Zwei Tage später stand Henni morgens unter der Dusche und wusste kaum noch, wer sie war. Ein übles Kopfweh plagte sie, ihr Körper kribbelte, und sie fühlte sich wie auf einer Achterbahnfahrt. In den letzten sechsunddreißig Stunden hatte sie kaum geschlafen und fast durchgehend an ihrem Text gearbeitet. Lediglich zur Premiere der Agatha war sie mit Alma in der Burg gewesen. Jetzt war ihr Stück fertig, sechzig Seiten voller Anweisungen und Dialoge, geschrieben wie ein Drehbuch. Sie hatte sich einfach einen Film vorgestellt und die einzelnen Szenen minutiös festgehalten.
Ansgar musste es so rasch wie möglich lesen.
Wie ging es ihm überhaupt? Was machte sein Kopfweh?
Henni trank drei Tassen Kaffee, nahm ein Aspirin, schlüpfte in ihre Kleider und schwang sich draußen auf ihr Rad. An der Nidda wurde sie von Nilgänsen mit lautem Geschnatter begrüßt. Ein paar Schulkinder spielten am Ufer und warfen Steine ins Kehrwasser. Hatten sie eine Freistunde, oder schwänzten sie den Unterricht? In einem Schrebergarten stützte sich ein müder Hobbygärtner auf einen Spaten und betrachtete seine Rabatten. Ein Arbeiterdenkmal, so nannte ihr Vater diese Ruhehaltung, die er selbst gern einnahm. Im Geiste sah sie ihn in Italien zwischen seinen Tomatenpflanzen stehen.
Dann hatte sie die Stadt erreicht. Am Gebäude hinter der Burg, in dem sich die Apartments der Festspielleute befanden, stellte sie ihr Rad ab. Schellen oder nicht schellen? War sie zu vorlaut? Zu drängend? Ach was, sie hatte sich die Finger für ihn wund geschrieben und ein Stück ersonnen, das ihr ausnehmend gut gefiel und das Furore machen würde, wenn Ansgar es inszenierte – an welcher Bühne auch immer. Ihr Exposé hatte ihn ja bereits beeindruckt. Hätte er ihr sonst unter dem schützenden Deckmantel des Ritters Bechtram eine so achtungsvolle Rückmeldung zukommen lassen? Erstaunlich, zu was du fähig bist, hatte er ihr gemailt.
Sie suchte auf den Klingelschildern nach seinem Namen, als Giselle aus dem Haus trat. Zu Sneakers und Leggins trug sie einen Pullover in Übergröße, der ihr fast bis zu den Knien reichte. War das jetzt modern? Ihr langes blondes Haar hatte sie zu einem Knoten gezwirbelt, der wie ein Krönchen auf ihrem Kopf saß. Sie sah glücklich aus, aber auch übernächtigt und müde, obwohl die Sonne längst hoch am Himmel stand.
»Oha, entschuldige bitte«, stammelte Henni. »Ist der Ansgar da?«
Giselle sah sie an, als müsse sie erst lange darüber nachdenken.
Im Haus ging eine Wohnungstür auf, und Aimée trat im Morgenmantel in den Flur. »Vergiss mein Mohnbrötchen nicht«, rief sie Giselle zu und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
Henni sah rätselnd von einer zur anderen.
»Heute ist keine Probe«, klärte Giselle sie auf. »Ich will gerade zum Bäcker.«
»Und Ansgar?«, fragte Henni.
Giselle zögerte. »Du, ich weiß gar nicht, ob ich dir das sagen soll. Aber der wohnt schon seit seinem Unfall im Golfhotel.«
»In Dortelweil?« Hennis Stimme kippte.
»Ich denke schon.« Giselle zog ihr Portemonnaie hervor und schaute hinein, als ob sie ihr Brötchengeld zählen wollte. »Ich muss auch mal rasch los«, meinte sie. »Wenn ich zu spät komme und die Mohnbrötchen ausverkauft sind, geht Aimée zur Strafe nie mehr mit mir meinen Rollentext durch.«
»Tatsächlich?«, fragte Henni irritiert.
»Kleiner Scherz.« Giselle klappte ihr Portemonnaie wieder zu und steckte es ein. »Von mir hast du das nicht mit dem Golfhotel«, rief sie im Weggehen über die Schulter zurück.
Henni nahm den Weg über die Felder, der etwas kürzer war als die Strecke entlang der Nidda. Sie passierte den Biohof, auf dem sie sich vor nicht einmal zwei Wochen mit Tante Alma getroffen hatte, und es kam ihr so vor, als sei das eine Ewigkeit her. Tatsächlich war in dieser Zeit viel geschehen. Sie hatte ein Häuschen für sich gefunden, war in die Welt des Theaters eingetaucht. Und sie hatte Ansgar kennengelernt.
Der Arme litt hoffentlich nicht zu sehr unter den Folgen seines Unfalls. Es musste schlimm um ihn stehen, wenn er nicht nur der gestrigen Premiere ferngeblieben war, sondern sich obendrein in ein Hotel zurückgezogen hatte, um etwas Ruhe zu haben. Sie hätte ihm etwas Nettes mitbringen sollen. Rotkäppchen würde Wein und Kuchen im Körbchen zu ihm tragen, dachte sie. Andererseits wollte sie sich nicht mit Besorgungen aufhalten. So rasch wie möglich musste sie ihn in ihre Arme ziehen und trösten. Also beließ sie es dabei, sein Schneewittchen zu sein.
Die Wetterauer Felder lagen still in der Sonne. Am Wegesrand saß eine Frau mit einem kleinen Mädchen auf einer Bank. Die beiden ließen sich von einem halben Dutzend neugierigen Kühen bestaunen, die, nur durch einen Zaun von ihnen getrennt, auf der Wiese standen und die Fliegen von ihrem Fell wedelten.
Zoo verkehrt herum, kam es Henni in den Sinn.
Sie beugte sich über den Lenker, um mit mehr Kraft in die Pedale treten zu können. Eines der beiden quietschte abscheulich, und sie geriet außer Atem, als sie die Anhöhe zum Dorf in Angriff nahm. Links, rechts, vorbei an den alten Herrenhäusern und rüber zum Golfplatz. Auf dem Parkplatz vor dem Hotel leuchtete ihr ein gelber Roadster entgegen, und sie erkannte das Sportauto wieder, mit dem Ansgar sie zur Probe hatte abholen wollen. Er war also hier. Und es musste ihm wirklich dreckig gehen. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft gefunden, das Verdeck des Autochens zu schließen.
Im Hotel strebte Henni sogleich in die Lobby, wo eine angenehme Kühle sie empfing. Sie strich sich die verschwitzten Haare aus der Stirn und zog den Stick, auf den sie ihr Stück gespeichert hatte, aus ihrer Handtasche. Einem vorbeieilenden Kellner nickte sie so selbstverständlich zu, als sei sie hier ein gern gesehener Dauergast.
»Entschuldigung, ich suche Ansgar von Stein, den Regisseur«, sprach sie ihn an.
»Oh ja. Erwartet er Sie? Soll ich ein drittes Champagnerglas bringen?«
»Ein drittes Glas? Ich weiß nicht«, meinte Henni verunsichert. »Wo finde ich ihn denn?«
»Er sitzt auf der Terrasse.«
Etwas in der Stimme des Kellners alarmierte sie. Verunsichert ging sie ins Restaurant, trat sachte an die geschlossene Terrassentür und spähte hinaus. Tatsächlich, da draußen saß Ansgar an einem Tisch vor der Reling und blickte aufs Wasser. Sie sah nur seinen Rücken, die kräftigen Schultern, das dunkle lockige Haar. Aber er war es, ganz eindeutig. Ihm gegenüber saß eine blonde Frau mit eindrucksvoll geschminkten Augen. Sie hob ihr Glas, in dem eine helle Flüssigkeit die Sonne einfing, Champagner, wenn Henni die Worte des Kellners richtig deutete, und lächelte Ansgar vielsagend zu.
Als sie an ihrem Glas nippte, wusste Henni, wo sie die Frau schon einmal gesehen hatte: in der Frankfurter Altstadt. Dort bei Ansgar war Doris Heim, die an ihrem vierzigsten Geburtstag im regennassen Jäckchen und mit verschmierten Panda-Augen in der Goldenen Waage um einen Platz an ihrem Tisch gebettelt hatte. Nikos Doris!
Henni stand wie erstarrt da. Sie umklammerte den Stick mit ihrem Drama und versuchte sich zu beruhigen. Denk nach, Henni, schalte deinen Kopf ein! Sie sei eine Schauspielerin, hatte Niko gesagt. Das mochte der Schlüssel sein. Doris bewarb sich gerade bei Ansgar um eine Rolle. Warum ging sie nicht auf die beiden zu? Hallo, Doris, wie schön, Sie wiederzusehen …
Der Kellner war Henni gefolgt und in respektvollem Abstand neben ihr stehen geblieben, offenbar spürte er ihre Verwirrung. Ob er ein drittes Glas rausbringen sollte, wagte er nicht mehr zu fragen. Ein Golfer kam durch die Terrassentür ins Restaurant, und in den wenigen Sekunden, in denen die Tür offen stand, drang das Lachen von Doris und Ansgar zu ihr herein. Henni fasste eben nach der Tür, um zu den beiden hinauszugehen, da erhob Ansgar sich von seinem Sessel. Er trat hinter Doris und umfing sie mit einer intimen Gelassenheit, die für eine jahrelange Beziehung zwischen den beiden sprach. Doris bot ihm mit geschlossenen Augen ihr Gesicht dar und ließ zu, dass seine Lippen es überall liebkosten.
Plötzlich sah Ansgar auf, sein Blick traf auf Hennis, und seine Augen weiteten sich in ungläubigem Erstaunen.
Henni ergriff Panik. Sie stopfte ihren Stick in die Handtasche, ließ den Kellner stehen und floh aus dem Restaurant des Golfhotels. Hinter sich hörte sie Ansgar ihren Namen rufen, er war ihr wohl über die Terrasse gefolgt.
»So warte doch!«, schrie er außer Atem.
Henni wartete nicht. Sie stieg auf ihr Rad und fuhr davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Weg, nur weg, ratterte es in ihrem Hirn im Takt des quietschenden Pedals.
Später vermochte sie nicht mehr zu sagen, wie lange sie am abgeflachten Ufer der Nidda gesessen und in den träge dahinfließenden Wasserlauf gestarrt hatte. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, war sie vom Golfhotel aus hierhergefahren und hatte ihr Rad achtlos ins Gebüsch gelegt. Seitdem war die Zeit gefühlt stehen geblieben. Schwäne gründelten zwischen Teichrosen. Kinder tobten auf dem Spielplatz in ihrem Rücken, hin und wieder konnte sie ihr Lachen hören. Zwei Hunde rannten in hohem Tempo durchs Gras und balgten sich. Ihr betagtes Frauchen kam hinzu und warf Stöckchen ins Wasser, die sie mit großem Eifer apportierten. Einer der Hunde – obenrum sah er so aus wie ein Teckel, untenrum glich er eher einem Pinscher – schüttelte sein nasses Fell unmittelbar neben Henni aus. Feine Wassertropfen stoben durch die Luft und sprühten sie ein. Sie seufzte ergeben. Warum nicht auch noch nass werden, wo es ihr doch schon elend genug ging.
Immerhin weckte die kleine Dusche sie ein wenig auf. Entschlossen rappelte sie sich hoch und machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Ihr Rad schob sie wie in Trance neben sich her. Zum Fahren hatte sie keine Energie mehr, ihre Füße stolperten beinahe übereinander, und sie war froh, als sie vor ihrem Häuschen ankam.
Bei Alma drüben war alles still. Was sie wohl gerade machte? Henni mochte ihr jetzt nicht begegnen. Noch fehlten ihr die Worte, um ihr Erlebnis im Golfhotel zu beschreiben. Vor der Küchenzeile trank sie gierig ein Glas Wasser. Am liebsten hätte sie sich auf ihre Matratze geworfen, um in einen tiefen Schlaf zu fliehen, aber sie fürchtete, das Laken könnte noch nach Ansgars Aftershave riechen und alle möglichen Erinnerungen in ihr wachrufen. Sie wollte jetzt aber nicht an ihn denken. Sie wollte an gar nichts denken.
Wie benommen ließ sie sich auf den Stuhl vor ihrem kleinen Tisch sinken, klappte ihren Laptop auf und checkte ihre Nachrichten.
Immer noch als Ritter Bechtram getarnt, hatte Ansgar auf ihrem Blog seinen Arbeitsauftrag erneuert: Den Karbener Rosenhang nicht vergessen. Nahezu zeitgleich hatte er ihr außerdem eine Mail geschickt: Henni, wir müssen reden. Gib mir eine Chance. Ich kann dir alles erklären!
Schon klar, es ist nicht so, wie ich denke, mailte sie voller Ingrimm zurück.
Das Wort Rosenhang hallte in ihren Gedanken nach. Leo hatte ihn ihr zeigen wollen. Kleine Fluchten, überlegte sie. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.
Sie rief Leo an.
***
Marie de Blois wirkte schon ziemlich verwelkt. Thérèse Bugnet, die in ihrer Blütezeit rosa Rüschenkleider getragen hatte, schien auch keine Kraft mehr zu haben und ließ zu, dass gemeine Brennnesseln sich an sie heranpirschten. Einzig Miss Edith Cavell zeigte sich noch in einem schönen roten Outfit, das im Sonnenlicht nur so funkelte.
»Schade, dass schon so viele hinüber sind«, sagte Henni.
»Ja, aber sie sind alle historisch.« Leo ließ den Satz wie eine Entschuldigung klingen. »Die meisten Rosen blühen ja früher im Jahr, und dieser Sommer ist extrem heiß, da machen sie besonders schnell schlapp.«
»Ich finde es trotzdem schön, dass du mich hergeführt hast«, entgegnete Henni versöhnlich. »Allein hätte ich diesen Rosenhang nie gefunden.«
Vor allem tat es gut, an etwas anderes zu denken als an Ansgar. Sie sah ihn immer noch vor sich, wie er sich über Doris beugte und ihr Gesicht liebkoste. Auch der erstaunte Blick, mit dem er sie bedacht hatte, als er sie entdeckte, hatte sich in ihr Hirn gefressen.
»Das eigentliche Rosendorf ist ja Steinfurth«, bemerkte Leo. »Es ist nicht weit von hier, und man findet dort die schönsten Züchtungen. Aber nirgends wachsen die Rosen so wild durcheinander wie hier.«
»Ein wahrer Dschungel!« Henni bahnte sich ihren Weg zwischen den einzelnen Büschen hindurch. Zu Füßen eines jeden Rosenstrauchs steckte ein hübsches Namensschild aus Emaille in der Erde, ordentliche Reihen suchte man unterdessen vergebens. Leo folgte ihr langsam, den Blick auf sein Smartphone gerichtet.
»Fünfhundert verschiedene historische Arten auf fünfhundert Quadratmeter Hang«, las er von seinem Handydisplay ab.
»Unglaublich. Wie kam dieses Rosenparadies nur zustande?«
»Es war ein Loch«, erklärte er schlicht. »Früher hat man hier Lehm abgebaut, für Dachziegel und für die Fachwerkhäuser. Der Lehm wurde mit Häcksel vermischt und in den einzelnen Fächern zwischen die Weidenruten geschmiert. Als man die Grube irgendwann nicht mehr brauchte, verfüllte man sie mit Müll und Schutt und bedeckte sie mit Wetterauer Ackerboden. Man pflanzte ein paar Bäume und ließ das sprichwörtliche Gras darüber wachsen. Bis ein Hobbygärtner auf die Idee kam, hier Rosen anzusiedeln.«
»Es muss viel Arbeit sein, das alles zu pflegen.«
»Ja, da sind etliche Freiwillige zugange.«
»Und erst die hübschen Schilder!« Henni war wieder zu Edith Cavell zurückgekehrt. Die meisten Rosen hatten Frauennamen. Vielleicht sollte man auch eine Rose nach Doris benennen? Sie hier einpflanzen. Und dann verdorren lassen.
»Viele Rosen scheinen nach berühmten Persönlichkeiten benannt zu sein.« Leo googelte wieder. »Edith Cavell war eine englische Krankenschwester«, sagte er, nachdem er einen Artikel überflogen hatte. »Im Ersten Weltkrieg wurde sie von den Deutschen hingerichtet, weil sie alliierten Soldaten zur Flucht verholfen hatte. Selbst Kaiser Wilhelm soll über ihr Todesurteil schockiert gewesen sein. Es gibt Theaterstücke über sie und sogar einen Stummfilm.«
»Ach ja?« Henni fand, dass sich immer wieder alles mit allem verband. Krieg und Rosen, Stummfilme und Theaterstücke.
Unter einem Baum entdeckte sie eine einfache Bank. Sie bestand nur aus ein paar dünnen Birkenstämmen, die man quer über zwei Holzböcke gelegt hatte. In ihrer Schlichtheit erinnerte die Sitzgelegenheit sie an das Vogelnest in ihrem Dachstübchen. Vorsichtig nahm sie Platz. Ein warmer Wind fuhr durch den Rosendschungel, ganz leicht kam der Duft nach Rosen auf, und eine geruhsame Entspanntheit legte sich über Hennis Gemüt. Der Schreck, den ihr Ansgars Anblick eingejagt hatte, als er Doris liebkoste, ließ allmählich nach, wurde erträglicher.
»Du magst Rosen, stimmt’s?«, wandte sie sich an Leo. »Deine Kletterrosen am Haus …«
Leo lachte leise. »Libby hat sie immer gehasst. Wenn die Blätter rieseln, hat man viel zu fegen. Aber die verblühten Rosen bilden auch schöne Hagebutten. Bei manchen Sorten sind sie fast hübscher anzusehen als die Blüten.«
»Hast du dich mit deiner Frau ausgesprochen? Wegen Fees Unfall?« Der märchenhafte Rosengarten ließ eine vertraute Stimmung zwischen ihnen aufkommen, sodass Henni die Frage leicht über die Lippen kam, und Leo nahm sie freundlich auf.
»Es ist und bleibt schwierig«, erzählte er. »Libby hat ja einen neuen Partner, und ich habe immer das Gefühl, dass die beiden sich in ihrer Eintracht gestört fühlen, wenn ich bei ihnen auftauche. Manchmal denke ich sogar, sie haben Angst, ich könnte ihnen Fees Liebe wegnehmen.«
»Du meinst, die beiden fürchten, dass Fee dich lieber haben könnte als sie?«
Leo nickte.
»Gibt es denn keinen Mittelsmenschen zwischen euch? Jemanden, der Zugang zu ihr und zu dir hat?«
»Warum fragst du?«
»Niko und ich haben gern Tante Alma eingeschaltet, wenn es zwischen uns schwierig wurde. Wir mochten sie beide, und sie mochte uns. Ihren Niko liebt sie bis heute über die Maßen.«
»Und? Hat es geholfen?«
Henni legte den Kopf schief. »Ja und nein. Es hat immer für eine gewisse Zeit das Feuer gelöscht. Aber Niko … Er hat eine sehr eigene Weltsicht, weißt du. Eine überaus pessimistische. Andere würden vielleicht sagen, eine sehr realistische, aber mir war es zu viel. Die Welt war noch nie perfekt. Und wovor du auch Angst haben magst: Womöglich tritt unerwartet ein Schrecken ein, den du gar nicht auf dem Radar hattest.«
Leo schaute schweigend vor sich hin. Er hatte ein Stöckchen vom Boden aufgehoben und zeichnete damit geheimnisvolle Linien in den Erdboden vor seinen Füßen. Sollte das, was er da malte, etwa ein Herz sein? Eine Rose war es jedenfalls nicht.
»Ich kannte einen Mann, der fuhr niemals mit dem Auto, weil er Angst hatte zu verunglücken«, begann er. »Eines Tages ging er zwischen zwei parkenden Autos hindurch auf die Straße und übersah, dass in dem vorderen Wagen jemand am Steuer saß. Der Fahrer wollte ausparken, setzte zurück und zerquetschte ihm beide Beine.«
»Oh Gott, wie furchtbar!«
»Makaber, aber wahr.«
»Allerdings. Was ich sagen wollte«, Henni kam wieder auf den Beginn ihres Gesprächs zurück, »was bei uns nicht funktioniert hat, kann bei euch ja klappen. Mit der Mittelsperson, meine ich.«
Leo schien darüber nachzudenken. »Libbys Mutter«, sagte er zögernd. »Die hat mich auch immer gemocht.«
»Dann mal ran an den Speck, du Schwiegermutterschwarm«, forderte Henni neckend. »Was soll schon schiefgehen?«
»Nichts. Lass uns heimfahren, ja? Was ist eigentlich mit deinen Umzugskisten? Stehen die immer noch in Nied, oder hast du inzwischen eine Lösung gefunden?«
»Nein, ich kam noch nicht dazu«, gestand Henni.
»Sollen wir das noch mal in Angriff nehmen? Der Laster, den Ansgar gegen die Wand gesetzt hat, ist zwar noch in Reparatur, aber wir haben Ersatz gemietet. Ich kann mich ja mal erkundigen, wann er frei ist.«
»Das wäre einfach toll.«
Sie liefen zum Parkplatz zurück, der zu einem unmittelbar daran angrenzenden Waldfriedhof gehörte. Henni warf einen Blick über die Friedhofshecke. Auch über den blumengeschmückten Gräbern lag eine entspannte Ruhe, nur ein paar Vögel flatterten zwischen den Bäumen umher und zwitscherten unverdrossen.
»Es kommen nicht viele Leute hierher.« Henni ließ es halb wie eine Feststellung, halb wie eine Frage klingen.
Leo zuckte mit den Schultern. »Ich bin ganz froh drum. Ein paar fast geheime Plätze, an die man sich zurückziehen kann, muss es auf Erden doch geben.«
Eine junge Frau in einem langen Sommerkleid schlenderte an ihnen vorbei in Richtung des Rosenhangs, auf dem Kopf einen kecken Strohhut. Mit etwas Phantasie hätte es Edith Cavell sein können.