Dreizehn

Als Henni vor ihrem Häuschen stand, bemerkte sie, dass Almas Küchenfenster weit geöffnet war. Ihre Tante lief in ihrer Küche hin und her, und den Gesprächsfetzen nach, die Henni mitbekam, erzählte sie voller Begeisterung von der gestrigen Premiere der Mausefalle. Ihre Worte drangen bis in den kleinen Hof, der zwischen ihrer ausgebauten Scheune und Hennis Häuschen lag.

»Auf der Bühne wussten alle ganz genau, was sie zu tun hatten«, hörte Henni sie sagen. »Das Stück war so gut eingeübt, dass es wie am Schnürchen lief. Der kann was, dieser Ansgar von Stein! Und dann diese Schneebilder! Wie sie das hingekriegt haben, dass man das Gefühl hatte, es wäre Winter, obwohl man im Sommerkleid auf der Tribüne saß, das war einfach rasant.«

Henni wartete gespannt darauf, wer Alma antworten würde. Irgendjemand musste doch bei ihr sein. Dass sie Selbstgespräche führte, wäre ihr neu.

»Über das Stück berichtet schon eine Kollegin«, sagte eine Männerstimme. »Ich soll ein Feature schreiben, über die Festspiele, die Inszenierungen und das ganze Drumherum.«

Henni spürte, dass sie eine Gänsehaut bekam. Diese Stimme gehörte Niko. Sie lief zu Almas Haustür und klingelte Sturm.

»Kind, da bist du ja.« Alma klang fröhlich, als sie ihr öffnete. »Wir haben dich schon vermisst. Rate, wer hier ist!«

»Ich hab’s schon vernommen«, sagte Henni gereizt. »Und erzähl mir jetzt bloß nicht, du hast ihn hergerufen, damit er mit seinem SUV meine Kartons aus Nied holt!«

Ihre Sachen mussten tatsächlich raus aus ihrer alten Wohnung, aber dazu würde sie Leos Hilfe annehmen, nicht Nikos.

»Aber nein«, rief Alma aufgeregt. »Er will über dich und Ansgar schreiben.«

»Was? Wieso weiß er überhaupt von uns?«, flüsterte Henni heiser. »Was hast du ihm erzählt?«

»Ganz wenig. Er will es von dir hören. Du musst ihm unbedingt alles haarklein berichten.«

»Wie bitte? Das geht Niko gar nichts an!« Henni begann zu zittern.

»Komm doch erst mal rein. Ich habe Kaffee aufgesetzt, und Niko hat Kuchen mitgebracht. Den leckeren vom Café auf der Bibliotheksbrücke.«

Na klar, für ihn musste es immer das Beste sein. Henni trat ein und wäre fast gegen Niko geprallt, der zwischen Küche und Wohnzimmer stand, die Arme lässig vor der Brust verschränkt.

»Henni, grüß dich!«

Er sah gut aus, aber auch das war nichts Neues. Seiner Hautfarbe nach hatte er die letzten Tage am Langener Waldsee verbracht. Seine Körperhaltung wirkte souverän und entspannt, und der Pulli, den er sich locker über die Schultern gelegt hatte, musste teuer gewesen sein.

»Tag, Niko. Was machst du hier?«

»Alma besuchen?«

Henni zog eine Braue hoch. »So fühlt es sich nicht an.«

Er nickte ertappt. »Hör zu, Henni, ich soll einen Artikel über die Burgfestspiele schreiben. Und nach dem, was man so hört, ist die Inszenierung der Mausefalle ein kleines Wunderwerk. Der Regisseur fiel gegen Ende der Proben aus, du hast die letzte Hauptprobe übernommen und sogar die Verantwortung für die Premiere. Trotzdem ist alles wunderbar gelaufen. Erzähl mir das aus deiner Sicht, und ich schreibe ein schönes Feature darüber.«

»Darüber, dass es trotzdem gut gelaufen ist?« Henni glaubte nicht recht zu hören. »Wieso sollte etwas trotzdem gut werden, wenn ich die Finger im Spiel habe? Frag doch mal den Regisseur nach meiner Arbeit.«

Niko schlenderte ins Wohnzimmer und ließ sich auf dem Sofa nieder. »Das würde ich ja gern. Aber der ist wie vom Erdboden verschluckt. Wo er sich befindet, scheint ein Geheimnis zu sein, das nur wenige kennen und niemand ausplaudern mag.«

Henni schnappte nach Luft. »Ansgar von Stein wohnt im Golfhotel«, schrie sie, Tränen der Wut in den Augen, »mit deiner Frau!«

Nikos Miene versteinerte sich. »Was erzählst du da für einen Unsinn?«

»Geh doch selbst hin und guck. Es ist nicht weit von hier, du kommst leicht zu Fuß hin.« Ihre Schultern bebten, ihre Stimme auch. »Deine neue Flamme hat was mit meinem Freund.«

So, jetzt war es heraus. Aber warum klang es so kindlich und hilflos? Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, hätte sie ihren Ausbruch gern ungeschehen gemacht. Sie hatte das Gefühl, im falschen Film festzustecken, und es gab keine Chance, das Band zurückzuspulen.

»Henni, nun hör mir mal gut zu.«

Da, jetzt sprach er wieder wohlwollend wie ein Vater mit ihr. Wie sie das hasste. Sie atmete tief und ruhig ein, straffte die Schultern. Alma schaute von ihr zu ihm, und ihre grauen Löckchen führten bei jeder Bewegung einen kleinen Tanz auf ihrem Kopf auf.

»Ich habe keine Frau«, sagte Niko bestimmt. »Die Einzige, die ich jemals habe heiraten wollen, warst du.«

»Oha!«, kam es von Alma.

»Lassen wir das«, sagte Henni scharf. »Komm mir nicht mit den alten Geschichten.« Nach einer längeren Pause setzte sie nach: »Wenn sie nicht zu dir gehört, wer ist diese Doris Heim denn dann?«

»Doris?« Niko brach in glucksendes Gelächter aus, was Henni erst recht auf die Palme brachte. Immerhin überschattete nun Ärger ihre Traurigkeit.

Was für ein Karussell der Gefühle.

»Doris Heim ist eine Schauspielerin«, erklärte Niko sachlich.

»Ja, das weiß ich, so hast du sie mir in der Goldenen Waage vorgestellt.«

»Ich sollte einen Artikel über ihr Leben und ihre Arbeit für eine Serie im Feuilleton schreiben. In der Goldenen Waage waren wir, um ein Vorgespräch zu führen und uns ein wenig kennenzulernen.«

»Pah!«, entfuhr es Henni. »Kennenlernen! Hat sie dir zufällig auch erzählt, warum sie sich von Ansgar abküssen lässt?«

Niko schüttelte den Kopf. »Das kann ich dir wirklich nicht sagen. Du hattest das Café kaum verlassen, da klingelte ihr Handy, und sie musste zu einer zusätzlich anberaumten Theaterprobe. Unseren Termin haben wir bislang nicht nachgeholt, sie hat viel zu tun.«

Henni sah Niko ungläubig an. Ganz langsam ließ sie sich ihm gegenüber auf einen Sessel sinken. Tante Alma blieb stehen und folgte ihrem Disput wie einem Zwei-Personen-Stück, für das sie keinen Sitzplatz mehr bekommen hatte.

»Du musst doch irgendwas über diese Doris wissen«, sagte Henni tonlos.

»Ja, schon. Momentan hat sie ein Engagement in Mainz, ansonsten arbeitet sie europaweit und dreht auch Filme. Viel mehr weiß ich noch nicht über sie. Sie hält sich, was Persönliches angeht, sehr bedeckt und trennt ihr privates und öffentliches Leben streng. Ist ja auch klug, bei all den Gerüchten und dem Klatsch in den sozialen Medien. Wie rasch ist man da in einen Shitstorm geraten.«

»Du machst dir ja verdammt viele Gedanken um sie.«

Niko hob arglos die Schultern. »Ich fand sie einfach nur sehr nett. Wie sieht es aus, magst du mir ein Interview zur Mausefalle geben? Alma hat so begeistert von der Premiere erzählt.«

»Damit du dann schreibst: Boutiquenverkäuferin rettet Aufführung? Nein danke.«

»Tss. Du solltest mich besser kennen.« Der feine Niko schnalzte tatsächlich mit der Zunge.

»Von mir erfährst du nichts«, donnerte Henni los. »Du wirst Ansgar fragen, ob er dir ein Interview gibt. Und frag ihn auch gleich, was er mit dieser Doris am Hut hat.«

»Ist das nicht ein bisschen indiskret?« Niko ließ die Frage betont harmlos klingen. »Wir Journalisten sind ja bekanntlich von Natur aus neugierig, aber etwas Respekt vor fremden Menschen ist wieder modern.«

Henni war versucht, mit dem Fuß aufzustampfen. »Ach, geh mir doch aus der Sonne!«

»Langsam, langsam, ich bin ja schon weg!« Niko hob beide Hände in die Höhe, als würde sie ihn mit einer Waffe bedrohen, und stand auf. Rückwärts tastete er sich zur Haustür vor. Dann klappte die Tür hinter ihm zu, und Tante Alma fuhr erschrocken zusammen.

»Wie schade«, meinte sie und reckte ihr Vogelgesicht energisch in die Höhe. »Ich fand es so schön, dass er mal wieder vorbeikam.«