Elf

Der nächste Tag war aufführungsfrei. Henni verspürte ein Kratzen im Hals und beschloss, krankzufeiern und ein paar Stunden mit der Marquise von O… zu verbringen.

In ihrem Retter sieht Julietta erst einen Engel, dann einen Teufel. Es war gar nicht so schwer, sich die Geschichte in der Jetztzeit vorzustellen. Ein Discobesuch, Drogen aus Neugierde und Leichtsinn. Ein toller Typ, mit dem eine junge Frau die Nacht durchtanzt. Ein Blackout am Morgen. Keine Erinnerung an gar nichts.

Und dann? Wochen später lernt unsere Heldin einen interessanten Mann kennen. Sie ahnt nicht, dass es der Typ aus jener Disconacht ist, die für sie im Nebel des Vergessens versank. Er hingegen weiß genau, was damals zwischen ihnen geschah. Doch er lässt sie im Ungewissen, um sie nicht zu verlieren, ständig begleitet von der Angst, dass es das Ende ihrer Beziehung sein wird, sollte ihre Erinnerung erwachen. Kann sie die Wahrheit aushalten, wenn sie ans Licht kommt? Wird sie sich in Scham von ihm abwenden? Oder auf Rache sinnen?

Henni klappte ihren Laptop auf, stabilisierte ihren wackligen Tisch endlich mit einem Stück Pappe, das sie unter eines der Beine schob, und begann zu schreiben.

Bald war sie im Geiste in einem Tanzschuppen. Grelles Laserlicht durchzuckte den Raum, die Beats wummerten, und der Boden schien unter ihren Füßen zu vibrieren.

Es war bereits Nachmittag, als Alma an die Tür klopfte.

»Wieso verbringst du den ganzen Tag in deinem Häuschen, Kind? Musst du heute kein Theater machen?«

»Komm rein, Tante Alma, willst du einen Tee? Heute ist ein aufführungsfreier Tag. Die Schauspieler lernen daheim ihre Rollen, ich hab Halsweh, und Ansgar muss sich um den Lastwagen kümmern, den er zu Schrott gefahren hat. Einen Kontrolltermin beim Arzt hat er außerdem.«

»Ja, gern, was den Tee angeht. Aber was ist deinem Regisseur denn passiert?«

Henni fasste Ansgars Unfall kurz zusammen. »Es scheint nicht allzu schlimm zu sein, er hat nur eine Schramme am Kopf und eine verstauchte Hand.«

»Gut, dass er kein Tennisspieler ist«, bemerkte Alma. »Und wie gut, dass du hierhergezogen bist. Sonst hättest du weder eine so wundervolle Karriere begonnen noch einen so beeindruckenden Regisseur kennengelernt.«

»Das finde ich auch«, meinte Henni schmunzelnd. »Leider hat Ansgar bald sein nächstes Engagement, und zwar in London …«

»Ja was, und du?«, rief Alma erschrocken. »Ist dein Job als seine Assistentin damit nicht hinfällig?«

»Vorerst schon. Ich werde mich bei den Burgfestspielen jedoch irgendwie über Wasser halten«, versprach Henni selbstsicher. »Und wenn ich Prospekte verteile. Denn kommenden Sommer wird Ansgar für die Festspiele ein neues Stück auf die Bühne bringen. Mit mir!« Sie schlenderte zur Küchenzeile und setzte Teewasser auf.

Alma warf am Tisch einen neugierigen Blick auf das Display des Laptops. »Ist dies das besagte Stück?«

»Wer weiß? Ansgar wird das regionale Stück schreiben. Ich versuche mich an einer modernen Fassung der Marquise von O…«

»Du vergreifst dich an Kleist? Manchmal ist es gut, sich kleinere Ziele zu setzen«, riet Alma.

»Die da wären?«

»Deine Möbel herschaffen, zum Beispiel.«

»Ach, das brennt mir nicht auf den Nägeln. Die neue Bewohnerin wird Bett, Schrank und Sofa übernehmen. Den Rest habe ich gepackt und zur Seite gestellt, sodass sie schon mal einziehen kann. Alles andere wird sich finden.«

»Na, sag mal, so ein paar Kartons zu transportieren kann doch kein Hexenwerk sein!«, beharrte Alma. »Man muss nur den Richtigen um Hilfe bitten. Niko hätte das längst für dich erledigt.«

»Ja, ja, du und dein Niko!« Die Anteilnahme an ihrem Liebesleben würde Alma wohl nie auszutreiben sein. Am besten, sie hängte es tief und lebte damit.

Ein aromatischer Duft zog durch das Häuschen, als Henni den Kräutertee aufgoss. Eine Minute ließ sie ihn noch ziehen, bevor sie ihn servierte.

Alma hob unterdessen in einer Geste der Langeweile das Ginkgoblatt, das neben Hennis Laptop auf Kleists Gesamtwerk gelegen hatte, gegen das Licht. Sie drehte den Stiel zwischen ihren Fingern und murmelte etwas vor sich hin.

»Dass ich eins und doppelt bin«, glaubte Henni zu verstehen.

»Was meinst du denn damit?«

»Wenn ich dir mit meinen Deutschstunden nicht auf den Geist gehe?« Um Almas Mund zuckte ein selbstironisches Lächeln.

»Aber nein«, beteuerte Henni halb neugierig, halb höflich.

»Goethe schickte Marianne von Willemer, einer späten Liebe, einst ein Blatt von einem Ginkgobaum und schrieb ihr besagte Zeilen dazu«, begann Alma. »Sie wurde seine Muse und inspirierte ihn, unzählige Briefe gingen zwischen ihnen hin und her. Jahre später, Marianne hatte inzwischen geheiratet, pflückte Goethe im Heidelberger Schlosspark ein Ginkgoblatt für sie und stellte ihr eine Frage, zu der er ein ganzes Gedicht verfasste: ›Ist es eins, das sich in zwei teilt, oder zwei, die sich in eins verbinden?‹ Es war wohl das letzte innige Treffen des Paars. Sie waren nun beide in festen Händen und wussten, dass ihre Liebe keine Chance hatte.«

Henni sah ihre Tante mit angehaltenem Atem an. »Glaubst du, Ansgar hat das gewusst, als er mir das Blatt gegeben hat?«

»Bestimmt kennt er die Geschichte vom Ginkgoblatt.« Alma pustete auf ihren heißen Tee und nippte vorsichtig daran. »Aber ob er in dem Moment daran gedacht hat? Manche Gesten macht man unbewusst.«

»Mag sein«, gab Henni zu.

»Artur hat mir mal ein Blatt von einem Ahornbaum geschenkt. Da war er noch ganz klein.«

»Artur war klein, als du ihn kennenlerntest?«, neckte Henni ihre Tante. »Und später ist er noch gewachsen?«

»Mindestens noch einen halben Meter.« Alma kicherte. »Wir waren damals zehn Jahre alt und in der vierten Klasse. Artur war wirklich ein Kavalier. Er wartete vor dem Schulgebäude auf mich, wenn ich nachsitzen musste, weil ich ihm im Unterricht kleine Zettel zugesteckt hatte. Dann begleitete er mich nach Hause. Und weil wir noch nicht zu Ende erzählt hatten, als wir dort ankamen, begleitete ich ihn wieder zurück.«

»Und deine Eltern, haben die dich nicht am Mittagstisch vermisst?«

»Aber natürlich! Daheim setzte es regelmäßig Prügel für mein Zu-spät-Kommen, aber das war mir egal. Die Zeit mit Artur war einfach zu köstlich.«

»Aber worüber habt ihr euch die ganze Zeit unterhalten?« Henni verschluckte sich fast an ihrem Tee, so heiß war er.

»Worüber? Über die Bucheckern, die ich im Wald gesammelt hatte. Über ein krankes Kind aus der Nachbarschaft, das uns leidtat. Und über die Winnetou-Geschichten, die Artur mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen hatte.«

»Mein Gott, Alma!« Henni pustete nun ebenfalls in ihre Tasse. »Ich wusste nicht, dass man sich so jung schon verlieben kann.«

»Ich auch nicht«, gestand Alma. »Ich kannte niemand anderen, der verliebt war, und ich mochte auch niemanden fragen, schon gar nicht meine Mutter. Eine Zeit lang glaubte ich, ich sei unheilbar krank.«

»Und wie bist du darüber hinweggekommen?«

»Ein, zwei Jahre später fielen mir ›Die Abenteuer des Tom Sawyer‹ in die Hände. Du weißt schon, dieser Roman von Mark Twain. Und der gute Tom war doch so in Becky verknallt. Da wusste ich, dass es dieses Phänomen gab und dass ich alles andere als krank war.«

»Und diese Verliebtheit zwischen dir und Artur, die hatte über all die Jahre Bestand?«

Alma schien darüber nachzudenken. »Es war eher ein Auf und Ab. Als wir in die Pubertät kamen, wurden wir uns fremd. Später ging Artur mit einer anderen, so nannten wir das damals. Erst in der Uni haben wir uns wiedergefunden.«

»Was für eine Geschichte«, sagte Henni leise.

Eine Weile schienen Almas Erinnerungen im Raum zu schweben wie Szenen eines Films, die beide vor ihrem inneren Auge sehen konnten. Nur schwer fand Henni wieder in ihren Kleist-Thriller zurück. Alma ließ sie weitertippen und blätterte unterdessen in Kleists Lebenswerk. Mit ihr zusammen zu sein, ohne dass sie etwas Bestimmtes miteinander unternahmen, war fast so entspannend, wie mit Leo zu schweigen.

Als Henni ihr dreiseitiges Exposé fertig hatte, schickte sie es per Mail an Ansgar.

»Jetzt bin ich gespannt, was mein Regisseur dazu sagt. Drück mir die Daumen, Alma.«

»Das mache ich gern. Wollen wir gemeinsam zu Abend essen? Bei mir? Ich koche uns was Schönes.«

»Mein Hunger reicht, um einen Bären anzufallen. Wenn ich mich vorher noch frisch machen darf?«

»Kein Problem, bis das Essen fertig ist, dauert es eh einen Moment.« Alma erhob sich und ging zurück in ihre Scheune.

Henni spülte das Teegeschirr ab. Sie zog sich um und bürstete ihr Haar, das seine schwarze Farbe mit jeder Haarwäsche weiter verlor. Sie war schon fast aus der Tür, als auf ihrem Blog eine Nachricht eintrudelte.

Schon erstaunlich, zu was du fähig bist. Achtungsvoll, Ritter Bechtram.

Ein Gefühl der Genugtuung durchströmte Henni. Kaum dass sie ihm ihre Idee geschickt hatte, reagierte er. Ansgar musste ihr Exposé in einem Rutsch verschlungen haben. Wenn das nicht für sein Interesse an ihrer Arbeit sprach! Noch schöner fand sie, dass ihm ihre Story gefiel.

Als sie zu Alma hinüberging, schlug ihr schon im Hof der Duft von warmem Brot und gebratenem Speck aus dem offenen Fenster entgegen. Ihre Tante hatte hessischen Schmandkuchen gebacken. Auf einen Brotteig aus Roggen- und Dinkelmehl, Buttermilch und Sauerteig wurde eine Lage gekochte und gestampfte Kartoffeln gegeben, die mit Quark, Schmand und Eiern verrührt worden waren. Obendrauf kam eine Schicht aus kurz gebratenen Zwiebeln und Speckwürfeln, bevor das Ganze im Backofen landete, bis der Speck knusprig war.

Henni aß drei Portionen. »Das ist so lecker, da könnte ich mich glatt reinsetzen«, schwärmte sie. »Und dein gutes Geschirr hast du auch aufgedeckt, wie schön.«

Alma nahm die Komplimente mit erfreuter Miene entgegen. Die Tatsache, dass Henni ordentlich zugelangt hatte, war aber wohl ihr größtes Lob.

»Was ziehen wir beide morgen an?«, wechselte sie plötzlich das Thema.

»Wieso? Was ist denn morgen los?« Einen Moment lang stutzte Henni, dann fiel es ihr wieder ein. »Jesses, du meinst die Premiere der Agatha!« Sie hatte ihre Tante dazu eingeladen und freute sich schon darauf, sie zwischen Ansgar und sich sitzen zu haben. »Ich weiß gar nicht, wie der Dresscode lautet. Todschicke Bluse zu Jeans?«

»Ich und Jeans«, prustete Alma. »Obwohl … Als der King damals in Friedberg stationiert war, gewohnt hat er ja in Bad Nauheim, da hättest du uns mal sehen sollen. Wir haben uns extra für ihn aufgebrezelt. Ich sage nur: Petticoat und Stöckelschuhe! So hieß das damals. Den Ausdruck High Heels kannte noch keiner.«

»Elvis, the Pelvis«, raunte Henni respektvoll. »Ihr müsst damals viel Spaß gehabt haben.«

»Und ob. Ich war ja erst fünfzehn, und meine Freundinnen waren kaum älter. Nach Nauheim sind wir getrampt, Geld für den Zug hatten wir nicht. Und dann haben uns vor seinem Hotel die Beine in den Bauch gestanden, nur um einen Blick auf ihn zu erhaschen!« Sie winkte lachend ab. »Aber keine Angst. Morgen ziehe ich ganz was Gediegenes an. Mein kleines Schwarzes.« Es klang, als habe sie das soeben entschieden, dann setzte sie zögernd nach: »Sofern es nicht zu heiß wird.«

Henni fragte sich, was das wohl für ein Frühstück-bei-Tiffany-Kleid sein mochte, als ihr Handy klingelte.

»Geh ruhig ran«, meinte Alma.

Es war Ansgar.

»Ich werde es morgen nicht zur Premiere schaffen«, sagte er unumwunden. »Mein Kopf, weißt du. Seit meinem Unfall ist bei mir Hammerwerfen in der Gedächtnishalle angesagt. Es ist schade, aber … Nimm du meine Blumen für mich in Empfang.«

»Wie bitte? Was ist denn los?«

»Ganz ehrlich? Ich brauche unbedingt eine Auszeit. Du schaffst das auch ohne mich. Das hast du schließlich überzeugend bewiesen. Ich melde mich, wenn ich wieder auf dem Damm bin.«

»Ja, tu das, aber …« Henni glaubte, der Boden schwanke unter ihren Füßen. Gemeinsam hatten sie bei den Proben alles gegeben, und nun würde Ansgar bei der Premiere nicht dabei sein? Wie fad fühlte sich das an? »Kann ich noch irgendetwas für dich tun?«, flüsterte sie enttäuscht.

Ein längeres Schweigen entstand.

»Du bist so lieb«, sagte er, und seine Stimme verriet, dass er gerührt war. »Was immer jetzt passiert, denk dran, dass ich dich gernhabe, ja?«

Henni wurde flau im Magen. Der Schmandkuchen fühlte sich in ihrem Bauch gar nicht mehr wohl.

»Ich werde uns eine hinreißende Marquise schreiben«, versprach sie, da ihr nichts Besseres einfiel, womit sie ihn trösten und aufmuntern könnte. »Eine umwerfende moderne Fassung der Marquise von O… Besser als jeder Krimi. Gleich nach dem Abendessen setze ich mich dran, und wenn es sein muss, schreibe ich die ganze Nacht hindurch.«

»Ach, Henni!«, sagte er nur. Und dann: »Gute Nacht.«