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Warte auf mich«, sagte Anton. Er hatte immer das Gefühl, dass Alice so viel mehr wusste als er, dass sie einen Vorsprung hatte. Sie war nur drei Jahre älter, und das beunruhigte Anton. Würde er in drei Jahren so viel lernen können? Es war ein Rätsel, wie Menschen überhaupt irgendetwas lernen konnten. Er hatte bemerkt, dass es nicht reichte, seine Eltern zu fragen, sie waren zu sehr mit ihren eigenen Dingen beschäftigt, stattdessen lernte er das meiste auf Youtube, klickte sich von einem Video zum nächsten, über alles von Computerspielen über Basketballschuhe bis hin zu amerikanischer Politik.
Von seinem Vater hörte Anton nie eine klare Antwort, lediglich ein unbestimmtes Murmeln. Jede Frage löste sich in das Gefühl auf, dass es viele unterschiedliche Blickwinkel gab, aus denen man eine Sache betrachten konnte. Anton verstand nicht, wie das möglich war. Entweder gab es hier nun Schlangen oder nicht, das müsste sich doch feststellen lassen.
Jetzt ging Alice ihm auf dem Weg voran. Es war Sonntag, und sie waren gleich nach dem Frühstück aufgebrochen, um nach Kaulquappen zu suchen. Es waren sechzehn Grad, warm genug, um ein T-Shirt zu tragen. Anton hatte noch nie eine Kaulquappe gesehen, und er wusste nicht so recht, was ihn erwartete. Konnte man sie in die Hand nehmen? Seine Mutter hatte gesagt, sie seien so schnell, dass man sie nur schwer einfangen könne. Sein Vater hatte am Morgen unten am Strand gegoogelt und gesagt, dass jetzt die richtige Zeit sei, um sie zu fangen, und dass die Eier bereits im April gelegt worden seien.
»Obwohl, ich weiß nicht … hier steht auch, dass sie schon im April oder Mai schlüpfen. Dann müsst ihr wohl losziehen und selbst rausfinden, wie es sich verhält«, fügte er hinzu, und Anton seufzte.
Sie waren auf einen schmalen Pfad abgebogen. Anton ging mit einem Eimer in der Hand hinter Alice her und schaute vor sich auf den Boden.
»Wir hätten eine Tasse mitnehmen sollen«, sagte Alice. »Um sie zu fangen. Der Eimer ist zu groß. Wir müssen vorher noch mal nach Hause, wenn wir welche finden.«
»Glaubst du, dass es hier Schlangen gibt?«, fragte er.
Er hatte seine Gummistiefel angezogen. Sie waren schwarz und warm, weil er barfuß darin steckte. Er schaute in die Heidelbeersträucher am Wegrand und stellte sich vor, wie eine Schlange aus ihnen hervorschoss und zubiss. Er hatte sich noch nicht entschieden, ob er die Natur mochte, sie schien ihm in vielerlei Hinsicht gefährlich und anstrengend zu sein, und ihm fehlten die Läden und die Sicherheit in Helsinki. Weil sein Vater im Warenhaus im Zentrum arbeitete, hatte er immer Zugang zu dieser Welt gehabt, er durfte das Lager mit den ganzen Waren sehen, die ein Kunde niemals zu Gesicht bekam, und einmal durfte er Saft im Personalraum trinken. Er liebte es, seinen Vater auf der Arbeit zu besuchen. Die Frauen, die dort arbeiteten, dufteten so gut, und es gab so viele von ihnen, dass sich immer eine fand, die sich um ihn kümmerte. Er mochte die Stimmung unten in der Elektroabteilung, wo alles so aussah, als wäre es gerade erst aus den Kartons gepackt worden, das Gefühl, dass alles ganz neu und glänzend war. Es schien ein großartiger Ort zum Arbeiten zu sein, denn sein Vater musste nichts anderes tun, als hin und wieder eine Internetverbindung wiederherzustellen. Meistens reichte es, das Netz aus- und wieder anzuschalten.
»Da«, sagte Alice plötzlich.
Sie zeigte auf eine große Pfütze, die sich auf einer Lichtung in einer Felsspalte gebildet hatte. Daneben stand ein alter Anhänger, grau und moosbewachsen, der mit einer grünen Plane überzogen war.
Sie gingen zur Pfütze und sahen hinein. Das trübe Wasser war voller Laub. Alice bückte sich, langte hinein und tastete im Wasser herum.
»Es ist warm«, sagte sie. »Hol einen Stock, dann fangen wir an zu suchen.«
Anton schaute sich um. Überall sah er Heidelbeersträucher und Preiselbeergestrüpp. Die Stämme des lichten Kiefernwalds gingen von Grau in Hellbraun über, dort, wo die Rinde von Tieren abgenagt worden war. Er hob einen Ast vom Boden auf, brach zwei trockene Zweige ab und gab sie Alice.
Sie beugten sich über das Wasser, das nach altem Laub roch. Der Grund der Pfütze war schwarz, und Anton konnte sein Spiegelbild im Wasser betrachten, das helle Haar sah dunkler aus als sonst, und er ähnelte seiner Mutter. Als Alice mit dem Zweig im Wasser rührte, wirbelten die Blätter auf und zerfielen.
»Ich sehe gar nichts. Das ist total langweilig hier«, sagte sie enttäuscht. In regelmäßigen Abständen wedelte sie sich Mücken von der Stirn. Mit einem Fuß stocherte sie im Wasser herum.
»Ich weiß gar nicht, warum sie uns überhaupt in den Wald geschickt haben. Hier gibt es nur jede Menge Mücken.«
»Vielleicht verstecken sie sich unter dem Laub«, sagte Anton und empfand eine Art Zärtlichkeit, als er sich davonschwimmende Kaulquappen vorstellte. Manchmal bekam er dieses Gefühl und wusste nicht, warum. Oft stiegen ihm dabei die Tränen in die Augen, und dann versuchte er, an etwas anderes zu denken. Er dachte häufig an seinen Klassenkameraden Amin, der in der Sportstunde immer eine Wrestlingmaske trug. Amin war ein ähnlich ernster Typ wie Anton, und sie trafen sich oft, hatten sich aber noch nicht richtig als beste Freunde etabliert. Er dachte auch an Oona, wie weich sie war, wenn sie ihn umarmte, und wie nett sie war, wenn sie Monopoly spielten, dass sie sozusagen streng, aber trotzdem nett war.
Er machte mit seinen Gummistiefeln einen Schritt ins Wasser und stocherte mit seinem Stock herum. Zuerst sah er gar nichts, aber dann nahm er eine schnelle Bewegung wahr.
»Da!«
Als er sich näher heranbeugte, sah er kleine, schwarze Kaulquappen, es waren viele, und sie schwammen fort, wenn er mit seinem Stock in ihre Nähe kam.
»Wir brauchen etwas Kleineres, um sie damit zu fangen. Kannst du zurückgehen und eine Tasse holen?«, sagte Alice.
»Nein, das mach ich nicht«, sagte Anton und sah von der Pfütze auf. Auf gar keinen Fall wollte er alleine gehen.
»Was ist denn daran so schlimm?«, fragte sie. »Du läufst einfach zurück. Ich möchte Naturaufnahmen machen, und sie sind besser zu sehen, wenn man eine Tasse hat.«
Er war schon nervös gewesen, als er am Tag zuvor alleine vom Strand nach Hause gehen sollte, und das war ein kürzerer Weg. Die ganze Zeit hatte er daran gedacht, dass er bald seine Mutter sehen würde, was ihm ein bisschen geholfen hatte.
»Nein, du musst gehen. Ich hab sie schließlich gefunden«, sagte er.
Anton spürte einen leichten Zorn in sich aufsteigen, was ihm oft passierte, ein Gefühl von Ungerechtigkeit, das aus dem Bauch kam und ihn dazu brachte, ihr einen Stoß versetzen zu wollen.
»Traust du dich nicht?«, fragte sie. »Wenn wir den ganzen Sommer hier bleiben, musst du lernen, dich hier auch alleine zu bewegen. Du kannst ja nicht die ganze Zeit hinter mir her laufen.«
Schließlich ging er. Er hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass er beobachtet wurde, dass ihm jemand folgte. Auf halber Strecke blieb er plötzlich stehen, weil er glaubte, dass im Wald jemand auf einen Zweig getreten war, aber als er aufmerksam lauschte ohne sich zu bewegen, hörte er nichts außer dem Rauschen des Meeres.
Er beeilte sich jetzt, rannte fast mit dem Gefühl, dass sein Körper seine Angst verriet, dass er entlarvt wäre, wenn ihn jetzt jemand sähe.
Als er sich dem Haus näherte, begegnete er seinen Eltern, die auf dem Weg zur Bucht waren. Julia hielt zwei Tennisschläger in der Hand.
»Mama, ich habe Kaulquappen gefunden«, sagte Anton.
»Darf ich sie sehen?«, fragte sie.
»Sie sind hinten im Wald.«
»Wo ist Alice?«
»Sie wartet auf mich. Ich muss einen Becher holen.«
»Wenn du ihn geholt hast, kannst du später zum Tennisplatz kommen. Wir wollen dort spielen.«
»Kannst du nicht mitkommen?«, fragte Anton.
»Nein, du kannst ihn auch alleine holen. Im Küchenschrank stehen Plastikbecher. Wenn du in die Küche reinkommst, links.«
»Aber da ist es unheimlich. Ich will da nicht allein hin.«
»Was ist denn daran unheimlich? Als ich Kind war, habe ich viele Wochen hier gewohnt. Das ist doch bloß eine ganz normale Küche.«
Anton dachte an Alice im Wald, dass er gezwungen war, diesen Becher zu holen, denselben Weg zurückzugehen, den er gekommen war, und sie auf der Lichtung wiederfinden musste.
Nachdem er all seinen Mut zusammengenommen hatte, ging er den Weg zum Haus hinauf. Er öffnete die Tür und trat vorsichtig ein, als wollte er mögliche Eindringlinge erst erschrecken, bevor er in die Küche ging. Er fand die Becher sofort und schaute sich nicht weiter um, konzentrierte sich auf seine Aufgabe und rannte aus dem Haus.
Als er zum Weg hinunterging, dachte er wieder an Amin, wie schwer es war festzustellen, ob man einen besten Freund hatte oder nicht, weil man niemals darüber sprach, man glitt nur gemeinsam durch die Nachmittage, ohne dass man etwas entschied. Eigentlich war er am besten mit Iiris befreundet, die auf der anderen Seite der Straße wohnte und in seine Klasse ging, aber in der Schule machten sie nichts zusammen. Stattdessen sahen sie sich abends oder wenn ihre Eltern einander zum Essen einluden, und er hatte sich nie jemandem so nahe gefühlt wie Iiris. Erst vor ein paar Tagen hatten sie in seinem Zimmer gesessen, in feierlicher Stimmung, weil er den ganzen Sommer verreist sein würde. Sie hatten darüber gesprochen, wie praktisch es wäre, wenn er einen eigenen Hubschrauber hätte, dass man hin und zurück fliegen und auf den Dächern von Tölö landen könnte, wenn man sich sehen wollte. Er hatte darüber nachgedacht, ob er vielleicht in Iiris verliebt war, aber irgendetwas sagte ihm, dass dieses Gefühl anders war.
Einmal hatte er in seinem Zimmer geweint, weil er an Iiris’ Stimme hören konnte, dass sie keine Lust hatte, mit ihm zu spielen. Er hatte eine ganze Weile geweint, und danach hatte er mehr darüber nachgedacht, dass er geweint hatte, als über Iiris, weil dieses Gefühl, enttäuscht zu sein, neu für ihn war, er hatte noch nie zuvor wegen so etwas geweint. An jenem Abend war seine Mutter in sein Zimmer gekommen, als hätte sie es geahnt, und sie saßen unter seinen Postern, und er dachte, dass es einer seiner schönsten Tage war, weil er so viel gefühlt hatte.
Als er zu der Lichtung zurückkehrte, war Alice weg. Er suchte nach ihr, umrundete ein paarmal die Pfütze, an der sie gestanden hatten, aber nach einer Weile begann er sich unbehaglich zu fühlen und wollte so schnell wie möglich da weg. Zielstrebig ging er zurück, schnell vorbei an den unbewohnten Häusern, die am Weg standen, bis zur Bucht, an der seine Eltern waren.
Als er zum Tennisplatz kam, saß Alice dort im Gras.
»Warum bist du abgehauen? Jetzt bin ich ganz umsonst zu der Pfütze gelaufen«, sagte er.
Alice hatte die Kopfhörer auf und schaute ihn nur an.
Anton war außer Atem, nachdem er so weit gelaufen war, aber er konnte nicht länger über die Angelegenheit nachdenken, weil er ein leises Grollen von der anderen Seite der Bucht hörte, wie dumpfe Trompetenstöße in einem Abstand von zehn Sekunden. Alice reagierte nicht darauf. Anton blickte über die Kiefern in die Richtung, aus der das Geräusch kam.
Auch die Eltern hörten auf zu spielen, als sie das Grollen hörten.
»Seltsam«, sagte Erik.
»Vielleicht war es das Signalhorn auf irgendeinem Boot?«, sagte Julia.
»Es klang, als wäre es näher«, meinte Anton.
Nach einer Weile verschwand das Geräusch. Das Einzige, was sie jetzt noch hörten, war ein Schwarm Möwen irgendwo am Strand, kreischend und lachend, als hätten sie eine leichte Beute gemacht.
Die Eltern blieben noch den ganzen Vormittag auf dem Tennisplatz. Zwischendurch spielte Anton eine Weile mit seiner Mutter, verlor jedoch bald die Lust und ließ danach einen Ball auf seinem Schläger hüpfen. Er schaffte es, ihn fast fünfzig Mal abprallen zu lassen, ohne ihn zu verlieren.
Die Erwachsenen waren gut im Tennis. Julia traf einen Ball nach dem anderen und lief wie ein schnelles Tier über den rissigen Asphalt.
Anton saß im Gras und schaute ihr zu. Ihre leichten Schritte, die Art, wie sie das Haar wegschob, wenn es in die Stirn fiel. Das gehörte offensichtlich auch zu den Dingen, die man irgendwo lernte, denn er hatte nicht gewusst, dass seine Mutter Tennis spielen konnte. Sein Vater war ungeschickter und hatte einen zornigen Gesichtsausdruck, wenn er spielte, obwohl er sich anstrengte, fröhlich auszusehen. Es war ein bisschen so wie bei Anton, wenn er bei den Großeltern war und sie ein Gericht mit allem möglichen komischen Gemüse zu essen bekamen. Dann strengte er sich auch so an. Wie sein Vater jetzt, vielleicht, weil er am Verlieren war.
»Mist«, rief er vom Platz. »Ich brauche bessere Schuhe.«
Als die Eltern fertig waren, setzten sie sich ins Gras und tranken Wasser aus ihren Flaschen. Sie wollten gerade zu ihrem Haus zurückkehren, als vom Strand ein Mann zum Tennisplatz heraufkam. Er hatte kurz geschnittenes Haar, einen flachen Bauch und ein sonnengebräuntes Lächeln.
»Hallo«, sagte er. »Sprecht ihr Englisch?«
Julia nickte.
»Klar.«
»Sehr gut. Also, wir wohnen unten am Strand«, sagte der Mann und zeigte zur Bucht hinunter. »Wir sind jetzt seit mehreren Wochen hier. Ihr müsst den Lärm entschuldigen, wir bereiten uns gerade vor. Ich wollte eigentlich nur vorbeischauen und euch zu unserem Mittsommerfest einladen. Es gibt Essen und Wein, ein Feuer, vielleicht auch ein bisschen Politik, wenn ihr das ertragen könnt.«
»Klingt interessant«, sagte Erik.
»Ja, ist es in der Regel auch. Ich heiße übrigens Chris«, erklärte er und gab ihnen die Hand, sogar Alice und Anton. Er hatte einen festen Händedruck. Er lächelte wieder und fragte, ob das nicht ein herrliches Wetter sei, obwohl es eigentlich gar nicht besonders herrlich war.
»Wie auch immer«, sagte er. »Ihr seid am Freitag herzlich willkommen.«
»Vielen Dank. Wir werden es uns überlegen«, sagte Erik.
Der Mann schaute Julia an, die nickte und sich eine verschwitzte Haarsträhne hinters Ohr schob.