde ihn anlächeln.
Er wusste es. Denn er hatte es die ganze Nacht hindurch vor sich gesehen.