Bitte geh ran! Wie müssen reden. Gib mir eine Chance!
Hennis Mailbox erstickte in Ansgars Nachrichten. Sie konnte sie bereits nicht mehr zählen. Eine Sommergrippe kroch in ihr hoch, ihr Hals fühlte sich schon wieder wie ein Reibeisen an. Kein Wunder, ihr Liebeskummer hatte ihr Immunsystem schachmatt gesetzt.
Seitdem Niko gestern gegangen war, lag sie auf ihrer Matratze, starrte die Deckenbalken an und tat sich selbst leid. Das Kopfkissen hatte sie in eine Ecke des Zimmers verbannt, obwohl es gar nicht mehr nach Ansgar roch. Draußen schien es windig zu sein, ein Ästchen schlug rhythmisch gegen das Dachfenster.
Sie versuchte, in einen erlösenden Schlaf zu finden, und döste vor sich hin. Es klopfte lauter gegen das Dachfenster. Nein, ein Ästchen war das nicht. Die Taube, deren Nest sie längst entsorgt hatte, pickte zu ihrem Schreck gegen die Scheibe und wollte zu ihr herein. In ihrem Schnabel trug sie einen kleinen Zettel.
Eine Brieftaube, wie aufregend!
Wie eine Schlafwandlerin öffnete Henni das Fenster, nahm der Taube vorsichtig ihre Botschaft ab und ließ sie in ihre Dachstube flattern. Mit leisem Tapsen huschte sie über die Dielen und sah sich nach Futter um. Als sie kein einziges Körnchen fand, gurrte sie empört, plusterte sich auf und begann, sich zu putzen. Henni faltete inzwischen den Zettel auf, den die Brieftaube ihr zugestellt hatte.
Wir müssen reden, las sie, gib mir eine Chance.
»Nein!« Sie schrie so laut, dass sie augenblicklich davon aufwachte.
Erschrocken sah sie sich um. Sie lag auf ihrer Matratze, und auf ihrem Dachboden war keine Seele, nicht mal eine Taube. Sie griff zum Handy und wählte Ansgars Nummer.
»Hallo«, sagte sie nur.
»Es gibt für alles eine Erklärung«, begann er. »Ich verlange gar nicht, dass du mir verzeihst. Wenn du mir nur eine Chance gibst, dir alles zu erzählen, bin ich schon froh.«
»Die Zimmer im Golfhotel wolltest du mit mir ausprobieren«, sagte Henni halb traurig, halb vorwurfsvoll. »Was findest du an dieser Doris?«
»Doris ist …« Er legte eine Pause ein und schien tatsächlich darüber nachdenken zu müssen, was sie ihm bedeutete. »Sie ist ein Akt für sich«, sagte er schließlich. »Ich mag dir das alles nicht am Telefon auseinanderlegen. Willst du mich nicht treffen?«
»Ich bin erkältet«, meinte Henni. »Vielmehr glaube ich, dass ich eine Erkältung kriege.«
»Bei dir stecke ich mich gerne an«, beteuerte Ansgar. »Ich denke mir was Schönes für ein Treffen aus, und dann reden wir in aller Ruhe. Ich melde mich wieder, ja?«
»Hm.« Henni grummelte vorsichtig Zustimmung. Sie musste das ja nicht heute entscheiden. Wenn ihr der Himmel auf den Kopf fiel, konnte sie sich immer noch hinter einer schlimmer werdenden Erkältung verstecken.
»Schön, dann bis bald. Wir sehen uns!« Ansgar klang fast erlöst.
Kaum hatte sie ihr Handy zur Seite gelegt, begann es zu klingeln.
»Was denn noch?«, fragte sie, als sie den Anruf unwillig annahm.
»Wir könnten morgen deine Sachen aus Nied holen«, hörte sie Leo sagen. »Bist du bereit?«
»Oh, Leo, du bist es. Ja, gern. Ich weiß nur nicht, ob ich gerade eine Erkältung kriege.«
»Mach dir um mich keine Sorgen, ich habe ein gutes Immunsystem«, meinte er lachend. »Ich kann einen Kumpel mitbringen, dann brauchst du gar nichts zu tun. Es reicht, wenn du dich halbwegs fit fühlst.«
»Danke, das ist lieb.«
»Also bis morgen früh. Neun Uhr? Falls du dich schlechter fühlst, ruf einfach vorher an.«
»Mache ich«, sagte Henni. »Und danke vielmals!«
Sie beendete das Gespräch, und wenig später fand sie endlich in einen tiefen Schlaf.