Zwei

Tante Alma erinnerte Henni stets an ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen. Ihre altmodische Dauerwelle kriegte sie nie in den Griff, und ihre grauen Löckchen lagen fluffig auf ihrem Kopf wie vom Wind zerzauste Daunen. Ihre schmale prominente Nase trug nicht unwesentlich zu ihrem Vogeläußeren bei. Zudem war sie so klein und zierlich, dass man sie sogleich beschützen wollte, egal wovor. Nur ihre Stimme war für ihre fast achtzig Jahre erstaunlich jung und kräftig.

»Henni, mein Kind! Da bist du ja!«

»Hallo, Tante Alma.«

»Ich hätte dich ja kaum wiedererkannt. Was hast du nur mit deinen Haaren gemacht?«

»Neue Farbe. Pechmarie-Schwarz.« Henni lachte und zupfte an ihrem kurzen Pony. Mit ihrer Frisur hatte sie sich inzwischen arrangiert. Sie sah damit nicht mehr so aus wie alle. Zwar war sie immer noch mittelalt und mitteldünn, aber nicht mehr mittelblond. Ein Grund weniger, sich »Henni Mittel« zu schimpfen, wenn sie wütend auf sich war. Sie schob ihr Rad in einen freien Fahrradständer, dann umarmte sie ihre Tante. Die alte Dame hatte den Dottenfelderhof als Treffpunkt vorgeschlagen, und Henni war den Weg von Nied bis hierher nach Bad Vilbel geradelt. Eine gute Stunde Strampeln in frischer Luft, die meiste Zeit am Flüsschen Nidda entlang, das machte den Kopf frei.

»Lass uns für dich einkaufen, Kind.« Tante Alma fasste sie am Arm und wollte sie in Richtung des großen Hofladens ziehen, der wie eine überdimensionale hölzerne Auster im Sonnenschein lag. »Du brauchst bestimmt Gemüse, Brot und Käse. Das meiste produzieren sie hier selbst, es kommt frisch vom Feld, aus dem eigenen Holzofen oder von glücklichen Kühen.«

»Das ist lieb von dir«, wehrte Henni ab, »aber ich habe ein anderes Attentat auf dich vor, Tante Alma. Ich bin Job und Wohnung los. Kann ich eine Zeit lang bei dir wohnen? Nur ein paar Wochen, bis ich wieder Tritt gefasst habe?«

So, nun war es schon heraus.

Alma zwinkerte nervös. Für Henni sah es aus, als wollte sie sie mitsamt ihrem Anliegen wegbeamen, aber der Tante war wohl nur ein Insekt ins Auge geraten, so rasch, wie sie sich wieder fasste.

»Lass mich nachdenken. Die Scheune, die dein seliger Onkel Artur uns zur Wohnung ausgebaut hat, ist ja ziemlich groß. Aber ganz ehrlich? Wohngemeinschaften hatte ich in meiner Jugend, so was brauche ich heute nicht mehr.«

»Und das eigentliche Haus, das kleine Fachwerkbauernhaus an der Straße?«, beharrte Henni.

»Ach, das meinst du. Dir ist schon klar, dass es alt und halb verfallen ist? Wir haben es anfangs vermietet, aber die Ansprüche der Mieter stiegen mit der Zeit, und nachdem Artur gestorben war, hatte ich keine Lust mehr auf große Umbauten. Da habe ich das Häuschen einfach sich selbst überlassen. Die Fenster sind zugig, durch das Dach pfeift der Wind, und es gibt nur einen alten Ofen.«

»Du übertreibst doch, Tante«, schmeichelte Henni. »Außerdem haben wir Sommer. Da muss ich nicht heizen, und wenn es ein wenig reinregnet, wische ich es einfach wieder auf. Solange ich keine Eimer aufstellen muss …«

»Wir können uns die Sache ja mal ansehen«, gab Alma nach. »Aber vorher müssen wir uns unbedingt stärken.« Mit ihrem Spazierstock wies sie zum alten Hofgebäude hin. Es lag ein paar Meter entfernt auf der anderen Seite der Fahrbahn. Ein Café war dort eingezogen, und es gab einen großen Außenbereich mit Tischen und Stühlen.

Henni nickte und fasste ihre Tante unter.

»Was darf ich dir bestellen?«, wollte Alma bereits auf dem Weg dorthin wissen. »Engadiner Nusstorte oder Bobbes? Die machen hier übrigens einen Frankfurter Kranz, da wird die Mainmetropole neidisch. Sie nehmen dazu einen Teil Dinkelmehl, das macht den Kuchen schön locker und saftig. Und ihre Buttercreme ist nicht so mächtig.«

»Das klingt doch gut.«

»Im Alter verträgt der Magen nichts Schweres mehr, weißt du, und bei Zucker und Fett ist besondere Vorsicht geboten.«

»Hm, ja.« Henni war in Gedanken bei ihrem Geburtstagskränzchen in der Goldenen Waage. Sie sah Niko vor sich am Tisch sitzen, gepflegt wie immer, und neben ihm Doris mit ihren verregneten Panda-Augen.

Ob er glücklich mit ihr war?

Plötzlich knallte ihr etwas gegen die Wade, und Henni schrie gellend auf. Jemand war ihr von hinten in die Beine gefahren.

»Autsch! Was zum Henker …?« Sie drehte sich um und rieb sich die schmerzende Stelle. Der Übeltäter war ein vielleicht fünfjähriger Pimpf, der auf einem grünen Spielzeugtraktor saß.

»Hab ich dir wehgetan?« Weinerlich verzog er das Gesicht.

War sein Mitleid mit ihr so groß, oder fürchtete er sich vor einer Strafe? Henni wollte das Kind trösten und suchte nach passenden Worten. Ihr Blick fiel auf eine Tafel an der Hauswand, auf der die Gerichte des Tages angepriesen wurden. Mit bunter Kreide hatte jemand einen Spruch dazugeschrieben: Power to the Bauer. Sie musste lachen, was der Junge wohl als Geste des Verzeihens ansah. Brummend ahmte er einen Motor nach, stieß sich mit den Füßen vom Boden ab und fuhr auf seinem Traktor davon.

Tante Alma dirigierte sie an einen Tisch im Außenbereich des Cafés. In Sichtweite befand sich ein Spielplatz, auf dem Kinder über hölzerne Stege balancierten. An den Tischen ließen Väter Babys auf ihren Knien hopsen, Hunde lagen schläfrig zu Füßen ihrer Frauchen. Es roch nach Heu und frischem Kaffee. In Henni kam Bullerbü-Feeling auf.

»Kommst du öfter hierher?«, fragte sie Alma.

»So oft ich kann. Ich hab’s ja nicht weit.« Almas Miene besagte, dass sie sich ihrer Privilegien bewusst war. »Was macht deine Wade? Wirst du nachher laufen können, oder muss ich dich huckepack nehmen?«

»Nein danke, es geht schon wieder.« Niko hatte sie mal auf dem Rücken gefühlt durch halb Frankfurt getragen. Sie hatten das Museumsuferfest besucht, und an Hennis High Heels war ein Absatz abgebrochen. »Das kommt davon, wenn man sich derart in Schale wirft«, hatte Niko gelästert. Aber dann hatte er sie klaglos auf dem Rücken bis zum Taxistand geschleppt. Sie waren beide ein bisschen angeheitert gewesen, schließlich hatten sie ein paar Cocktails intus gehabt. Und Henni hatte die ganze Zeit albern gekichert.

Als die Bedienung an ihren Tisch kam, orderte Alma Kaffee und Kirschstreuselkuchen, Henni beließ es bei einem Wasser. Sie wollte bei ihrer Tante einziehen, ihr aber nicht auf der Tasche liegen.

»Du hast also deine Arbeit verloren?«, ging Alma zu den wichtigen Themen über.

»Ja, die Boutique im Flughafen musste leider schließen, die gibt es nicht mehr.«

»Schade. Den Job hast du geliebt, nicht wahr?«

»Oh ja! Ich mag es einfach, schicke Klamotten um mich zu haben. Und meine Kundinnen waren ausnahmslos interessant.«

Füllige Schönheiten auf der Suche nach einem Badeanzug für den Strand, der zwei Kilo Bauchfett wegschummelte. Businessfrauen, die noch schnell ein Kostüm für ein Meeting brauchten, Preis egal. Herren mit grauen Schläfen, die ganz dezent ein paar Dessous erstanden. Alle erwarteten sie große Abenteuer, und ihr Reisefieber hatte sich oft genug auf Henni übertragen.

»Der Duft von Shalimar und Kerosin«, hatte Niko gewitzelt, wenn sie ihm davon erzählte. Bei Flugzeugen konnte er an nichts anderes denken als an Energieverbrauch und Klimakrise.

»Und deine Wohnung bist du auch los?«, hakte Alma ungläubig nach.

Henni nickte traurig. »Die Tochter meines Vermieters soll sie übernehmen. Eine freche Göre, die Filmemacherin werden will. Ihr Herr Papa ist ganz wild darauf, sie in die Wohnung zu verpflanzen. Ich kann es ihm leider nicht verdenken, immerhin gehört sie ihm ja.«

»Trotzdem schade«, meinte Alma. »Vor allem, wo du in der Wohnung so glücklich warst. Mit Niko.«

Henni gab sich alle Mühe, die Erwähnung von Nikos Namen zu überhören. Es klappte.

Eine junge Frau brachte ihre Bestellung an den Tisch, und Alma machte sich gut gelaunt über ihren Kirschkuchen her.

»Erzähl mal, was es sonst noch Neues gibt«, bat sie. »Was macht mein kleiner Bruder so?«

Henni nippte an ihrem Wasser. Ihr Vater hatte sich nach dem Tod ihrer Mutter in ein Bergdorf in Italien zurückgezogen, wo Henni und Niko ihn noch kurz vor ihrer Trennung besucht hatten. Wie eine Weltreise war ihr die Fahrt in den abgelegenen Ort vorgekommen. In Serpentinen schlängelte sich die Straße durch das Gebirge, und vor jeder schlecht einsehbaren Kurve hatte Niko sicherheitshalber mehrmals gehupt.

»Die Italiener machen das auch so«, hatte er sich verteidigt, als Henni die Huperei zu viel geworden war. Und tatsächlich hatte ihr Vater Nikos Verhalten später für richtig erklärt. Nur wer ständig hupte, kam unversehrt bei ihm an. Das Dorf, in dem er nun lebte, war Henni wie eine Kuriosität vorgekommen. Es gab gefühlt nur eine Handvoll Einwohner, und wie es schien, wussten alle genauestens übereinander Bescheid. In wollenen schwarzen Kleidern, die für die dort herrschenden Temperaturen viel zu warm waren, hatte eine ältere Frau vor Vaters Haus gestanden und auf sie gewartet.

»Sono arrivati«, sie sind angekommen, hatte sie lautstark verkündet, als Niko und Henni aus dem Auto ausstiegen. Besuch aus Deutschland! Offenbar waren sie die Attraktion des Tages gewesen.

»Papa wandert über die Berge, und in seinem kleinen Garten baut er Tomaten an«, berichtete Henni nun. »Wir telefonieren öfter mal. Er ist wohl gern allein und hat versprochen, sich zu melden, falls er uns braucht.«

Am Tisch gegenüber nahm eine Frau mit drei kleinen Kindern Platz. Sie neckten einander, zogen sich gegenseitig an den Haaren, und eines versteckte sich unter dem Tisch. Ihre Mutter widmete sich gelassen der Speisekarte. Mit einem Mal hörte Henni ein Quäken, das zu keinem der Kinder gehörte. Die Mutter griff hinter sich, wo sie allem Anschein nach einen Kinderwagen abgestellt hatte, und zauberte auch noch ein winziges Baby daraus hervor. Kaum saß es auf ihrem Schoß, war es zufrieden, riss seine großen Augen auf und starrte Henni stumm und wie gebannt an.

Henni seufzte leise. Drei Jahre lang hatte sie versucht, Niko zu einem Kind zu überreden. Aber alle Liebesmühe war vergeblich gewesen. Die Verantwortung für einen neuen Erdenbürger wollte er nicht übernehmen. Er sah nur Überschwemmungen, Feuersbrünste, Dürren und Hungerplagen in einer nahen Zukunft, die er niemandem zumuten mochte, schon gar nicht dem eigenen Kind.

»Hast du noch Kontakt zu Niko?«, fragte Alma wie aufs Stichwort. »Ich habe ihn immer gemocht. Er war so ein hübscher Kerl und obendrein sehr nett.«

»Hübsch und nett ist er nach wie vor. Gerade gestern habe ich ihn zufällig getroffen.«

»Und? War er allein?«

»Er hatte eine blonde Frau dabei. Doris, er hat sie mir vorgestellt.«

»Vermisst du ihn noch?«

Henni schüttelte den Kopf. »Unsere Einstellungen zum Leben sind zu verschieden, daraus konnte nichts Gemeinsames erwachsen.« Sie hoffte, dass das Thema damit abgeschlossen war.

Das Baby schaute sie immer noch an. Ein paar Meter entfernt hob ein Vater seinen Sohn auf die Schultern und lief im Galopp mit ihm davon. Der Kleine juchzte laut auf. »Lauf, Pferdchen, lauf!«, hörte Henni ihn rufen.

In den Jahren mit Niko hatten die Diskussionen um den Nachwuchs sie viel Kraft gekostet. Sie hatte ihm vorgeschlagen, ein Kind zu adoptieren, eines, das es auf dieser Welt schon gab. Der Vorschlag war ihm entgegengekommen. Doch dann hatte ihn ein wichtiger Termin daran gehindert, sie zur Adoptionsstelle zu begleiten. Ganz allein hatte sie der Vermittlerin gegenübergesessen.

»Werden Sie weiterhin arbeiten?«, war sie gefragt worden.

»Aber sicher«, hatte sie stolz gesagt.

Es war die falsche Antwort gewesen. Man gebe die Kinder lieber an Mütter, die tagsüber daheimblieben, hieß es, adoptierte Kinder bräuchten besonders viel Zuwendung von ihren neuen Bezugspersonen, da die Bindung, die bereits im Mutterleib entstehe, ja wegfiele.

»Dann arbeite ich eben nicht«, war Henni umgeschwenkt. Niko würde es als gut verdienender Freelancer bestimmt schaffen, eine kleine Familie allein zu ernähren.

In den Ohren der Vermittlerin hatte ihre Antwort wohl zu kess geklungen, sie runzelte kritisch die Stirn. »Darf es auch ein behindertes Kind sein?«, lautete ihre nächste Frage.

Henni hatte unschlüssig die Schultern gehoben. »Was genau meinen Sie damit?«

»Wie behindert darf das Kind sein, das Sie adoptieren?«

Nun war Henni nervös geworden.

»Alle wollen ein gesundes neugeborenes Kind, verstehen Sie? Aber nicht alle Kinder, die wir an Adoptiveltern vermitteln müssen, kommen so zur Welt. Wenn Sie wirklich ein Kind adoptieren wollen, sollten Sie überlegen, eins mit einer Behinderung zu akzeptieren.«

Henni hatte versucht, sich das vorzustellen: Pflege rund um die Uhr. Arztbesuche. Sonderschule. Auch sie wollte mit ihrem Kind auf dem Spielplatz herumtoben. Im Kino über Kinderfilme gemeinsam lachen. Zusehen, wie es das Seepferdchen machte. War das zu egoistisch? Vielleicht.

»Oder Sie müssten ein schwarzes Kind annehmen«, hörte sie die Vermittlerin sagen. »Wie schwarz darf es für Sie sein?«

»Ja sind wir denn hier auf einem Basar?« Henni war abrupt aufgestanden, fast hätte sie den Tisch umgeworfen, an dem sie mit der Vermittlerin gesessen hatte. Aufgewühlt war sie nach Hause gelaufen. Ein farbiges Kind? Klar, warum nicht? Aber seit wann konnte man über die Hautfarbe eines Menschen verhandeln wie über die Farbe eines Abendkleides? Nie mehr hatte sie mit Niko über Adoption gesprochen.

***

Den Weg nach Dortelweil gingen sie zu Fuß. Für ihr Alter schritt Alma zügig voran, nur hin und wieder schien sie nach Atem zu ringen. Henni trottete mit ihrem Rad neben ihr her, eine Hand am Lenker. Sie passierten Wiesen, auf denen Hühner gemächlich pickend durchs Gras staksten, und Äcker, auf denen Störche nach Essbarem suchten. An einer Schranke mussten sie einen Regionalzug vorbeilassen. Alma sah ihm einen Moment versonnen nach. »Der fährt ins Keltenland.«

»Dorthin, wo diese Sandsteinstatue gefunden wurde?« Davon hatte Henni im Internet gelesen. Gräber aus keltischer Zeit waren vor fast drei Jahrzehnten in der Wetterau entdeckt worden, dazu Grabbeigaben und die Überreste von vier lebensgroßen Statuen. Halbwegs unversehrt war nur einer der steinernen Männer gewesen, ihm fehlten lediglich die Füße, und die Bevölkerung hatte rasch einen Namen für ihn gefunden. »Der Keltenfürst vom Glauberg«, erinnerte sich Henni.

»Ob er tatsächlich ein Fürst war, weiß niemand«, meinte Alma. »Vielleicht war er ein berühmter Feldherr, vielleicht ein hoher Priester. Auf jeden Fall war er eine wichtige Persönlichkeit. Aus hundert Kilometer Entfernung hat man ihm Met als Grabbeigabe gebracht.«

»Honigwein von so weit her?«, meinte Henni skeptisch. »Woher will man das heute noch wissen?«

Ihre Tante lächelte geheimnisvoll. »Das haben die Blütenpollen ausgeplaudert, die man im Met fand.«

Die Nachmittagssonne stand träge über der Landschaft, und auf einer kleinen Brücke legten sie eine Pause ein. Als wäre sie eine Fremdenführerin, wies Alma auf das Flüsschen unter ihnen, an dessen Ufern gelbe Teichrosen auf der Wasseroberfläche waberten. »Darf ich vorstellen? Die Nidda.«

Henni konnte nicht widerstehen. Sie lehnte ihr Rad ans Geländer, beugte sich vor, spuckte ins dahinziehende Wasser und genoss es, sich für Sekunden wieder wie ein Kind zu fühlen. Gebannt sah sie zu, wie ihr Speichel größer werdende Kreise zog, bevor er sich unter die seichten Wellen mischte.

»Früher war das hier ein schnurgerader Kanal, durch den das Wasser nur so hindurchschoss«, erzählte Alma. »Inzwischen hat man die Nidda an vielen Stellen aus ihrem zu engen Bett befreit. Hier darf sie nun wieder mäandern, und es herrscht neues Leben. Hör mal, wie die Frösche quaken! Es sind die liebestollen Männer. Das Weibchen erhört denjenigen, der sich am meisten anstrengt.«

»Arme Kerle. Bei so viel Konkurrenz …«

Kein einziger Frosch war zu sehen, aber dem Konzert nach, das sie gaben, mussten sie eine Heerschar sein.

Lachend zogen sie weiter. Ihr Weg führte sie eine kleine Anhöhe hinauf und geradewegs auf ein Ensemble alter Herrenhäuser zu, die einen Platz und eine Straße säumten.

»Wusstest du, dass mein Dorf sechshundert Jahre lang zu Frankfurt gehörte?« Alma schien sich in ihrer Rolle als Fremdenführerin wohlzufühlen. »Dortelweil war quasi der Gemüsegarten der freien Reichsstadt. Durch die Nidda und durch Haingräben war das Dorf wie eine Festung gesichert. Bis heute gibt es eine dreihundert Jahre alte Dorfmauer. Habe ich dir die tatsächlich noch nie gezeigt?«

Henni schüttelte den Kopf. »Wir sind immer viel zu sehr mit Kaffeetrinken und Ratschen beschäftigt, wenn ich dich besuche. Aber was sind denn Haingräben?«

»So nannte man tiefere Gräben, deren Aushub man am Rand zu einem Wall aufwarf und mit Hainbuchen und anderen Bäumen und Sträuchern bepflanzte. Es gab sie überall in der Gegend, durch manche floss Regen- oder Quellwasser. Im Mittelalter waren die Bauern nie sicher vor plündernden Soldatenheeren, und so mancher Wolf schreckte nicht davor zurück, sich am Vieh zu vergreifen. So konnten sie wenigstens die Höfe schützen. Die Ländereien der Gutsbesitzer lagen ja rund um das Dorf verstreut. Einige Parzellen gehörten auch Klöstern, andere dem Ritter Bechtram.«

»Alma, du bist ja ein wandelndes Lexikon!«

»Ich war mal Lehrerin, schon vergessen? Deutsch und Geschichte. Aber was ich dir hier erzähle, weiß man einfach, wenn man in der Wetterau lebt.

»Du meinst, jeder hier kennt diesen Ritter?«

»Na sicher. Der Ritter Bechtram wohnte in Vilbel in einer Wasserburg. Deren Ruine steht noch heute, und auch die können wir uns gern mal anschauen.«

»Hm, ja.« Henni sah etliche ermüdende Besichtigungstouren mit ihrer Tante auf sich zukommen, dabei suchte sie doch nur ein Dach über dem Kopf.

***

In ihrem Wohnzimmer durchsuchte Alma Schubladen, Kisten und Kästen. »Herrgott, wo hab ich nur die Schlüssel für das Häuschen? Magst du ein Glas Apfelsaft trinken? Ist von meinen eigenen Äpfeln hinten im Garten. Wir haben einen Apfelweinkelterer hier im Dorf, der hat sie mir gepresst.«

»Lieb von dir, aber nein danke.« Henni wollte das Häuschen sehen. Der Apfelsaft konnte warten.

Tante Alma eilte dennoch in die Küche, um ihr wenig später ein Glas Saft vorzusetzen.

Aus Höflichkeit trank Henni ein paar Schlucke. »Mmh, schmeckt gut!«

Ihre Blicke wanderten durch Almas Wohnzimmer. Dass der Raum einmal Teil einer Scheune gewesen war, ließ sich nicht leugnen. Dafür sprachen schon allein die hohen Decken und die luftige Weite. Das ehemalige Scheunentor war durch große Fenster ersetzt worden, und die wenigen Möbel verloren sich fast im Raum: ein hohes Bücherregal, ein Sofa, ein paar Sessel und eine Kommode. Auf dem niedrigen Couchtisch lag eine Ausgabe der Frankfurter Rundschau neben einer Obstschale voller Äpfel. Henni blätterte die Zeitung auf und vertiefte sich in die Stellenanzeigen. Rentner boten sich als Tapezierer und Gärtner an, ältere Frauen als Gesellschafterinnen. Ein Job für sie war nicht dabei, und zum Zeitvertreib wechselte sie zu den Kontaktanzeigen.

»Hör dir das an!«, rief sie amüsiert und las vor: »Welches Burgfräulein möchte sich in ihrer Freizeit von einem treuen Ritter begleiten lassen? Ich arbeite beim Theater. Alles kann, nichts muss.«

Alma zog den Kopf aus einer Schublade ihrer Kommode. »Das nenne ich mal knapp und bündig formuliert. Was hältst du davon, dem netten Ritter ein paar Zeilen zu schreiben? Vielleicht geht er mal mit dir aus. Du kannst deinem Niko ja nicht ewig nachtrauern.«

»Tue ich das denn?«

»Na, so ein bisschen machst du auf mich schon den Eindruck.«

»Ach was, Niko ist Geschichte.«

»Wenn du meinst …« Alma kramte seelenruhig weiter, und Henni befürchtete, dass sie die Druckerschwärze aus der Zeitung gelesen hätte, bis ihre Tante die Schlüssel fand.

Die Burgfestspiele seien in vollem Gange, stand auf der Wetterauer Seite der Zeitung. Den ganzen Sommer über wurden bekannte Stücke gegeben, nachmittags sogar für Kinder. Eine Regieassistentin hatte Hals über Kopf ins Ausland geheiratet. Nun suchten sie dringend eine Vertretung.

»Diese Burgfestspiele, finden die in der Ruine von diesem Ritter Bechtram statt?«, fragte Henni in Richtung der Kommode, in der ihre Tante gewissenhaft das Unterste zuoberst kehrte. »Da könnte ich mich doch bewerben!«

Eine Schublade wurde krachend zugeschoben, und Alma stand wie aus dem Boden gewachsen vor ihr. »Aber Kind, als was denn?«

Henni dachte einen Moment darüber nach. Als Regieassistentin bräuchte sie Theatererfahrung, die sie nicht hatte. Aber vielleicht konnte sie einen anderen Job übernehmen.

»Kostümbildnerin?« Sie ließ das Wort in der Luft hängen.

Alma nahm ihr kopfschüttelnd die Zeitung aus der Hand. »Das ist kein Job, den man einfach so macht«, erklärte sie sanft. »Dazu brauchst du eine Ausbildung. Als Modedesignerin oder eben als Kostümbildnerin.«

»Von Verkleidung verstehe ich aber was«, beharrte Henni. »Was meinst du, was ich in der Boutique den ganzen Tag gemacht habe? Es gibt ja Kolleginnen, die immer nur beteuern: Ja, das passt prima. Das steht Ihnen ausgesprochen gut. Und das sagen sie selbst dann, wenn die Kundin in einem Kleid wie Wurst in Pelle ausschaut. Hauptsache, die Kasse stimmt. Aber das war nie mein Ding. Die wahre Kunst ist doch, etwas zu finden, das die Kundin gut aussehen lässt und ihren Charakter unterstreicht. Bei Theaterkostümen wird das nicht so viel anders sein. Und nähen kann ich auch.«

»Da magst du recht haben«, lenkte Alma ein. »Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass sie jemanden ohne Erfahrung nehmen. Frag doch mal nach, ob sie in der Kostümabteilung eine ungelernte Hilfe brauchen. Vielleicht kannst du die Kostüme für die Schauspieler bügeln.«

»Bügeln?«, maulte Henni. »Du traust mir ja nicht viel zu.«

»Ich bin nur realistisch. Und nun schau mich nicht länger an wie ein geschlagener Hund.« Alma faltete die Zeitung zusammen, legte sie auf den Couchtisch und fischte ein Bündel altmodischer langer Schlüssel aus der Obstschale. »Da sind sie ja!«, rief sie erlöst. »Die ganze Zeit haben sie sich zwischen den Äpfeln versteckt und nichts gesagt. Jetzt aber rasch ins Häuschen.«

Das alte Bauernhaus an der Straße bestand aus nur einem Raum, in den man eine Küchenzeile eingezogen hatte. Außerdem war ein winziges Duschbad abgetrennt worden. Vor dem zur Straße ausgerichteten Fenster stand ein wackliger Holztisch, an dem zwei verstaubte Stühle auf neue Bewohner warteten. Es gab einen Kaminofen, und die Holzscheite in dem eisernen Korb daneben verrieten, wie geheizt wurde. Eine Treppe führte zu einer Art Dachboden hinauf.

»Wir haben hier nur so lange gewohnt, bis die Scheune fertig war.« Alma klang fast entschuldigend. »Als wir vor vierzig Jahren hier herauszogen, haben unsere Frankfurter Freunde uns gefragt, was wir denn nur mit diesem kleinen Bauernhäuschen wollten. Aber Artur hatte das Potenzial der Scheune gleich erkannt. Dass er den Herzinfarkt bekam, kaum dass wir sie ausgebaut hatten und eingezogen waren, konnte ja keiner ahnen. Vielleicht denkst du, ich bin eigen, weil ich als Witwe so viel Platz für mich allein haben will. Aber es hat viel mit Artur zu tun. Die Erinnerung an ihn lebt mit mir in der Scheune, und ich mag sie mit niemandem teilen.«

»Das musst du doch auch gar nicht!« Henni zog die alte Dame in ihre Arme. »Dieses Bauernhäuschen ist ein Traum. Wenn du mich den Sommer über darin wohnen lässt, machst du mich glücklich.«

»Wenn es dir reicht.« Alma hob in einer unentschlossenen Geste die Schultern. »Willst du nicht erst einmal ausprobieren, ob du hier wohnen magst? Irgendwo habe ich noch eine Matratze, die können wir oben auf den Boden legen. Noch etwas Bettzeug, und du kannst heute Nacht Probe schlafen. Vielleicht brauchst du ja doch etwas Besseres.«

Henni winkte ab. »I wo. Ich weiß jetzt schon, dass ich mich hier wohlfühlen werde.«

Es war dunkel, als Henni das Häuschen für ihre erste Übernachtung hergerichtet hatte. Sie hatte die Böden gefegt und gewischt, die Küchenzeile glänzte, und durch die kleinen Fenster konnte man nun wieder hindurchsehen. Auf dem Dachboden lag eine Matratze unter einem Berg warmer Decken, die Alma ihr überlassen hatte. Gegen Morgen könnte es vielleicht kalt sein, hatte sie besorgt gemeint.

Henni machte ein Handyfoto von dem Taubennest, das sie in einer Ecke des Dachbodens entdeckt hatte. Sicher fiel ihr dazu noch ein Text für ihren Blog ein, ein Märchen vielleicht. Das Nest war nicht sonderlich kunstvoll geflochten, die Stöckchen und Grashalme wirkten wie nachlässig hingeworfen. Aber genau das hatte seinen Charme. Dann kam ihr ein anderer Gedanke. Was, wenn die Nesterbauer zurückkamen? Sie suchte das Dach nach Luken ab, durch die die Taubeneltern ihren Weg finden konnten, aber da war nichts. Vorsorglich schloss sie alle Fenster, bevor sie sich auf der Matratze ausstreckte. Der Schlaf drohte sie zu übermannen, als ihr Handy klingelte.

Es war Niko.

»Ich weiß, dass es schon spät ist«, entschuldigte er sich und klang dabei selbst schon schläfrig. »Sag mir nur rasch, dass dein Vermieter dich nicht auf die Straße gesetzt hat. Ich hätte eine unruhige Nacht, wenn ich mir vorstellen müsste, dass du unter den Mainbrücken logierst.«

Henni lachte leise. So kannte sie Niko. Egal, ob sie sich gerade vertrugen oder nicht, er war immer ritterlich besorgt um sie. Manchmal so sehr, dass es sie ärgerte, weil sie sich unter seiner Obhut wie ein Kind vorkam.

»Die Wohnung bin ich los, aber ich konnte Tante Alma das alte Bauernhäuschen abschwatzen. Ich fühle mich hier wie im Urlaub.«

»Wie im Hilton oder wie beim Survivaltraining?«, hakte er nach.

»Von beidem etwas«, meinte Henni.

»Okay. Dann schlaf gut und träum was Schönes. Du weißt ja: Was man in der ersten Nacht in einer neuen Wohnung träumt, geht in Erfüllung.«

»Danke, dass du mich daran erinnerst. Schlaf du auch gut.« Henni drückte das Gespräch weg und starrte in ihr dämmriges neues Zuhause. Durch das kleine Dachfenster drang der Schein der hohen Straßenlaterne und legte einen fahlen Schimmer auf das leere Vogelnest.