Ob der Streik gewonnen oder verloren war, wusste niemand je mit Sicherheit zu sagen. Die Preise stiegen um einen Cent, und wir fingen wieder an zu verkaufen, mussten aber eine weitere Abgabe zahlen, und eine veränderte Staffelung machte den leichten Anstieg zunichte. Die stille, verdeckte Art, wie das vor sich ging, trieb Grant zur hilflosen Raserei, während Vater nicht ganz begreifen konnte, was passiert war, bis er am Monatsende seine Buchhaltung machte und das Loch sah, das dieser dreitägige Streik auf der Seite hinterlassen hatte. Und trotzdem blieb er bis Mitternacht auf und ging die Zahlen wieder und wieder durch, bis der Ölpegel so niedrig war, dass der Docht nicht mehr brennen wollte und er vor Müdigkeit sowieso nichts mehr sehen konnte.
Von da an schien er Grant weniger zu vertrauen, und die Dinge zwischen ihnen begannen schiefzulaufen.
Die Tage vergingen alle ähnlich. Nah am Boden war vieles noch grün, und die Scheinastern hatten noch Kraft. Die Sonne kam morgens durch einen grauen Schleier und stieg dann rot und triumphierend höher, um die Erde ein weiteres Mal zu kochen. Bald betrachtete ich ihr gewaltiges gleißendes Auge mit tumbem, hilflosem Hass und fürchtete den Morgen, aber es gab auch kleine friedliche Phasen und manchmal ein paar Stunden Kühle. Sonntags ließ Vater seine Arbeit ruhen – das heißt das Pflügen und Heuen, sofern es nicht nötig war. Er molk nur und machte die Milchkammer sauber, was den ganzen Morgen in Anspruch nahm, und um vier musste er die Kühe wieder zurückholen. »Was für ein Ruhetag!«, sagte Merle. Sie selbst arbeitete genauso viel, schaffte es aber, sich den Nachmittag frei zu halten, und oft liefen wir dann über die Weiden rauf zur alten Borden-Kirche mit ihrem Friedhof, der jetzt zum Grasen für die Schafe genutzt wurde. Gottesdienste wurden dort nicht mehr abgehalten. Nicht einmal einen Sonntag im Monat konnte sich die Gemeinde leisten. Niemand kam, außer wenn Beerdigungen stattfanden und ein neues Grab ausgehoben werden musste. Ich setzte mich draußen auf die Stufen, während Merle auf der alten Orgel spielte, so wie Kerrin es getan hatte, als wir klein waren. Ich fragte mich ab und zu, ob ich je Antworten auf all das finden würde, was mich bei unserem einzigen Kirchgang vor zehn Jahren umgetrieben hatte.
Früher war der Pfarrer einmal im Monat zum Predigen gekommen, und nach unserem Umzug hierher aufs Land hatte Mutter ein ganzes Jahr lang hingehen und ihn hören wollen, doch immer schien es etwas anderes zu geben, was getan werden musste – immer ein Kalb oder ein Essen oder Einweckobst, das nicht warten konnte –, als wäre die Farm ein quengeliger kranker alter Mann, der stündlich nach Aufmerksamkeit jammerte. Eines Tages im Juni jedoch, ein Jahr und drei Monate nach unserer Ankunft, schafften wir es endlich. Mutters Kirchenkleid war verblichen und ihr etwas zu groß geworden, aber wir fanden es schön und würdevoll wegen der Ärmel, die vorn ein paar welke Plisseefalten hatten. Vater weigerte sich mitzukommen, saß mit der Sonntagszeitung in der Hand auf der Veranda und schaute uns nach. Er sah zusammengesunken und müde aus und tat, als fände er es anstößig, dass wir ohne einen Mann in die Kirche gingen. »Ihr Kinder benehmt euch«, war alles, was er sagte, dann wanderte sein Blick über unsere Köpfe hinweg zu einem Falken. Aber Mutters Gesicht hatte einen leuchtenden, erwartungsvollen Ausdruck, als kniete sie bereits in der Kirche.
Ackerhonigklee und Wildrosen standen radnabenhoch auf den Wegen und versprühten ihren Duft im Staub. Es war ein warmer Tag, und als wir die Straße entlanggingen, schien es, als flögen Lerchen von jedem Pfahl auf, singend und gelbbrüstig. Die Felder waren von Gänseblümchen überflutet und weiß vor Schafgarben. Ein Tag, fast zu satt, fast zu reich an Geißblatt. Als wir ankamen, war die Kirche schon voll und der Vorplatz von etlichen Wagen und alten Einspännern zerstampft. Wir gingen hinein, ohne mit irgendwem zu reden, nur Kerrin sagte, in der Kirche rieche es muffig, und lungerte draußen vor der Tür herum, ich glaube, sie hoffte, irgendein junger Bursche würde sie ansprechen. Doch die scharten sich alle hinten bei den Pferden, wie ein Schwarm schlaksiger Reiher. Die Frauen beobachteten sie, wie sie da so allein herumstand, und nach einer Weile kam sie herein und setzte sich hinten hin, als gehörte sie zu einer anderen Familie und nicht zu uns.
Merle schaute zur Orgel mit ihrer schäbigen vertrauten Fassade und flüsterte, sie komme ihr anders vor, kirchlicher und sittsamer, demutsvoller, als wenn Kerrin sie gespielt habe. Sie hatte sich oft spätnachmittags oder frühmorgens hergeschlichen und war durch die unverschlossenen Fenster hineingeklettert. Merle und ich waren manchmal mitgekommen und hatten auf den Grabsteinen oder der Treppe gesessen, während sie uns wilde Hymnen oder eigenartigen, undefinierbaren Jazz vorspielte und die armen alten Pfeifen von unchristlichen, heidnischen Klängen erzittern ließ. Manchmal spazierten wir herum und versuchten, die Grabinschriften zu entziffern, und einmal fanden wir eine Heuschrecke auf dem verwitterten Stein der Boggs, die ihren weichen, dick gefressenen Leib über die Namen schleppte und Halt suchte, um sich zu befreien und den dünnen Rest ihrer Hülle abzuwerfen. Orangefarbene Lilien und Rudbeckien wucherten zwischen den Gräbern, doch jeden Sonntag, bevor der Pfarrer kam, wurden sie alle geschnitten und die Gräber auf ansehnliche Gepflegtheit zurückgestutzt. Wenn die Orgel müde wurde und ihr Atem zu asthmatisch, kam Kerrin heraus und ging, in der Sonne vor uns herschreitend wie eine Heilige mit rotem Glorienschein, nach Hause. Wir mussten nicht mit ihr kommen und gehen, wann immer es ihr beliebte, aber wir taten es trotzdem aus unbestimmtem Respekt vor allen – zumindest an Jahren – Älteren. Wir waren oft hier gewesen und hatten sie ungestüme, selbst erfundene Stücke spielen hören, die wie einander anschreiende Hexen klangen, aber dies war das erste Mal, dass wir die Kirche zusammen mit anderen Menschen durch den Haupteingang betreten hatten.
Ich schaute zu den Männern hinüber und fragte mich, ob sie mich bemerken würden, dabei wusste ich ja, dass ich einfach gestrickt aussah, von der Sorte, auf die das Auge fiel, ohne gesehen zu werden, und betastete immer wieder meinen Hinterkopf aus Sorge, die Zopfenden könnten sich gelöst haben. Ich fragte mich, warum die Leute hierherkamen und ob Gott hier war, und schon war der Zweifel zurück – jener Zweifel, der wie ein getunnelter Strom in mir floss, schon früher in unvorhergesehenen und unerwünschten Momenten zutage getreten war und in all den Jahren danach weitergeflossen ist. Warum waren sie hier, und glaubten sie, was sie hörten, und lebten sie überhaupt danach? All das verwunderte mich und setzte mir mehr zu als der Pfarrer, ein dummer, ernster kleiner Mann. »Die Sünde«, rief er, »ist die Ursache alles Bösen in der Welt. Die Sünde ist etwas Niederträchtiges. Betet, von der Sünde erlöst zu werden!« Und eine Stunde lang sagte er mit anderen Worten und auf andere Weise immer wieder das Gleiche, ohne auszuführen, was dieses Böse sein könnte. Als mir schließlich klar wurde, dass er es uns nie sagen würde – entweder weil er es nicht wusste oder weil er dachte, es würde zu lange dauern –, begann ich mich umzuschauen und über die Leute nachzudenken und mir zu überlegen, ob es in dem, was ich von ihrem Leben wusste und gehört hatte, irgendeinen Plan oder ein Muster gab, das erklären könnte, warum sie hier waren.
Ich blickte auf den Rücken der alten Vigney Hickam, ihr grünes, über den Schulterblättern spannendes Kleid und die straff bis zum Hut hochgezerrten Haare. Ich fragte mich, ob das, was der Pfarrer sagte, irgendeine Bedeutung haben könnte für sie, eine unverheiratete bejahrte Frau, die zusammen mit der alten Mrs. Hickam abseits der Hauptstraße lebte und, selbst wenn sie es gewollt hätte, gar keine Chance hatte, etwas Böses zu tun. Abgesehen vielleicht vom Mähen des Zaunstreifens und Unterpflügen des Phlox, aber ich bezweifelte, dass der Pfarrer darin erwähnenswerte Sünden gesehen hätte, schließlich waren sie weniger schillernd als Ehebruch und Unzucht.
Joe Rathman und seine Frau waren da, der alte Mann, in seinem weiten schwarzen Anzug verloren wie ein urzeitlicher Gnom, sah nicht so aus, als ob er auch nur ein Wort von dem hörte, was gesagt wurde. Saß wahrscheinlich geduldig und ergeben da, weil er sein Leben lang einmal im Monat geduldig und ergeben dagesessen hatte, und nutzte die Stunde, um seine Hühner-Ersparnisse auszurechnen. Die drei Rathman-Söhne kamen nie – große, rindsfleischig aussehende Jungs, von denen sogar Vater Aaron als den besten bezeichnet hatte, und Mrs. Rathman sprach sowieso immer nur von Aaron. Dass sie nicht da waren, gab mir mehr zu rätseln und zu denken auf, als wenn sie gekommen wären und wie die Ochsen in einer Reihe gesessen hätten. Aaron war anders als der Rest, sein Gesicht hatte mehr Kontur und die Wand zwischen ihm und seinen Gefühlen war weniger dick. Er sah, dass die Dinge nicht immer nur schwarz oder weiß waren, sondern dass es Schattierungen gab.
Ich betrachtete Miss Amy Meister, deren Bruder aus dem Krieg zurückgekehrt war und in einem seiner Tobsuchtsanfälle den Vater getötet hatte, und trotzdem lebte sie ihr Leben so weiter wie vorher, züchtete Bienen, verkaufte jeden Herbst große gelbe Waben und wusste mehr über das Böse und den Tod, als der Pfarrer in all seinen achtzig Jahren je geträumt hatte. Dennoch saß sie da und lauschte wie ein Kind, während er von dieser gestaltlosen Sünde redete. Da war Stella Darden, die einen Pachtbauern geheiratet hatte und mit dessen vierzehn Verwandten in einem Schuppen wohnte, der aus einem einzigen Raum bestand, nicht größer als zwei Plumpsklos, und im Winter von nichts als ihrer eigenen Körperwärme geheizt wurde, hatte Aaron erzählt. Da war Leon Kind, dessen Sohn ihn verlassen hatte und fortgegangen war, weil er das Schweigen nicht ertrug, das Leon wahrte, seit seine Frau gestorben war … Und dann betrachtete ich Mutter, wie sie dasaß und still zuhörte, aber mehr so, als feierte sie im Innern ihr eigenes Abendmahl, speiste und tränkte einen Glauben, für den die Orgel, die Kirche und der Pfarrer nur Symbol und Kulisse waren. Sie lauschte, um den Klang des Glaubens in seiner Stimme zu hören, nicht den Worten, die wenig oder nichts bedeuteten. Ich wollte glauben können wie sie, still, felsenfest, ohne die Vernunft einzuschalten oder jenseits der Vernunft, schien ihr Glaube doch genauso zu ihr zu gehören wie ihre Hände oder ihr Gesicht. Aber ich konnte es einfach nicht. Es war, als wäre der Glaube einem angeboren, wie die Hautfarbe, die Augen oder die Arme, und könnte auf keine andere Art erlangt werden.
Als der Moment für das Abendmahl kam, freuten wir uns, Merle und ich, auf die kleinen Becher und Brösel und fragten uns, ob es Holunderbeerwein oder Wilden Wein geben würde; und in Mutters Gesicht war ein andächtiges, helles Leuchten, eine mystische Vorfreude, als wäre sie Welten entfernt. Doch bevor es losging, sahen wir, dass der Diakon den Gang entlanggeschlichen kam, auf Mutter zu, worauf sich alle Köpfe gleichzeitig umdrehten, wie von einer großen Schnur langsam von hinten gezogen. Er beugte sich vor und flüsterte hinter vorgehaltener Hand. »Sie müssen jetzt gehen, Sie gehören nicht zur Kirche. Nur Kirchenmitglieder feiern das Abendmahl.« Mutter starrte ihn verständnislos an und fummelte an ihrer Handtasche herum. »Sie müssen jetzt gehen«, sagte er lauter, und Kerrin boxte Mutter gegen den Arm. »Dann lass sie ihren alten Krautsaft doch behalten!«, murmelte sie und erhob sich. Mutter sagte: »Oh, ich verstehe«, und stand schnell auf, nervös mit dem Kopf nickend, wie es typisch für sie war, um ihm das Gefühl zu geben, dass er sie nicht gekränkt hatte. Die Leute starrten uns an, neugierig und ausdruckslos, und der Haufen weißer Gänseblümchen auf Vigneys Kopf zitterte. Wir gingen alle hintereinander durch den Mittelgang, und Kerrin versuchte, die Tür zuzuknallen, aber sie schwang bloß weich zurück. Man hörte nur noch die Orgel keuchen: In der Welt der Sünde, wo ist wahre Ruh? Aus dem Blut des Heilands fließt dir Frieden zu.
Wir standen draußen und schauten uns an, hinter uns die blinde weiße Tür. Ich begann zu kichern, und Mutter lächelte, sah aber aus, als hätte sie etwas Unersetzliches verloren und wäre mit einem Ruck und leeren Händen ins Leben zurückgezerrt worden. Plötzlich riss Kerrin, bevor wir sie aufhalten konnten, einen Grasklumpen aus der Erde und schmierte damit einen kreuzförmigen Schmutzfleck an die Tür. »Das ist für das Pack da drinnen!«, sagte sie. »Verwurmte alte Hickoryhülsen!« Mutter war halb außer sich vor Entsetzen und versuchte, es mit ihrem Unterrock wegzuwischen, erreichte damit aber nur, dass die Form nicht mehr erkennbar war und ein graues Geschmier übrig blieb. Es war kein Wasser in der Nähe, und Merle versuchte es mit Spucke, doch es half alles nichts, und dann hörte die Orgel auf zu schnaufen, und wir hatten Angst, dass jemand herauskommen und uns spucken und schrubben sehen würde, also gingen wir schnell in Richtung Straße, Mutter zerstreut und erhitzt von der Sonne und Kerrin erhobenen Hauptes vor uns herschreitend, als ob sie uns nicht kennte oder nicht zu uns gehörte.
»Was haben wir denn getan?«, fragte Merle immer wieder. »Warum sind wir anders als andere Leute?« Um uns herum wirbelte Staub in heißen Wolken auf, und die Sonne war ein Dörrfeuer, und niemand wollte ihr antworten, noch hätten wir gewusst, was die Antwort war.
Jetzt mehr denn je, als ich dasaß und Merle spielen hörte und mich an jenen anderen Sonntag erinnerte, wünschte ich, dass ich die Gründe wüsste. Und wünschte mir mehr noch etwas außerhalb meiner selbst. Einen Glauben allerdings, der dem Leben passen würde, anstatt es nur zu verbergen. Es gab so vieles, was ich gern geglaubt hätte. Ich hätte gern geglaubt, dass alles, was auf uns zukommen mochte, gerecht war, und hätte gern wie Wally Huttons Frau mit fromm zum Himmel erhobenen Augen sagen können: »Der Herr hat’s gegeben, und der Herr hat’s genommen«, als sie ihr siebentes Kind begrub wie einen Knochen für das Fest der Auferstehung. Es wäre leichter, das Unvermeidliche und Gerechte zu ertragen, wenn es keinen Ausweg gäbe. Aber wir haben doch sicher das Recht, dachte ich, das Leben voll auszukosten wie jeder andere! Sind wir und die um uns herum – die Ramseys und Huttons und Meisters und so weiter – denn schlechter als Menschen, die keine Angst kennen, kein Sumpfloch zu füllen haben, kein Spielball sind von Dürre und Frost? Warum wurde es uns bestimmt, derart eingeschränkt zu sein? Vielleicht, wenn wir von allem abgeschnitten gewesen wären und nie etwas von jenen seltenen, in Sicherheit lebenden Menschen gesehen und gehört hätten, denen es an nichts mangelte, vielleicht hätten wir dann anfangen können, Gott die Schuld zu geben, und unseren Frieden gefunden. Wissen ist ein zweischneidiges Messer, ganz Klinge, ohne einen Schaft, mit dem sein Besitzer zustechen könnte.
Doch letztlich lief alles auf das Gleiche hinaus, und ich wusste, dass kein Gesetz und kein Plan und kein Ende der Schulden mir das eine geben könnte, das ich mir mehr wünschte als alles andere, dass kein Gesetz der Welt Grant dazu bringen könnte, mich zu lieben.