Heute war ich gegen fünf im Büro. Behutsam drehte ich den Schlüssel im Schloss, um den Direktor nicht zu stören, und hatte zugleich das Gefühl, eine willkommene Überraschung zu sein. Doch drinnen war alles dunkel; das Telefon läutete durch die Stille. Ich blieb unschlüssig stehen, warf einen Blick zur Glastür des Direktorzimmers, durch die kein Licht drang, und hastete zur Telefonzentrale. Mit den Knöpfen und Stöpseln kenne ich mich nicht aus, und während ich hektisch versuchte, das Gespräch anzunehmen, brach das Klingeln ab.

Mein Zimmer war aufgeräumt und einladend. Ich trat ein, nahm den angenehmen Geruch nach Bohnerwachs, Holz und Leder wahr und empfand ein unsagbares Glücksgefühl. Bedächtig legte ich Hut und Handschuhe ab, als wäre ich in einem Hotel eingetroffen, in dem ich lange bleiben würde. Am liebsten hätte ich einen Kaffee bestellt, doch es war höflicher, damit zu warten. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, schlug einen Briefordner auf und wusste nicht recht, was ich ohne den Direktor anfangen sollte. Einige Briefe trugen seine Handschrift, mit Rotstift gemachte Anmerkungen: »So in Ordnung« oder »Überprüfen«, und häufig »Darüber sollten wir reden«. Gesprächsaufforderungen, denen ich ohne seine Anwesenheit nicht nachkommen konnte. Ungeduldig lauschte ich auf jedes Geräusch, jedes Knarren. Nichts. Ich stand auf und ging in sein Zimmer. Ich knipste die Schreibtischlampe an, rückte den Brieföffner, den Bleistift, den Füllfederhalter zurecht, die bereits in perfekter Ordnung dalagen. Ich betrachtete seinen leeren Lehnstuhl und hörte sein warmherziges »Darüber sollten wir reden.«

Mir war, als meinte er damit nicht nur die Geschäftsbriefe. Vielleicht ahnte er, dass ich mit ihm gern über Mirella reden würde, und wollte mich dazu ermuntern. Vielleicht wollte er, dass ich ihm von mir erzählte. Wie zu einer Besprechung nahm ich auf dem Stuhl auf der anderen Seite seines Schreibtisches Platz. Der Direktor ist der einzige Mensch, mit dem ich reden kann. Schon seit Jahren habe ich keine Freundschaften mehr: Meine alten Internatsmitschülerinnen und die jungen Frauen, mit denen ich als Frischverheiratete zu tun hatte, führen ein völlig anderes Leben als ich: Sie stehen spät auf, gehen zum Friseur oder zur Schneiderin, und nachmittags spielen sie Karten. Wir haben nichts mehr gemeinsam, können über nichts reden. Mit den Bürokolleginnen fühle ich mich genauso unbehaglich, denn wir teilen weder die Herkunft, den gesellschaftlichen Hintergrund noch die Erziehung oder die Art der Konversation. Außerdem könnte ich sowieso keine neuen Freundschaften schließen; seit Jahren schaffe ich es kaum, zwischen zu Hause und Büro, Büro und zu Hause hin- und herzuhetzen. Ich habe immer geglaubt, die Zeit, die ich in die Kinder steckte, sei eine Art Kapital; dabei klauen sie sie mir, nehmen sie mir weg. Die einzige Zeit, die wirklich mir gehört, ist meine Arbeitszeit: Nur im Büro habe ich das Gefühl, frei zu sein und niemandem etwas vorzumachen. Tatsächlich verspüre ich diese vage Ahnung, einmal gelogen zu haben und von dieser Lüge nicht mehr loszukommen. »Darüber sollten wir reden«, hätte ich am liebsten zum Direktor gesagt. Mein Verstand war wie von einem Fieber erfasst und zugleich glasklar. Mir war, als würde ich kostbare Momente einer mir lebenswichtigen Unterhaltung verlieren, wenn der Direktor noch länger auf sich warten ließe. In meinem Alter ist jeder Moment kostbar, hätte ich ihm gern gesagt.

Wieder klingelte das Telefon, und ich fuhr erschreckt zusammen. Ich sprang auf, unsicher, ob ich seinen Apparat bedienen durfte, als könnte mich jemand durch die Telefonleitung in seinem Zimmer sehen und mich für indiskret halten; als könnte er plötzlich hereinkommen und sich fragen, was ich dort zu suchen habe. Weil das Telefon keine Ruhe gab, setzte ich mich wieder hin und nahm den Hörer ab: »Ja bitte …« Es war der Direktor. Ich bekam Herzklopfen, seine Stimme klang belegt. »Es tut mir leid«, sagte er, »aber ich kann nicht kommen.« Mir blieb die Luft weg, darauf war ich nicht gefasst gewesen, alles um mich herum schien zusammenzubrechen. »Oh! …«, hauchte ich. »Es tut mir leid«, sagte er noch einmal. »Was mache ich denn jetzt«, sagte ich, »ich wollte mit Ihnen reden.« Schnell schob ich nach: »Wegen einiger Vorgänge.« Er schwieg kurz, dann sagte er, er müsse zu Hause bleiben, sein Sohn habe Geburtstag. Er habe bereits zweimal angerufen, doch niemand habe abgenommen. »Ich ging davon aus, Sie wären im Büro, und hatte gehofft, ich käme früher los, aber …« Er verstummte, ohne das Telefonat zu beenden. Ich schwieg ebenfalls, dann sagte ich: »Das verstehe ich bestens, kein Problem, ich komme schon allein zurecht, wir reden am Montag darüber.« Ich legte den Hörer auf und konnte die Hand nicht davon lösen.

Eine Weile blieb ich im geschmeidigen Leder seines Polsterstuhls sitzen. Schließlich stand ich auf, knipste das Licht aus, schob meine Schublade zu, setzte meinen Hut auf und verließ, ohne mich noch einmal umzublicken, das Büro. Langsam schlenderte ich die Straßen entlang, ich hatte keine Lust, nach Hause zu gehen, und war versucht, mich auf eine Parkbank zu setzen. Samstagnachmittags erscheint mir die Stadt noch schöner, strahlender und bezaubernder als sonst. Seit einiger Zeit hat ein unsinniges Feriengefühl mich ergriffen, es drängt mich, die Fenster aufzustoßen, die frische Luft auf meinem Gesicht zu spüren, es ruft Erinnerungen wach an Wälder, an Natur und Meereslandschaften, und am Ende immer an Venedig. Kaum betrete ich die Wohnung, verflüchtigt sich der freudige Drang. Ich weiß nicht, warum ich mich zu Hause dauernd entschuldigen will. Vielleicht, weil ich wegen dieses Heftes vieles vernachlässige. Ich bleibe bis spät auf und bin tagsüber müde. Heute zum Beispiel hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ins Büro gegangen war und dort nutzlos meine Zeit verschwendet habe: Der Abwasch war noch nicht gemacht, und Michele braucht seine Hemden, die ich, an den vergangenen Abenden, wegen des Schreibens zu bügeln versäumt habe. Manchmal stelle ich mir mit rauschhafter Beglückung vor, mich der Unordnung hinzugeben; die Töpfe nicht zu spülen, die Wäsche nicht zu waschen, die Betten nicht zu machen. Über diese Sehnsucht schlafe ich ein: Es ist ein heftiges, zehrendes Verlangen, wie mein Heißhunger auf Brot während der Schwangerschaften. Nachts träume ich dann, ich müsste all diese Unordnung beseitigen und würde es vor Micheles Heimkehr nicht rechtzeitig schaffen. Es ist ein Albtraum.

Vielleicht war meine Mutter früher zu streng mit mir. »Nähe«, sagte sie immer, »lerne«. Als ich größer war, trug sie mir Hausarbeiten auf, kaum dass ich mit dem Lernen fertig war. Sie ließ es nicht zu, dass ich untätig blieb, und vergaß mich nie. Kaum sah sie mich einen Moment lang nicht, kam sie in mein Zimmer und fragte, was ich treibe. »Eine Frau darf niemals nichts tun«, sagte sie immer.

Heute Abend kam Michele recht spät nach Hause; er wirkte abgespannt und müde. Ich fragte ihn, ob er im Büro an seinem Filmstoff gearbeitet habe. Er sah mich an, hielt abrupt in der Bewegung inne, wie ertappt von meiner Frage. Doch sogleich hatte er sich wieder gefangen und sagte: »Nein, nein, von wegen Filmstoff, ich hatte heute eine Menge zu tun. Ich habe Kopfschmerzen, nach dem Essen gehe ich sofort ins Bett.« Ich sagte, ich würde gern mit ihm über Riccardo und Mirella sprechen, es falle mir schwer, ohne seine Weisung zurechtzukommen und mich nur auf mich und meine Prinzipien zu verlassen. Liebevoll antwortete er, ich solle entscheiden und tun, was ich für richtig halte, er lasse mir freie Hand; und ganz gleich, worum es gehe, ich könne stets auch in seinem Namen sprechen, niemand könne das besser und einfühlsamer als ich. Gerührt und geschmeichelt umarmte ich ihn, ich brauchte ein wenig Trost, ein bisschen Wärme. Nichts beruhigt mich mehr, als Micheles Schulter an meiner Wange zu spüren. Er fragte, ob Clara sich gemeldet habe.

Heute Morgen rief meine Mutter an, und aus irgendeinem dummen Grund reagierte ich ungehalten. Sie ruft mich jeden Sonntagmorgen an, um zu fragen, ob ich sie besuchen käme. Heute Morgen hatte ich keine Lust und sagte, ich hätte keine Zeit. Was auch stimmt, denn sonntags stehe ich zwar zur gleichen Zeit auf wie sonst, aber Michele und die Kinder schlafen ewig lang und laufen im Morgenmantel herum, wenn bereits die Mittagssonne in die noch warmen Betten scheint. Michele sagt immer, diesen Luxus des Sonntagsschlafes könne ihm niemand nehmen. Manchmal bin ich versucht, es ihm gleichzutun, doch wer würde dann die ganze Arbeit erledigen? Also bringe ich ihm das Frühstück ans Bett und freue mich daran, ihn gut gelaunt essen zu sehen. Meine Mutter versteht diese Dinge nicht, sie missbilligt Micheles Verhalten, vielleicht weil sie an Schlaflosigkeit leidet. Sie sagte, sie habe das Recht, mich von Zeit zu Zeit zu sehen, ich sei ihre einzige Tochter. Da ist mir die Geduld gerissen: Ich sagte, ich sei auch die einzige Ehefrau und die einzige Mutter und sei es jetzt leid. Ich sagte, selbst gestern, am Samstag, hätte ich noch einmal ins Büro gemusst, und niemand mache sich klar, dass ich wahrlich genug Gründe hätte, besorgt und angespannt zu sein. Wieso ich die ausgerechnet jetzt haben sollte, verstehe sie nicht, erwiderte sie: Michele habe eine Gehaltserhöhung bekommen, Riccardo könne sich auf eine gesicherte Zukunft in Argentinien freuen, und Mirella habe, obwohl sie noch studiere, angefangen zu arbeiten. Bei dieser Bemerkung reichte es mir. Ich versetzte scharf, sie habe in anderen Zeiten gelebt, ein leichtes Leben gehabt und könne meines nicht nachvollziehen. »Leicht?!«, rief meine Mutter entrüstet, Bertolotti habe sie ausgeplündert, zehn Jahre lang habe sie vor Gericht um die Rückgabe der Villa gekämpft und sie am Ende doch verloren, erinnerte sie mich. Von besagtem Bertolotti, dem abgefeimten Vermögensverwalter meiner Großmutter, habe ich mein ganzes Leben lang reden hören: Er ist an all unserem Unglück schuld, an unserer wirtschaftlichen Misere. Wenn ich als Kind von ihm reden hörte, verstummte ich entsetzt, als würde man vom Teufel sprechen. Heute sagte ich zu meiner Mutter, Bertolotti hätte gut daran getan, sich das Anwesen und die Villa einzuverleiben. Die Hoffnung, eines Tages dorthin zurückzukehren und sie wieder in Besitz zu nehmen, sei unser eigentliches Unglück, bis heute schleppten wir es mit uns herum, deshalb falle es uns so schwer, uns mit unseren Verhältnissen abzufinden: mir wegen dieser Villa, Michele wegen der Uniformen seines Vaters. Deshalb würde die Tatsache, verarmt zu sein, wie ein ewiger Makel auf uns lasten. »Wir sind mittellos, und trotzdem fühlen wir uns noch so, als besäßen wir Villen und Pferde. Schau dir die Kinder an: Sie haben nie von Bertolotti gehört, und es geht ihnen bestens.« Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Meine Mutter weiß, dass ich so rede, wenn ich verärgert bin, und glaubt, Bertolotti sei auch daran schuld, und das tröstet sie. »Du kommst also nicht?«, fragte sie. »Nein«, antwortete ich, »ich kann nicht.«

Später auf der Straße tat es mir leid. Die sonntägliche Luft heiterte mich auf und vertrieb Kummer und Müdigkeit. Ich betrat eine Bar und rief meine Mutter an. »Ich war schneller fertig als gedacht«, sagte ich. »Ich komme kurz vorbei. Soll ich dir etwas mitbringen?« »Ja, danke«, sagte sie, und ihr kühl beherrschter Ton konnte die Genugtuung nicht verbergen. »Ein wenig frisches Obst für Papa.« Ich kaufte auch einen Veilchenstrauß; doch meine Mutter und ich scheuen solche Gesten: Ich sagte ihr, ein aufdringliches Bettelmädchen hätte ihn mir aufgeschwatzt.

Heute Abend muss ich früh ins Bett. Bei Tisch hat Riccardo gesagt, er würde mich immer bis spät auf den Beinen hören. »Was machst du eigentlich?«, fragte er. Bei diesem Satz blickte auch Mirella von ihrem Teller auf und sah mich an. Mich überkam die unsinnige Furcht, sie könnten sich auf die Suche nach dem Heft machen. Ich sagte, ich würde wohl doch an Schlaflosigkeit leiden, wie meine Mutter.

Kaum kam ich heute Morgen ins Büro, rief der Direktor mich zu sich. Es waren noch andere Leute bei ihm; obwohl mir ihre Gegenwart lästig war, plauderte ich mit ihnen, um sie am Gehen zu hindern. Als sie fort waren, blätterte der Direktor durch die Post und sagte, ohne mich anzusehen, unter der Woche bliebe ihm nicht einmal mehr Zeit, die wichtigen Korrespondenzen zu lesen. Er wirkte müde und angespannt, doch als er schließlich aufblickte und mich ansah, lächelte er. Er kam wieder auf den Samstag zu sprechen und seufzte, »Die Familie …«, und mir passierte etwas Törichtes: Ich wurde rot. Er fragte, ob ich nächsten Samstag Zeit hätte, ins Büro zu kommen, was ich allzu überschwänglich bejahte. Er blickte auf, ohne zu lächeln, und sah mich mit sanfter Innigkeit an. »Gegen vier?«, schlug er vor. Ich nickte. Meine Hände auf dem gläsernen Schreibtisch waren kalt. Dann bat er mich, ihm einen Brief zu zeigen, den ich aufgesetzt hatte, und als ich zurückkehrte, war er wie ausgewechselt. Er sagte sogar, der Brief sei so nicht in Ordnung, und ich musste ihn neu schreiben.

Als ich heute zum Mittagessen nach Hause kam, sprach die Pförtnerin mich unter einem Vorwand an und bemerkte dann mit einem hämischen Lächeln: »Die Signorina ist vor wenigen Minuten zurückgekommen, ihr Verlobter hat sie gebracht.« Für einen kurzen Moment war ich ratlos, was sie sogleich ausnutzte und sagte: »Glückwünsche!« Statt zu antworten, setzte ich ein Lächeln auf und ging davon, doch ihre Worte hatten mich derart verwirrt, dass ich vergaß, den Aufzug zu nehmen, und zu Fuß nach oben ging.

Mirella war in ihrem Zimmer; ich erzählte ihr vom Kommentar der Pförtnerin, und sie sagte lächelnd: »So eine Klatschbase!« Sonst nichts. Ich bereute es, etwas gesagt zu haben, denn diese Diskussion weiterzuführen, ohne eine entschiedene Haltung einzunehmen, kann meine Position nur schwächen. Ich blickte mich in ihrem Zimmer um, in der Hoffnung, irgendetwas zu entdecken: Seit einer Weile habe ich das Gefühl, als berge es ein Geheimnis, das mir, würde ich es lüften, alles über Mirella verraten und mir sagen könnte, wie ich mich verhalten soll. Ich verkniff mir die Bemerkung: »Lass dich wenigstens nicht bis vor die Haustür bringen.« Einer Freundin hätte ich diesen Rat geben können, aber nicht meiner Tochter, dabei ist es ausgerechnet diese Prinzipienstarre, zu der wir innerhalb der Familie gezwungen sind, die zu Unaufrichtigkeit führt. Vielleicht hat sie eine Freundin, der sie sich anvertraut: Vielleicht dieser Sabina, die seit einiger Zeit häufiger anruft und dieselbe Vorlesung besucht. Ich werde sie danach fragen, obwohl ich jetzt schon weiß, dass sie mir nichts sagen wird. Wenn Mirella oder Riccardo Freunde zu Besuch haben und ich ins Zimmer komme, verstummen alle sofort und springen halb respektvoll, halb argwöhnisch auf, als käme die Lehrerin in die Klasse. Ich gebe mich herzlich und zugewandt, versuche nett zu sein und biete ihnen Süßigkeiten und Kaffee an, im Sommer gehe ich sogar hinunter zur Bar an der Ecke und kaufe ihnen Eis. Sie sehen mich verunsichert an und fragen sich, welche Absicht sich hinter meiner Fürsorglichkeit verbirgt. Manchmal bleibe ich ein paar Minuten und rede mit ihnen, erzähle ein paar amüsante Belanglosigkeiten und gebe mich ganz leger, in der Hoffnung, so ihrer Denkweise und ihrem Alter ein wenig näherzukommen. Aber je weniger ich dem Bild entspreche, das sie von Eltern, von der Mutter eines Altersgenossen haben, desto befremdeter und verunsicherter sind sie. Sage ich hingegen streng, Mirella müsse zum Abendessen daheimbleiben oder Riccardo bekomme kein Geld fürs Kino, entspannen sie sich.

Sabina wird mir also nichts sagen. Doch ich bin fest entschlossen, der Sache nachzugehen, auch wenn Mirella inzwischen gänzlich von ihrem Studium und von der Arbeit eingenommen zu sein scheint. Sie hat sich vollkommen in sich selbst zurückgezogen, erzählt gar nichts mehr. Heute habe ich im Büro angerufen, behauptet, ich fühlte mich nicht wohl, und bin zu Hause geblieben, um ihre Schubladen zu durchsuchen. So etwas habe ich noch nie getan, meine Hände zitterten und ich kam mir vor wie eine Diebin. Minutiös durchsuchte ich ihre Sachen und dachte: »Es geht nicht anders«, dabei wusste ich selbst nicht, was ich zu finden hoffte. Mir war, als könnte ich, versteckt zwischen den Kleidungsstücken, dem Zettelkram, der Unterwäsche, auf Cantoni stoßen. Doch von ihm keine Spur; Mirella war ausgegangen, mit der Tasche, die er ihr geschenkt hatte, und der Armbanduhr. Ich hoffte, wenigstens auf ein Foto oder auf eine Karte zu stoßen, doch da war nichts. Ich habe nicht lange gesucht: Die Durchsicht ihrer Schubfächer, der wenigen, abgetragenen Kleidungsstücke und der wenigen Unterwäsche, die sie besitzt, hat mir abermals vor Augen geführt, dass Mirella ein armes Mädchen ist. Das scheint sie gegen meine Anschuldigung noch wehrloser zu machen, und sie zu verdächtigen, kommt mir grausam vor.

Dann ist mir ihr Tagebuch in der abgeschlossenen Schreibtischschublade eingefallen. Mir entfuhr ein triumphierendes Seufzen; doch dann zögerte ich und musste daran denken, was ich die Kinder über den Respekt vor den Geheimnissen anderer gelehrt habe. Ich verließ das Zimmer, um der Versuchung zu widerstehen, ging in die Küche und holte ein Messer, um die Schublade aufzubrechen. Ich zwang mich zu rücksichtsloser Entschlossenheit, als würde ich ein Geschwür herausschneiden. Ich schob das Messer in den Spalt zwischen Schublade und Tischplatte, doch zu meiner Überraschung gab sie sofort nach: Sie war offen. Das Tagebuch war nicht da. Es ist weg. In dem Schubfach sind unwichtige Briefe, alte Fotos. Auch hier keine Spur von Cantoni. Doch statt mich zu beruhigen, macht mich diese scheinbare Unschuld misstrauisch. Unmöglich, dass sie keinen Brief von ihm hat, vielleicht sind es kompromittierende Briefe, die sie vorsorglich vernichtet. Zudem ist das Verschwinden des Tagebuches ein eindeutiger Beweis ihrer Schuld. Wäre ich meinem Impuls gefolgt, wäre ich sofort aus dem Haus gegangen, hätte Cantoni aufgesucht und ihm gesagt: »Ich weiß alles.« Ich hätte mich auf ihn gestürzt, ihn geschüttelt, ihn geschlagen. Stattdessen saß ich mit dem Messer in der Hand vor dem Schreibtisch und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich dachte, Mirella könnte das Tagebuch mit ins Büro genommen haben, und es fühlte sich an, als wäre sie von zu Hause fortgelaufen. Oder sie könnte es versteckt haben: Akribisch fing ich an zu suchen. Ich werde alles durchforsten, dachte ich, wenn sie es so gut versteckt, dann soll man nicht dahinterkommen, wer sie wirklich ist, aber ich werde dahinterkommen, ich werde sie bloßstellen, und in Gedanken sah ich mich bereits vor ihr stehen und mit der Hand auf die beschriebenen Seiten schlagen.

Auf einmal dachte ich, dass auch ich ein Tagebuch verstecke und dass Mirella es auf der Suche nach einem Versteck für ihres finden könnte. Wenn sie es läse, würde sie herausfinden, dass ich anders bin, als sie glaubt. Sie würde all meine Geheimnisse erfahren, auch vom Direktor wissen, von der Verabredung, die ich für Samstag angenommen habe, von der Besorgnis, mit der ich mich frage, ob er verliebt in mich ist. Der Gedanke an ihn, die Furcht, das Tagebuch könnte entdeckt werden, und das Gefühl, dass jeden von uns ein undurchdringliches Geheimnis umgibt, lassen mir keine Ruhe. Ich sehe Mirella, die mit ihrem Tagebuch in der Handtasche das Haus verlässt, Michele, der samstags in die Bank zurückkehrt, um in Ruhe an seinem Filmstoff zu schreiben, Riccardo, der das Foto der argentinischen Berge an seine Zimmerwand geklebt hat, und mir scheint, als würden wir einander, obwohl wir uns so sehr lieben, wie Feinde misstrauen.

Heute Abend kam Mirella nach Hause und rief mich sofort in ihr Zimmer. »Schau mal«, jubelte sie und leerte, vor meinen erstaunten Augen, eine Tüte voller Geldscheine aus. Meiner strengen Frage, woher dieses Geld stamme, kam sie zuvor: »Das ist mein Gehalt.« Mit hingebungsvoller Gewissenhaftigkeit sammelte sie die Scheine zusammen und zählte auf, was sie sich davon kaufen würde, hauptsächlich Firlefanz, mit dem sie immer wieder angefangen hatte und den ich ihr nie hatte kaufen können. Vielleicht tue ich ihr unrecht, doch es kam mir vor, als wollte sie mich demütigen; in fast verächtlichem Ton sagte ich, jetzt, da sie wisse, wie mühsam es sei, Geld zu verdienen, würde sie das, was wir immer für sie getan hätten, endlich zu würdigen wissen. Sie ging ins Badezimmer und schrubbte sich energisch mit einem Handtuch das Gesicht. »Willst du die Wahrheit wissen, Mama?«, fragte sie lächelnd. »Ich fand es kein bisschen mühsam. Ich habe euch so oft davon reden hören, dass mir nach meiner Entscheidung, arbeiten zu gehen, ganz mulmig wurde, ich fürchtete, es nicht durchzustehen. In der Nacht vor meinem ersten Arbeitstag konnte ich kaum schlafen, Riccardo hatte immer nur spöttischen Argwohn für mich übrig und zweifelte ständig an, dass man in einer Kanzlei wie der von Barilesi ein Mädchen wie mich haben wolle; und ich war kurz davor, ihm recht zu geben. Als ich dann vor der Tür stand, hätte ich am liebsten kehrtgemacht, angerufen und gesagt, ich hätte es mir anders überlegt, ich sei krank oder sonst was. Dass ich es nicht getan habe, verdanke ich euch.« Ich riss erstaunt die Augen auf, und sie fuhr fort: »Ja, denn ich war mir sicher, ihr wärt froh, eure schlechte Meinung von mir bestätigt zu sehen.« Ich fragte, ob sie es nicht eher getan habe, um vor diesem Anwalt, diesem Cantoni, gut dazustehen. »Nein«, sagte sie mit Nachdruck, »er würde niemals denken, dass ich zu etwas nicht in der Lage wäre, im Gegenteil. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass mir klargeworden ist, dass Arbeiten nicht anstrengend ist. Es macht mir großen Spaß. Oft bin ich müde, aber es ist eine ganz andere Müdigkeit, als ich sie sonst kenne, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, fast ist es, als würde ich sie spielen, denn in Wahrheit gefällt es mir, nach der Arbeit müde zu sein. Ich mag es, diese Worte in den Mund zu nehmen, die bei euch immer so wichtig klangen: so etwas wie archivieren, protokollieren, zu den Akten. Du wirst lachen, aber wenn ich sie benutze, fühle ich mich auch wichtig.« Ein kindlicher Übermut hatte sie erfasst, als wollte sie sich liebevoll über mich lustig machen. »Und außerdem«, fuhr sie fort, »höre ich es gern, wenn jemand meinen Namen sagt, als gehörte er jemandem, der weiß, was er tut, auf den man sich verlassen kann. Wenn es heißt: ›Darum kümmert sich Signorina Cossati‹, ist es, als sprächen sie von einer anderen Person, die zu sein ich nie für möglich hielt. Heute hat Avvocato Barilesi gesagt: ›Am Montag könnte Signorina Cossati zum Amtsgericht gehen.‹ Es geht nur um eine Auskunft, eine Nichtigkeit, jeder könnte das machen, und dennoch bin ich rot geworden vor Stolz. An der Universität ging es mir anfangs genauso; ich habe nie ein Wort darüber verloren und so getan, als wäre es ganz selbstverständlich, doch es fühlte sich wie eine Ehre an, in diesen Hörsälen zu sitzen. Trotzdem hatte ich an der Universität immer den Eindruck, sie hätten gerne auf mich verzichtet. Aber hier werde ich fürs Hingehen bezahlt«, sagte sie überschwänglich und bürstete sich dabei das Haar; sie kam lachend auf mich zu, in einer freudigen Erregung, die ich gar nicht von ihr kannte, und versuchte mich zu umarmen: »Sag die Wahrheit, du gehst auch gern ins Büro, und Papa auch: Wieso wollt ihr das nicht zugeben? Sag schon, Mamilein, sag schon, ich gebe dir tausend Lire, wenn du es zugibst.« Sie hielt noch die Haarbürste in der Hand, und weil ich mich gegen ihre Umarmung zu wehren versuchte, traf mich die Bürste an der Augenbraue. Mit einem leisen Aufschrei griff ich mir an die Stirn. »Oh, entschuldige …«, sagte sie kleinlaut. »Was ist denn heute Abend mit dir los«, sagte ich scharf und rieb mir die Braue. »Du bist ja ganz durchgedreht. Das bisschen Geld lässt dich durchdrehen. Durchgedreht und undankbar. Und eines solltest du dir merken: Im Gegensatz zu dir konnten wir uns von unserem Lohn nie kaufen, was uns gefällt. Wir haben immer alles für den Haushalt ausgegeben, für Riccardo, für dich, für das Studium, das dir jetzt so viel Genugtuung, so viel Spaß beschert.« Beschämt sagte sie: »Du hast recht, ich weiß, entschuldige. Ich habe das nicht böse oder verächtlich gemeint. Im Gegenteil. Es wäre schön zu wissen, dass eure Arbeit euch auch Freude macht, dann müsste ich nicht so ein schlechtes Gewissen haben, euch das Leben schwer gemacht zu haben. Verzeih die Ehrlichkeit, aber manchmal schämen sich Kinder fast dafür, geboren zu sein, Essen und Kleidung zu brauchen. Entschuldige, dass ich das sage. Mir gefällt meine Arbeit so sehr, dass ich sie auch machen würde, wenn ich kein Geld dafür bekäme.« Ich dachte daran, wie beschwingt ich in letzter Zeit morgens das Haus verlasse, um ins Büro zu gehen; an die Freude, die ich empfinde, wenn der Direktor mich ruft, um mit mir zu arbeiten. Mit einem Schauder schob ich den Gedanken beiseite und sagte, ihre Begeisterung sei allein dem Neuen geschuldet. »Vielleicht«, räumte Mirella ein, »aber das will ich nicht glauben, es wäre zu schade, denn das sind die schönsten Tage meines Lebens. Heute hat Barilesi einen Mann verteidigt, der wegen Mordes angeklagt war, und dessen Freispruch erwirkt. Ich war heute Morgen nicht in der Uni, um bei der Verhandlung dabei zu sein; Barilesi hat ein großartiges Plädoyer gehalten, ich war bewegt, habe ihn bewundert und beneidet. Diese Arbeit ist ganz bestimmt keine Last für ihn, da bin ich mir sicher.« »Das glaube ich!«, rief ich. »Bei dem, was er verdient!« »Meinst du, es ist nur deswegen? Barilesi ist so reich, er könnte jederzeit aufhören zu arbeiten! Stattdessen klagt er oft, er sei angespannt und abgekämpft, und trotzdem nimmt er Fälle an und gibt immer sein Bestes. Vielleicht klagt er über seine Müdigkeit, weil er nicht zugeben will, dass die Arbeit ihm Spaß macht.« Sie lachte zufrieden. »Ich will eine bedeutende Anwältin werden, genau wie er.« Ich fragte sie, was sie daran so verlockend finde: die großartige Karriere oder die Aussicht, jemandem zu gefallen, Cantoni zum Beispiel. »Das ist sicher auch ein Grund«, erwiderte sie. Also habe sie es nicht darauf abgesehen, Karriere zu machen, sondern darauf, einen wohlhabenden, einflussreichen Mann zu heiraten, genau wie sie es immer vorgehabt hätte, sagte ich triumphierend. Doch statt sich einzubilden, das wäre der Weg zum Ziel, sollte sie lieber auf meinen Rat hören, niemand könne schließlich bessere Ratschläge erteilen als eine Mutter. Für unabhängige Frauen, die ihrer eigenen Wege gingen, hätten Männer nämlich nichts übrig, zumindest wollten sie sie nicht heiraten; und sowieso, wenn sie selbst erst einmal ihr erstes Kind in den Armen halte, wenn sie es weinen hörte und merkte, dass es sie brauche, um es zu ernähren, um zu leben, würde sie es nicht wagen, es für die Vergänglichkeit eines schmeichelhaften Erfolgs vor Gericht zu vernachlässigen. Mirella sagte, sie sehe das anders: Auch als Ehefrau und Mutter hätte sie vor, eine gefeierte Anwältin zu werden. Sie errötete, als sie das sagte. Ich lächelte nachsichtig. »Darüber reden wir nochmal«, sagte ich und wollte in die Küche gehen. Doch dann drehte ich mich um und fragte, wo sie ihr Tagebuch aufbewahre. Sie warf einen überraschten Blick auf ihren Schreibtisch und fragte, ob ich etwa in ihrem Schubfach herumgekramt hätte. Ich sagte, wenn ich es für nötig hielte, könnte ich das tun. Sie sagte, sie habe es vor einer Weile vernichtet; es sei sowieso nur eine kindische Angewohnheit gewesen; und außerdem, selbst wenn ich es gefunden hätte, wäre es meine Schnüffelei nicht wert gewesen, denn – fügte sie lachend hinzu – aus Angst, ich könnte es lesen, hätte sie nur Lügen hineingeschrieben.

Ich ging in die Küche und machte mich daran, Kartoffeln und Eier zu braten. Ich glaube, Mirella hat gelogen, und selbst wenn sie das Tagebuch vernichtet hat, dann erst, nachdem sie Cantoni begegnet ist. Wenig später kam sie zu mir und fragte, ob sie mir zur Hand gehen solle. Das passiert nur sehr selten, und erstaunt sah ich sie an. Sie ist ein wirklich schönes Mädchen, der kurze Haarschnitt steht ihr gut. Die Freude über das verdiente Geld gab ihr etwas Selbstgewisses und ungewohnt Weiches zugleich. Sie lächelte mich an. »Mama, wieso kannst du dich nicht damit abfinden, dass ich auf meine Weise glücklich werde?« Ich erwiderte, das Glück, wie sie es sich vorstelle, gebe es nicht, das wisse ich aus Erfahrung. »Aber deine Erfahrungen beschränken sich auf ein Leben, auf deines. Wieso willst du mir nicht wenigstens die Hoffnung lassen?«, wandte sie ein. Ich sagte, hoffen könne sie, das koste schließlich nichts. Dann hielt ich ihr den Teller mit den gebratenen Eiern hin und bat sie, ihn ihrem Bruder zu bringen. Sie fragte, warum er ihn sich nicht selbst holen könne. »Ich rufe ihn«, sagte sie. »Tu, was ich dir sage«, fuhr ich sie an. »Riccardo ist müde, er hat den ganzen Tag gelernt.« »Und hast du etwa nicht den ganzen Tag gearbeitet?«, entgegnete sie schroff: »Und habe ich etwa nicht den ganzen Tag gearbeitet?« Trotzdem brachte sie ihm den Teller. Als sie zurückkam, sagte sie: »Genau das ist es, was mich anwidert, Mama. Du glaubst, du müsstest alle bedienen, angefangen bei mir. Und irgendwann glauben auch die anderen, es müsse so sein. Du glaubst, wenn eine Frau außer Heim und Herd noch andere persönliche Erfüllungen hat, mache sie sich schuldig: ihre einzige Aufgabe bestehe darin, zu dienen. Aber ich will das nicht, verstehst du? Ich will das nicht.« Ein Schauder lief mir über den Rücken, ein eisiger Schauder, den ich selbst jetzt nicht loswerde. Doch ich tat so, als ginge das, was sie sagte, an mir vorbei. Ich fragte sie spöttisch, ob sie etwa bei sich zu Hause anfangen wolle, die Anwältin zu spielen.

Kaum war Michele heute nach dem Mittagessen aus dem Haus, blickte sich Riccardo verstohlen um, um sicherzugehen, dass wir allein sind, zog eine Zeitung aus der Tasche und sagte: »Schau mal.«

Es war ein Artikel über den Prozess, von dem Mirella mir erzählt hatte: Unter den Verteidigern wurde, neben Barilesi, auch Cantoni erwähnt. »Ich weiß«, sagte ich, »er ist sein Stellvertreter.« Er sagte, er begreife nicht, wie ich diesen Skandal einfach weiterlaufen lassen könne, aber immerhin sei nun endlich klar, weshalb Mirella so gut verdiene. Ich erwiderte, mit Gehältern kennte ich mich aus, für ihre Tätigkeit beziehe sie den gültigen Mindestlohn. Außerdem scheine der Beruf sie zu begeistern, und eines Tages würde sie eine gute Anwältin sein.

Es ist sehr schwierig, mit Riccardo über Mirella zu sprechen: Wenn sie zusammen sind, geraten sie immer aneinander. Vielleicht war das schon immer so, doch bisher hielt ich es für die üblichen Sticheleien unter Geschwistern. Aber allmählich fürchte ich, es könnte etwas anderes, tiefergehendes dahinterstecken, das ich nicht zu deuten vermag und das mich zutiefst bekümmert. Ich will nicht glauben, dass Riccardo seine Schwester nicht liebt: Mir scheint eher, er richte den Hader mit sich selbst gegen sie. Heute sagte er zu mir, Frauen machten sich das Berufsleben zunutze, um zu tun, was ihnen passe. Ich erinnerte ihn daran, dass ich ebenfalls berufstätig sei und unserer Familie das zugutekomme, auch ihm. Er meinte, ich würde es nur aus Notwendigkeit tun, meine Arbeit sei ein Beweis meiner Solidarität mit meinem Mann, ein Beweis meiner Fügsamkeit. Er sagte, wenn ich könnte, würde ich darauf verzichten: Ich weiß nicht, was mich davon abhielt, ihm zu widersprechen, vielleicht meine Verabredung am Samstag. Er fuhr fort, den Mädchen von heute sei dieses Pflichtgefühl fremd, sie hätten keine Lust, Opfer zu bringen, und hätten nur Geld im Kopf. »Sie gehen mit erwachsenen Männern aus, weil die schon ein Auto haben, sie zum Abendessen ausführen und in schicksten Lokalen mit ihnen tanzen gehen. Wie soll ich mit denen mithalten? Es ist nicht meine Schuld, wenn die Familien meiner Eltern nicht reich sind.« Verletzt wies ich ihn darauf hin, in Wahrheit seien unsere Familien sehr wohl reich gewesen, doch wegen mangelhafter Verwaltung hätten sie alles verloren. »Und wenn schon, was hilft mir das?«, beharrte er. »Kann ich meinen Abschluss machen, bevor ich zweiundzwanzig bin? Vor diesen Mädchen fühlt sich ein Mann meines Alters wie ein kleiner Junge, es ist zum Verzweifeln.« Ich sagte, mit ihrem Gehalt könne sich Mirella ihre Kleider nun selbst kaufen, und deshalb hätte ich ein bisschen mehr Geld für ihn übrig. Er schwieg und schaute aus dem Fenster; in seinem blassen Gesicht spiegelte sich der weiße Himmel. Ich musste an die vielen jungen Leute denken, die sich in einem Moment der Mutlosigkeit, der ihren Müttern entgeht, das Leben nehmen. Ich versprach ihm, das wöchentliche Taschengeld, das er von seinem Vater erhält, zu verdoppeln. Er sagte nichts, doch ein wenig versöhnt kehrte er an den Tisch zurück, blickte auf die aufgeschlagene Zeitung und schlug mit einer knappen, verächtlichen Geste, die einer Ohrfeige gleichkam, auf den Artikel, in dem von Cantoni die Rede war. »Siehst du, was sie tun?«, sagte er. »Es ist, als würden sie sich verkaufen. Was findet Mirella bloß daran, mit einem Mann dieses Alters auszugehen, einem Greis?« Lächelnd wandte ich ein, ein vierunddreißigjähriger Mann sei kein Greis, und nach allem, was man von Cantoni höre, sei er sehr intelligent. Verdrossen blickte er mich an. »Nimm sie nicht in Schutz. Du warst nicht so, Mama.« »Und wenn das ein Fehler war?«, versetzte ich. Riccardo starrte mich so erschrocken an, dass ich hastig nachschob, ich sei mit seinem Vater sehr glücklich gewesen, doch nicht alle Frauen seien gleich. Er sagte, wenn er sich seine zukünftige Frau ausmale, sei ich immer das Vorbild; er würde Marina immer von mir erzählen, von der Zuneigung, die ich für meinen Mann hegte, wie ich ihn mit meiner Treue stets unterstützt hätte, von den Opfern, die ich in den ersten Kriegsjahren gebracht hätte. Tatsächlich war das eine schwere Zeit gewesen; ich hatte noch keine Anstellung und behalf mir damit, Süßspeisen für die Empfänge meiner reichen Freundinnen zuzubereiten: Danach war ich so erschöpft, dass ich an den Empfängen, zu denen sie mich auch immer einluden, nicht teilnehmen konnte, und obwohl sie auch weiterhin Süßspeisen bestellten, baten sie mich irgendwann nicht mehr dazu. »Du sollst mit Marina nicht über mich reden«, sagte ich zu Riccardo. »Das ist ein Fehler. Kein Mädchen kann das Leben, das ich führe, erstrebenswert finden. Außerdem kann eine Ehefrau niemals so sein wie eine Mutter.« »Ich weiß«, seufzte er und sah mich zärtlich an. »Nein!«, widersprach ich, »das liegt nicht daran, dass die Mutter besser ist, sondern dass eine Frau mit ihren Kindern anders ist als mit allen anderen, selbst mit ihrem Mann.« Ich sah die große Fotografie meiner Schwiegermutter vor mir, die in unserem Schlafzimmer prangt: Sie war eine mittelmäßige Frau, doch Michele macht sie mir immer zum Vorbild. Erst nach ihrem Tod hat er angefangen, mich »Mama« zu nennen. »Nach allem, was du erzählst, bin ich mir sicher, dass Marina ein sehr gutes Mädchen ist«, sagte ich. Riccardo sah mich voll inniger Dankbarkeit an: »Genau über sie wollte ich heute mit dir reden. Du musst mir helfen, Mama.« Riccardo hat noch einen kindlichen Zug um den Mund, und seine Stimme löst in mir immer eine gerührte Zärtlichkeit aus. »Na sag schon, was ist los, was ist passiert?«, fragte ich und hoffte insgeheim, Marina könnte ihn verlassen haben. »Nichts«, entgegnete er. »Am liebsten würde ich auf der Stelle heiraten, aber ich kann Marina nicht mit nach Buenos Aires nehmen: Das erste Jahr bin ich auf Probe angestellt, mit einem schmalen Gehalt, das für zwei nicht reicht.« Ich überlegte, dass er womöglich nicht fortgehen würde, wenn er sofort heiratete, und fragte mich, welches das kleinere Übel wäre. »Du könntest dir auch hier eine Arbeit suchen«, sagte ich, »vielleicht etwas Vorübergehendes. Papa sagt, in der Bank stellen sie dieses Jahr viele Leute ein.« »Nein«, befand er entschieden, »nicht die Bank, auf keinen Fall. Aber ich würde mich gern offiziell verloben, bevor ich aufbreche. Marina ist, wie gesagt, sehr unglücklich zu Hause, sie kann es gar nicht abwarten, von dort wegzukommen. Ich habe ihr vorgeschlagen, sofort zu heiraten, dann würde ich fortgehen und sie könnte hierbleiben und dir Gesellschaft leisten, mein Zimmer wäre frei; aber sie will nicht. Also habe ich ihr gesagt, ich würde so bald wie möglich zurückkommen, in ein paar Jahren, wenn ich eine sichere Stelle habe, und dann würden wir gemeinsam aufbrechen. Aber diese lange Trennung macht mir Sorgen. Nicht, weil ich an ihr zweifele, aber gerade erscheint alles so unsicher, es ist sogar wieder von Krieg die Rede. Und diese Vierunddreißigjährigen gehen bestimmt nicht an die Front«, sagte er und schlug abermals mit der Hand auf die Zeitung. »Da gehen wir hin. Deshalb habe ich keine Kraft zu warten. Vielleicht erwischt mich in ein paar Jahren eine Bombe, und dann ist es mit Warten vorbei.«

Ich verspürte den heftigen Drang, ihn zu retten, ihn zu verstecken: Ich werde ihnen den Weg verstellen, dachte ich, sie werden ihn nicht kriegen. Während des Abessinienkrieges war Riccardo sieben Jahre alt, er war zwölf, als der Weltkrieg losbrach; jahrelang musste er Caciotta-Käse und Süßgebäck aus Mehlersatz essen. Die ersten Zigaretten bekam er von den Amerikanern geschenkt. »Ich möchte, dass du mit Marina sprichst«, fuhr er fort, »zuerst nur wir drei. Dann stelle ich sie natürlich auch Papa vor. Passt es nächsten Samstag? Papa geht immer noch mal in die Bank, aber du hast frei.« »Samstag kann ich nicht«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich muss ins Büro.« »Auch am Samstag?«, protestierte er. Seit einiger Zeit gebe es dort viel Arbeit, erklärte ich. »Könntest du nicht eine Ausrede erfinden?«, drängte er. »Bitte, Mama, es ist mir wirklich wichtig.« Ich erwiderte, das ginge auf keinen Fall: »Wir brauchen gar nicht darüber zu diskutieren.« Dann blickte ich auf die Uhr, es war Zeit, ins Büro zurückzukehren.

Ich ging ins Schlafzimmer, um mir den Hut aufzusetzen. Ich kann nicht, sagte ich mir noch einmal, ich kann auf keinen Fall. Aus irgendeinem Grund musste ich noch immer an das Süßzeug aus Mehlersatz denken. »Und ich?«, dachte ich grimmig. »Musste ich, als ich klein war, im ersten Krieg etwa nicht Kleiebrot essen?« Ich überlegte, dass ich den anderen mein ganzes Leben gegeben und jetzt das Recht hatte, einen Tag für mich zu haben. Je öfter ich mir das sagte, desto lauter regte sich in mir ein ungewolltes Nein, das ich wie ein dumpfes, schmerzliches Kopfschütteln empfand. Riccardo trat ins Zimmer, und unwillkürlich drehte ich mich nach ihm um. »Na schön«, sagte ich, »sag ihr, sie soll nächsten Samstag kommen: Ich finde schon eine Entschuldigung.« Er umarmte mich überschwänglich. »Ist ja gut, ist ja gut«, sagte ich, schob ihn unsanft beiseite und verließ die Wohnung.

Eilig ging ich in meinem alten, grauen Mantel die Straße entlang. In den Schaufenstern erhaschte ich mein Spiegelbild und empfand Abneigung dagegen. Am liebsten wäre ich mich selbst losgeworden, hätte mir meine eigene Person mit zorniger Erleichterung vom Leib gerissen: Als wäre ich es leid, in einer bleischweren Verkleidung zu stecken. Als ich das Büro betrat, ging ich in Hut und Mantel geradewegs zum Direktor. Er war dabei, einige Schecks zu unterschreiben. »Oh, Signora Cossati«, sagte er und sah lächelnd auf, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Ich stand da, hatte die Handtasche auf seinen Schreibtisch gestellt und umklammerte sie, als müsste ich mich daran festhalten. Der Direktor sagte, er sei müde und mit Arbeit überlastet, heute sei er nicht einmal zum Mittagessen nach Hause gegangen, stattdessen habe es ein Brötchen und einen Milchkaffee gegeben. Wie zur Bestätigung deutete er auf ein Tablett neben sich. Er sagte, es sei ein heikler Moment, man müsse starke Nerven besitzen; wegen der Kriegsgerüchte sei der Markt schwierig und angespannt. Ich antwortete nicht und wartete, bis er ausgeredet hatte. Schließlich klappte er das Scheckbuch zu und blickte auf. »Ich kann am Samstag nicht«, sagte ich. Statt etwas zu erwidern, musterte er mich skeptisch und fragte sich womöglich, ob hinter der knappen Entschiedenheit meiner Ankündigung eher eine Zurückweisung, denn eine tatsächliche Unmöglichkeit steckte. Gerade wollte ich auf seinen Blick etwas erwidern, als das Telefon klingelte. Er führte ein knappes Gespräch, ohne mich aus den Augen zu lassen. Dann legte er auf, erhob sich und kam auf mich zu. Mein Herz begann heftig zu klopfen, fast bekam ich Angst: In all den Jahren ist er mir nie so nah gekommen, ich bin es gewohnt, ihn hinter dem Schreibtisch sitzen zu sehen, oder ich sitze davor und er wandert diktierend im Zimmer auf und ab. Er sagte, es sei richtig, dass ich samstags lieber zu Hause bliebe oder meine Besorgungen machte, statt zur Arbeit zu kommen. Ich hätte ihm gern gesagt, dass ich den Samstag kaum erwarten könne, dass ich an nichts anderes dächte. »Samstag will mein Sohn mir seine Verlobte vorstellen«, sagte ich. »Ah, verstehe«, murmelte er und kehrte hinter den Schreibtisch zurück. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte er leise. »Danke«, gab ich ebenso leise zurück. Abwesend blätterte er durch die Schecks und sagte: »Die Familienpflichten …« Dann reichte er mir zwei Schecks mit der Bitte, sie dem Pelzhändler seiner Frau und an eine Firma zu schicken, die seiner kleinen Tochter ein Fahrrad geliefert habe. »Ich zeige meine persönlichen Schecks nicht gern den Angestellten«, sagte er entschuldigend. »Wenn es sich um höhere Summen handelt, erscheint es mir besser …« Ich versprach, die Angelegenheit umgehend zu erledigen. Ich ging in mein Zimmer, legte Hut und Mantel ab und setzte mich an den Schreibtisch. Ich versuchte ruhig zu bleiben, doch in mir stieg eisige Wut empor. Ich las die Scheckbeträge, der für den Pelzhändler war beträchtlich. »Diebe, mörderische Diebe«, murmelte ich. Meine Finger zitterten. »Mörder«, wiederholte ich, ohne überhaupt zu wissen, wen ich meinte. Ich griff nach Briefpapier und Umschlag. Dann schlug ich die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.

Seit einigen Tagen habe ich nichts mehr geschrieben, ich fühlte mich wie losgelöst von mir selbst. Mir ist, als könnte ich nur weitermachen, wenn ich mich selbst vergesse. Es würde reichen, nicht zu viel nachzudenken, mich mit Mirellas Erklärungen zufriedenzugeben, zum Beispiel, und ich könnte beruhigt leben. Immer mehr gelange ich zu der Überzeugung, dass die Rastlosigkeit an dem Tag in mir Einzug hielt, als ich dieses Heft kaufte: Ein böser Geist scheint darin zu wohnen, der Teufel. Deshalb versuche ich, es zu vernachlässigen, es im Koffer oder auf dem Schrank zu lassen, doch es hilft nichts. Je mehr meine Pflichten mich einnehmen, je begrenzter meine Zeit ist, desto dringlicher wird mein Wunsch zu schreiben. Am Sonntag war ich nachmittags allein: Die Kinder hatten das Haus früh verlassen, Michele war zu Clara gegangen, um ihr die Filmskizze zu bringen. Eigentlich hätte ich Zeit zum Schreiben gehabt, obwohl es sonntags immer viel zu tun gibt. Ich weiß nicht, ob es überall so ist oder nur bei Leuten, die arbeiten, bei denen auszuschlafen und das ausnahmsweise Verweilen im Bett fast den Anschein erweckt, als würden sie sich gehen lassen. Am Sonntag gibt es immer mehr Geschirr abzuwaschen, und so artet auch das ausnahmsweise Vergnügen der Mahlzeit in Arbeit aus. Dennoch hatte ich, als alles erledigt war, einen ganzen Nachmittag für mich und fing an, meine Schubfächer aufzuräumen: Zufrieden warf ich leere Schachteln, unwichtige Papiere, alte Briefe weg. Als junge Braut öffnete ich manchmal die Schränke, in denen die ordentlich gestapelte, mit hellblauen und rosafarbenen Bändern verschnürte Wäsche lag, der Anblick dieser Ordnung beruhigte mich. Während ich am Sonntag vor dem Schubfach saß, in dem ich alte Taschen, Schals und Taschentücher aufbewahre, freute ich mich, noch immer auf dieses vergessene Mittel zählen zu können, und beim Anblick der geordneten Schachteln und gestapelten Taschentücher empfand ich eine nahezu körperliche Befriedigung.

So ging der Tag, der anfangs endlos vor mir zu liegen schien, rasch vorüber: Im Handumdrehen war es Abend, der Tisch musste mit denselben Tellern gedeckt werden, die ich kurz zuvor gespült und weggeräumt hatte. Michele hatte gesagt, er würde früh zurück sein, doch er verspätete sich. Am Morgen hatte er den dunklen Anzug angezogen und sich die Haare schneiden lassen. Man sieht ihm sein Alter wirklich nicht an, er ist noch immer ein schöner Mann. Es freut mich, dass Clara ihn nun besser kennenlernt, denn ich hatte immer den Verdacht, sie würde nicht viel von ihm halten. Vielleicht fragt sie mich deshalb immer im Scherz, ob ich ihm treu bin. Ehe er ging, zog Michele einen großen weißen Umschlag aus der Schublade; er hielt ihn ganz behutsam, als wäre etwas Zerbrechliches darin. »Das ist die Filmskizze«, erklärte er, »es tut mir leid, dass ich sie dir nicht zeigen kann, aber ich habe sie schon in den Umschlag gesteckt, falls Clara nicht zu Hause ist und ich sie beim Pförtner hinterlegen muss.« Dabei war er für den Morgen mit ihr verabredet und konnte sicher sein, sie anzutreffen. Vielleicht glaubt er, ich hätte kein Vertrauen in das, was er schrieb, oder würde es nicht gutheißen. Doch als ich ihn am Morgen unbeschwert mit Clara telefonieren hörte, hatte ich erleichtert aufgeatmet. Häufig kommt mir die Befürchtung, er könnte mit seinem Leben unzufrieden sein; am Sonntag aber wirkte er mit allem im Reinen, mit dem Essen, den Kindern, mit mir. An der Wohnungstür umarmte er mich, und ich half ihm in den Mantel. »Drück mir die Daumen, Mama«, sagte er, und ich antwortete: »Es wird schon gutgehen, du wirst sehen.« Unversehens fuhr er sich mit der Hand an die Brieftasche und sagte, womöglich hätte er nicht genügend Geld bei sich, nur tausend Lire. Wir gingen zurück ins Schlafzimmer, und er holte einen Zehntausend-Lire-Schein aus der Schublade. »Man weiß nie«, sagte er, und ich verstand, dass er sich damit sicherer fühlte.

Es war Zeit, das Abendessen vorzubereiten, und Michele kam nicht: Ich überlegte, dass es ein gutes Zeichen sei, wenn er sich verspätete, vielleicht lasen sie die Filmskizze, vielleicht war sogar dieser mit Clara befreundete Produzent dabei und hatte es bereits gekauft. Ich war froh, dass er sich verspätete: für ihn, und auch für mich. Ich fand es schade, dass der Nachmittag zu Ende ging, und ich dachte, wenn Michele und die Kinder nicht zurückkämen, könnte ich mir das Kochen sparen. Plötzlich klingelte das Telefon, und ich lief hin, vielleicht war es Michele, der meine Hoffnungen bestätigen würde. Es war Mirella: Sie sagte, sie würde mit ein paar Freunden und Sabina auswärts essen. Ich fragte, wann sie zurück wäre; »bald«, sagte sie, und sie habe ja sowieso den Schlüssel.

Bei Tisch haben Michele und Riccardo ihre Abwesenheit gar nicht bemerkt. Michele erzählte begeistert von seinem Besuch bei Clara: Sie hatten die Skizze nicht lesen können, weil noch andere Leute dazugekommen seien, aber Clara hatte versprochen, es sich so bald wie möglich anzuschauen und ihn unverzüglich anzurufen, um ein neues Treffen zu vereinbaren. Vater und Sohn waren unbeschwert und ausgelassen, Michele stieß das Fenster auf: schließlich sei draußen schon Frühling, und fast bereute ich es, den ganzen Tag zu Hause geblieben zu sein. Ich zeigte Michele die aufgeräumten Schubfächer, und er sagte »tüchtig, tüchtig«, und fing wieder an, von Clara und ihren Freunden zu reden, bekannte Leute aus der Filmbranche, alle hätten ein Auto, einer habe ihn sogar nach Hause gefahren. Riccardo machte sich die gute Laune des Vaters zunutze und verkündete ihm, er habe sich verlobt, ich wüsste bereits von dem Mädchen und bald wolle er es ihm vorstellen. Ich fürchtete, Michele könnte ungehalten werden, und nahm es Riccardo übel, dass er ihm den glücklichen Tag verdarb. Doch Michele schien seine Meinung über Menschen, die jung heirateten, geändert zu haben und sagte abermals: »Tüchtig, tüchtig.«

Über unsere Gespräche wurde es Mitternacht. Hin und wieder ließ ich fallen, dass Mirella noch nicht zurück sei, doch sie gaben nichts darauf. Beim Gutenachtsagen schloss Riccardo mich in die Arme und murmelte: »Ich freue mich so, Mama.« Als ich ins Schlafzimmer kam, stand Michele noch angekleidet vor dem Spiegel, strich sich mit der Hand übers Haar und rückte sich die Krawatte zurecht. Ich sagte noch einmal, Mirella sei noch immer nicht zurück, und er beschwichtigte mich, die Gewohnheiten der Jugend hätten sich geändert, ob ein Mädchen spät nach Hause komme, sei nicht mehr von Bedeutung. Er sagte, Claras Freunde gingen um vier Uhr ins Bett, und Clara auch. Diese Leute müssten wohl nicht frühmorgens aufstehen, bemerkte ich, sonst wüsste ich nicht, wie Clara das schaffe, schließlich sei sie kein junges Mädchen mehr, sie sei in meinem Alter. Er wirkte überrascht, dabei hat er das immer gewusst. Er sagte, sie habe sich gut gehalten, mit ihrer Fröhlichkeit, ihrer kindlichen Begeisterung. »Du meinst also, ich muss mir um Mirella keine Sorgen machen?«, fragte ich. »Aber nein«, sagte er und nahm mich in die Arme. Dann fing er an, über die Filmskizze zu reden: Zwar habe er keine Zeit gehabt, sie mir vorzulesen, doch glaubte er ohne falsche Bescheidenheit sagen zu können, es würde eine bedeutende Sache werden. Bedächtig zog er sich aus, zögerlich, als täte es ihm leid, diesen Tag zu beenden. Und ich sagte, wenn der Filmstoff sich tatsächlich verkaufen sollte, müsste Riccardo nicht nach Argentinien gehen. Fast ärgerlich entgegnete er, es würde sich dabei nicht um ein Vermögen handeln und Riccardo müsse gleichwohl für sein Leben sorgen. Er hat recht; trotzdem werde ich den Gedanken nicht los, dass Riccardo nicht darauf aus wäre, fortzugehen und bald zu heiraten, wenn wir ihm das Gefühl gäben, stärker zu sein.

Ich bin mir nicht sicher, ob Marina mir gefällt. Sie ist hübsch, doch ihr Gesicht hat etwas Reizloses, das sie nicht sympathisch macht. Ich begreife nicht, weshalb Riccardo ausgerechnet dieses Gesicht sein Leben lang vor Augen haben will. Sie ist schlank, groß, blond, mit einem leicht starren, puppenhaften Blick. Am Samstagnachmittag schloss Riccardo die Wohnungstür auf und führte Marina ins Esszimmer. Ich hatte sie nicht kommen hören, und sie hatte nicht damit gerechnet, mich dort schon anzutreffen: Unvorbereitet standen wir einander gegenüber. Es war nur ein kurzer Moment, und vielleicht bilde ich mir das nur ein, doch mir ist, als hätten wir uns ohne Sympathie, mit einer Spur verhohlener Feindseligkeit angesehen. Ich glaube, wenn sie Riccardo tatsächlich heiratet, werden wir uns nie wieder so anblicken: Und doch war dieser eine Moment aufrichtig. Riccardo kam gleich nach ihr ins Zimmer und war bereits nicht mehr mein Sohn. »Das ist Marina«, sagte er mit belegter Stimme. Sie zuckte nicht mit der Wimper, ihr Gesicht verriet keinerlei Emotionen. Warmherzig ergriff ich ihre Hände, ohne mir dabei scheinheilig vorzukommen: Mir war, als steckten zwei Personen in mir, eine, die diese Begegnung hinnahm und sich sogar Wärme und Trost davon versprach, und eine andere, die sich dagegen sträubte, und an Marinas verdutzten Glotzaugen, ihren schlaffen, kalten Händen Anstoß nahm. Diese Hände also will Riccardo drücken und küssen. Auch er fühlte sich unbehaglich: Er hatte sich in einen Sessel gesetzt und fläzte sich halb liegend hinein. Ich hätte ihn gern zurechtgewiesen, doch wie soll man einen Mann zurechtweisen, der einem seine zukünftige Frau vorstellt; zudem löste sein Benehmen große Zärtlichkeit in mir aus, ich wusste, dass er sich so verhielt und ungewohnt flapsig und gleichgültig daherredete, um sich ein Auftreten zu geben. Ich war kurz davor, ihm zu sagen: »Ich weiß, es ist schwer, wir schicken sie einfach fort.« Doch mir fiel auf, dass Marina genauso redete, während meine höfliche, zuvorkommende Ausdrucksweise verriet, dass ich einer anderen Generation angehörte, einem anderen Land. Ich bot ihnen Tee und Kekse an und wusste, dass Riccardo das mickrig fand. Marinas Gesicht zeigte keine Regung, und ich frage mich, ob es stimmt, dass sie bei sich zu Hause unglücklich ist, ob sie überhaupt dazu fähig ist. »Wer bist du?«, hätte ich sie am liebsten gefragt. Vielleicht ist es diese undurchdringliche Miene, die Riccardo anziehend findet, er kennt außer uns, die für ihn keine Rätsel mehr bergen, nur wenige Menschen; ihr unterkühltes Schweigen weckt in ihm den Wunsch, sie zu ergründen, wachzurütteln. Seit jenem Abend muss ich mich beherrschen, Riccardo nicht zu fragen: »Glaubst du wirklich, dass Marina so verliebt ist?« Er sprach von Argentinien und gab sich vor ihr betont selbstsicher, doch er weiß, dass er für mich noch ein Kind ist, und dieser Zwiespalt machte ihn nervös. Wir sprachen viel über die Zukunft. Ich sagte, das Wichtigste sei, dass er lernte und im Oktober sein Examen machte, das stehe an oberster Stelle. Dann könne er aufbrechen. Sie sollten sich von der Wartezeit nicht einschüchtern lassen; Marina lächelte, als ich sagte, zwei Jahre vergingen schnell, doch ihr Lächeln ähnelte dem Blick, den sie beim Hereinkommen hatte. »Es gibt Luftpost«, fügte ich hinzu. Riccardo nickte nachdrücklich: »Genau, es gibt Luftpost«, sagte er, als hätte ich mir das ausgedacht, um ihm beizuspringen, und sah mich dankbar an. Ich sagte auch, dies sei die schönste Zeit ihres Lebens, später kämen die Schwierigkeiten, die Verantwortung, aber beide machten ungläubige Gesichter, denn glücklicherweise ist die schönste Zeit des Lebens immer die, die noch vor uns liegt. Riccardo ergriff ihre Hand und sie nickte lächelnd und tat so, als glaubte sie mir jedes Wort. Als sie endlich aufbrachen, war ich erleichtert. Während Riccardo im Eingangsflur zwischen mir und ihr hin- und herlief wie ein junger Hund, ging die Wohnungstür auf und Mirella kam herein. Sie wusste nichts von Marinas Besuch, und bei ihrem Anblick schaute sie erst zu ihrem Bruder, dann zu mir, ehe sie sie mit zurückhaltender Höflichkeit begrüßte. Sie trug den roten Mantel, in dem Marina sie angeblich aus Cantonis Haus hat kommen sehen. Wir redeten noch einen Moment, und Riccardo machte ein paar großspurige Bemerkungen zur Zukunft, einen Arm um Marinas Schultern gelegt. Mirella holte die Zigaretten aus ihrer Handtasche und bot Marina eine an. Sofort sagte Riccardo: »Sie raucht nicht.« Mirella zündete sich seelenruhig eine Zigarette an, doch die Flamme zitterte.

Als sie weg waren, fragte sie mich: »Gefällt sie dir?« Ich sagte, sie sei sehr hübsch. »Ja, aber gefällt sie dir?«, beharrte sie. Gewiss habe sie ein sanftes, fügsames Wesen, man sehe, sie sei gut erzogen, mit soliden Grundsätzen, setzte ich hinzu. Mirella schnappte: »Aber Mama, wie kann sie dir gefallen?« Ich sagte, sie sei nur neidisch, weil Marina sich benehme, wie sie sich benehmen sollte, und vielleicht auch, weil sie das Glück hatte, einem anständigen Jungen wie Riccardo zu begegnen. »Wieso hat sich dieser Cantoni noch nicht bei uns vorgestellt? Warum bringt er dich bis vor die Haustür, wie ein Dieb, ohne sich um deinen Ruf und das Gerede zu scheren? Sogar zum Gespött der Pförtnerin macht er dich.« Wenn ich ihr Vorwürfe mache, verzieht sie keine Miene, doch als ich Cantoni beschuldigte, wurde sie feuerrot. »Wieso stellt er dich nicht seiner Mutter vor, wie Riccardo es tut?« Sie zündete sich eine weitere Zigarette an und antwortete: »Er ist Waise, zum Glück.« Ich sagte, sie sei zynisch und frech und sie solle aufhören, eine Zigarette nach der anderen zu rauchen.

Ohne etwas zu erwidern, ging sie zum Telefon. Flüsternd begann sie zu sprechen, ich hörte sie »Sandro« sagen. Es war das erste Mal, dass ich sie seinen Namen sagen hörte, und mich überkam entsetzliche Wut. »Das übliche«, erklärte sie indessen. Am liebsten wäre ich hingegangen und hätte sie angeschrien, damit er mich hörte und sich klarmachte, dass ich das Verhalten meiner Tochter nicht einfach hinnehme. Doch ich riss mich zusammen, denn ganz gleich, wer er ist oder welche Absichten er hegt, er wird niemals auf meiner Seite sein. Ich zog mich in die Küche zurück und versuchte, mich zu beruhigen; im Grunde ist es gut, dass ich jeden Tag kochen, Geschirr spülen, Betten machen muss, dadurch bin ich immerhin gezwungen, weiterzumachen, gerade so, als fände all das, was um mich herum geschieht, gar nicht statt. Ich murmelte diese beiden Namen vor mich hin, »Sandro, Marina«, um ihren Klang zu hören, als wollte ich sie befragen, als wollte ich erspüren, welche Menschen dahintersteckten. Inzwischen gehören meine Kinder zu ihnen, ganz gleich, ob Michele arbeitet, um für ihr Leben aufzukommen, und ich ihnen das Abendessen koche. »Er ist Waise, zum Glück«, hat Mirella gesagt. Vielleicht bedauert Marina es, dass ich noch kein Porträt an der Wand bin. Es ist immer alles gleich, seit Jahrhunderten, sagte ich mir seufzend und dachte an das Porträt meiner Schwiegermutter, daran, wie schwer es mir fiel, vor Michele zu verbergen, dass ich sie nicht liebte, und mich an ein Leben mit ihr zu gewöhnen. Lange Jahre habe ich sie betreut, ich war es, die ihren Leichnam zurechtgemacht hat. Michele starrte sie an, steif in ihrem schwarzen Kleid, im flackernden Licht der Kerzen. »Sie war eine Heilige«, flüsterte er, vom Schmerz erweicht, und küsste meine Hände. »Du warst immer so gut zu ihr.« Vielleicht ist das wahr. Irgendwann weiß man nicht mehr, wo im Leben einer Familie die Güte liegt und wo die Herzlosigkeit.

Heute habe ich vom Büro aus Clara angerufen. Ich sagte, seit Michele sie besucht habe, sei er wie ausgewechselt; ich erzählte ihr all die schmeichelhaften Dinge, die er über sie gesagt hatte. Ich gestand ihr, wie sehnlich er auf ihr Urteil warte und jeden Tag frage, ob jemand für ihn angerufen habe, sobald er die Wohnung betrete. Clara entschuldigte sich, dass sie noch keine Zeit zum Lesen gefunden habe: Tagsüber habe sie viel zu tun, abends sei sie bis spät unterwegs, und wenn sie nach Hause komme, sei sie zu müde. Ich sagte, das verstehe ich bestens, und wenn sie mit Michele spreche, solle sie meinen Anruf bitte nicht erwähnen. Ich entschuldigte mich, dass wir ihr zur Last fielen, und bat sie dennoch eindringlich, uns zu helfen, Michele habe diese Hoffnung geradezu verjüngt. Er habe immer wenig verdient, und ein solcher Geldbetrag würde nicht nur viele unserer praktischen Schwierigkeiten lösen, sondern Michele auch helfen, diesen Krisenmoment zu überwinden, den alle Männer seines Alters durchlebten, sofern sie es nicht zu Geld oder Ansehen gebracht hätten. Sie sagte, Michele sei ihr kein bisschen verzagt erschienen, im Gegenteil. Mir fiel ein, wie verärgert Michele reagiert hatte, als ich Clara von unseren Geldsorgen erzählt hatte; vielleicht fürchtet er, die Filmleute könnten für seine Idee weniger zahlen, wenn sie wüssten, dass wir es nötig hätten. Womöglich sei dies nur mein Eindruck, räumte ich ein, meiner Liebe oder meiner Stimmung geschuldet. Sie fragte, ob ich nicht glücklich sei. Ich sagte, um glücklich zu sein, würde es mir reichen zu wissen, dass Michele zufrieden und die Kinder gesund seien. Noch einmal bat ich sie, Michele nichts von meinem Anruf zu erzählen. Ich legte auf, mit dem Gefühl, einen Fehler begangen und eine Menge Lügen erzählt zu haben.

Heute Abend bin ich früh ins Bett gegangen, doch ich konnte nicht schlafen. Die Dunkelheit bedrückte mich; Worte und Bilder schwirrten mir durch den Kopf, hielten mich wach, in einer unbezwingbaren Unruhe. Weil ich befürchtete, bis zum Morgen mit weit aufgerissenen Augen und wirren Gedanken im Dunkeln zu liegen, stand ich lautlos auf, um Michele nicht zu wecken, und griff mir Morgenmantel und Pantoffeln. Erst auf dem Flur schlüpfte ich hinein. Ich hatte Herzklopfen: Seit meiner Kindheit habe ich mich nicht mehr so davongestohlen; ich hatte vor Michele Angst wie damals vor meiner Mutter. Dann konnte ich zuerst das Heft nicht finden, so gut hatte ich es zwischen den Falten eines Lakens im Schrank versteckt. Als ich es endlich gefunden hatte, drückte ich es an mich wie einen Schatz. Wenn Michele aufsteht und herüberkommt, bin ich verloren. Ich habe keine einzige glaubwürdige Entschuldigung, und mir graut bei der Vorstellung, er könnte lesen, was ich gleich schreibe. Doch wenn ich genauer darüber nachdenke, muss ich gestehen, dass gar nichts Neues geschehen ist, vielleicht geht meine Fantasie mit mir durch. Immer wieder sage ich mir, dass es unmöglich ist: dass er mich seit Jahren kennt, dass ich bereits an seiner Seite war, als ich noch jung war, und angeblich schön, es kann nicht sein, dass es ausgerechnet jetzt passiert. Doch inzwischen bin ich überzeugt, dass der Direktor mich liebt.

Er erwartete mich heute ungeduldig, da bin ich mir sicher. Kaum hatte er meinen Schlüssel im Schloss gehört, muss er von seinem Schreibtisch aufgestanden sein, um mir entgegenzugehen, denn als ich die Tür hinter mir schloss, stand er bereits vor mir. Ich musste leise lachen, ich kam mir vor wie nach einer erfolgreichen Flucht. Er lachte ebenfalls und half mir aus dem Mantel. Auf meinem Schreibtisch stand ein kleiner Mimosenzweig. Als ich ihn fragend anblickte, um sicherzugehen, dass ich mich bei ihm zu bedanken hatte, sagte er fast entschuldigend: »Unser Garten ist voll von Mimosen, die schon in voller Blüte stehen. Also habe ich einen Zweig abgebrochen, aber ich habe ihn in meine Tasche gesteckt, und er ist welk geworden.« Ich bedankte mich flüchtig, um dieser im Grunde ganz selbstverständlichen Aufmerksamkeit kein Gewicht zu geben; die Mimose verströmte einen warmen Duft, ich roch lang daran, dann steckte ich den Zweig in das Knopfloch meines Kleides. Er stand vor mir, betrachtete mich stumm, ich sah auf, erwiderte lächelnd seinen Blick, und zum ersten Mal ging mir durch den Kopf, dass er Guido heißt.

Während der zwei Stunden, die wir arbeiteten, war ich entsetzlich nervös. Unzählige Male habe ich seine Unterschrift gesehen, seinen Namen auf dem Briefkopf gelesen, und doch durchzuckte es mich, sobald er mich ansah, »Guido«, dachte ich und beugte mich errötend über meine Arbeit. Ich war verlegen, gerührt: Es scheint mir, als nähme er mich erst seit heute als menschliches Wesen wahr.

So, das ist alles. Mehr gibt es nicht zu berichten. Wir haben einige Korrespondenzen erledigt, ein paar dringende Angelegenheiten besprochen, dann sagte er: »Fertig«, und es klang, als hätten wir zum Vergnügen gearbeitet. »Fertig«, wiederholte ich, wie zum Ende eines Spiels. Er fragte, ob ich müde sei und wie ich meinen Sonntag verbringen würde. Gerne hätte ich mein Tagebuch erwähnt, doch ich traute mich nicht; ich sagte, ich würde meine Mutter besuchen und ein paar Briefe schreiben. Er würde seit Jahren keine persönlichen Briefe mehr schreiben, sagte er, ein Mann, der sehr viel arbeite, habe irgendwann keine echten Freunde mehr, nur noch Geschäftsbekanntschaften, berechnende Pflichtfreundschaften, sozusagen. »Wir bleiben am Ende einsam zurück«, sagte er. Ich entgegnete, er habe doch ein wunderbares Unternehmen auf die Beine gestellt, das würde ihm bleiben, wer etwas erschaffen habe, ganz gleich, ob ein Buch, ein Gemälde, ein Unternehmen oder eine Fabrik, sei niemals einsam: All das seien bleibende Dinge. »Ich dagegen habe mein ganzes Leben den Kindern gewidmet«, seufzte ich, »und die Kinder gehen fort.« Er schüttelte den Kopf: »Sie gehen nicht fort«, berichtigte er mich, »das hätte ja noch etwas Gutes. Zwar wären wir dann allein, doch immerhin könnten wir die Vorteile des Alleinseins genießen. Stattdessen haben wir diese Vorteile nicht und sind trotzdem einsam.« Es gefiel mir zu hören, dass er einsam war, auch wenn er gleichgültig und ein wenig zynisch klang. Kopfschüttelnd setzte ich nach, er habe ein großes Unternehmen und könne ein komfortables, angenehmes Leben führen. Das zähle nichts, erwiderte er; es seien andere Dinge, die zählten, und mir schoss das Bild von Venedig durch den Kopf. »Ab einem gewissen Alter«, fuhr er fort, »ist uns alles, was wir erreicht haben, nicht mehr genug: Es hat uns lediglich zu dem gemacht, was wir sind. Und kaum sind wir die, die wir immer sein wollten oder sein konnten, würden wir gerne noch einmal von vorne anfangen, mit dem Weitblick und den Ansprüchen von heute. Stattdessen müssen wir das Leben weiterleben, das wir uns ausgesucht haben, als wir noch andere Menschen waren. Ich habe mein Leben lang gearbeitet, dreißig Jahre darauf verwendet, zu dem zu werden, der ich heute bin. Und jetzt?« Seine Frage ging ins Leere und klang bitter. Als wäre ihm seine Offenheit unangenehm, fügte er lachend hinzu, man sollte ein Alter festlegen, »sagen wir, fünfundvierzig«, ab dem man das Recht habe, wieder allein auf der Welt zu sein und sein Leben neu anzufangen. »Es begreift sowieso niemand, was wir tun und welche Mühen es uns kostet, außer diejenigen vielleicht, die mit uns zusammenarbeiten.« Ich spürte, dass sich das Gesagte gegen seine Frau richtete; vielleicht spricht Michele manchmal auch so über mich. Dabei verlange ich nichts, ich kaufe nur Schuhe für die Kinder, Kleidung für die Kinder und Lebensmittel, keine Nerzmäntel. Ich fragte mich, ob das einen Unterschied machte; ja, schloss ich, aber zu meinen Ungunsten, denn Michele kann sich nicht einmal über mich beschweren. »Und trotzdem«, sagte ich mit einem verschmitzten Lächeln und dachte an das, was Mirella über Barilesi gesagt hatte, »wenn Sie die Möglichkeit hätten, auf die Mühen Ihrer Arbeit zu verzichten, würden Sie es tun?« Inzwischen waren wir aufgestanden und ans Fenster getreten: Die Dämmerung fiel auf den Garten darunter, ein trübseliger Garten, in dem Palmen und Oleander wuchsen. »Nein«, gestand er freimütig. Wir mussten lachen. »Aber vielleicht nur, weil ich nichts anderes habe«, fügte er, etwas leiser, hinzu. Noch nie hatte ich seine Gegenwart als so neu und angenehm empfunden. Er sagte, bis vor wenigen Jahren sei jede Stunde ein Kampf gewesen, es habe Tage gegeben, an denen er nicht wusste, wie er die großen Fälligkeiten bedienen und seine Angestellten bezahlen sollte. Das sei mir nicht entgangen, bemerkte ich, ich hätte mit ihm gezittert, seine Stärke immer bewundert, seine Ausdauer, seine Fähigkeit, jedem Moment mit Gelassenheit zu begegnen. Er dürfe sich nicht beklagen, denn er habe ein außergewöhnliches Leben geführt, sagte ich lächelnd und erinnerte ihn daran, dass er als Buchhalter in einer Stofffabrik angefangen hatte. Er erwähnte den Tag, an dem ich in die Firma gekommen war: Anfangs hätte mein weltgewandtes Auftreten ihn verunsichert, jedes Mal, wenn ich zur Tür hereingekommen sei, sei er fast aufgesprungen, als käme ich zu Besuch, und wenn ich ihm die Postmappe brachte, sei es ihm unangenehm gewesen, mich die Seiten umblättern und mit der Löschwiege über seine Unterschriften gehen zu lassen. »Das ist mir nie aufgefallen«, sagte ich lächelnd. »Oh«, rief er, »ich habe stets versucht, es mir nicht anmerken zu lassen.«

Der Garten lag nun im Dunkeln; das Fensterglas warf mein Spiegelbild zurück, das Gesicht eines jungen Menschen. Womöglich lag es daran, dass ich gerade beim Friseur gewesen bin. »Es ist spät«, sagte ich, und er half mir in den Mantel. Er bemerkte, in zehn Minuten wäre der Wagen da, er könne mich nach Hause bringen. Höflich, aber entschieden lehnte ich ab. Da sei nichts dabei, meinte er. Darum ginge es nicht, erwiderte ich lachend. Also begleitete er mich zur Tür, als wäre ich nicht seine Angestellte. »Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte er, »so konnten wir in Ruhe arbeiten, außerdem hat mir das Reden gutgetan. Ich rede nie mit jemandem.« »Ich auch nicht«, lag es mir auf der Zunge, doch stattdessen sagte ich knapp »Guten Abend«, ohne zu lächeln, und ging.

Auf der Straße wehte eine frische, angenehme Brise. Es kann unmöglich wahr sein, sagte ich mir, er kennt mich seit vielen Jahren, redet mit mir wie mit jedem anderen auch. Dennoch schien es mir, als wäre alles ringsum besser, als strahlten die Lichter fröhlicher. Spaßeshalber murmelte ich: »Guido«, und auch in mir wurde alles hell.

Niemandem fällt es auf, dass ich seit ein paar Tagen ständig in Gedanken bin. Egal, was ich tue, ich bin nicht bei der Sache, meine Handgriffe folgen nur der Gewohnheit. Am liebsten würde ich mit niemandem reden: Wenn ich könnte, würde ich stundenlang im Bett liegen und nachdenken, ohne einen klaren Gedanken zu fassen. Ich verliere mich gern in der Gewissheit, am Leben zu sein, in dem Gefühl, von einer liebevollen Gegenwart, einem wohlwollenden Blick umgeben zu sein. Wenn ich zu Hause bin, trete ich häufig ans Fenster, als könnte jeden Augenblick jemand in der absurden Hoffnung vorübergehen, einen Blick von mir zu erhaschen. Ein neues Prickeln liegt in der Luft, und in allen Dingen scheint mir Verheißung zu liegen; ich bin nicht mehr müde, ich freue mich, dass der Tag beginnt, und jeder Tag ist wie eine Einladung. Schon zuvor habe ich mich manchmal so gefühlt; vor allem sonntags, bei schönem Wetter, wenn die Sonne das Grün der Bäume erstrahlen lässt; doch waren das flüchtige Augenblicke, und gleich darauf war der Tag wieder genauso schwer wie alle anderen.

Allerdings wird mein inneres Hochgefühl von der Furcht getrübt, Michele und die Kinder könnten meine Veränderung bemerken und darüber auf mein Tagebuch stoßen. Um ihrem Argwohn zuvorzukommen, behalte ich sie argwöhnisch im Auge: Kaum höre ich Mirella den Schrank öffnen, gehe ich hin und hole heraus, was sie sucht. Ich weise Michele und Riccardo zurecht, sie sollen nicht alles durcheinanderbringen, wenn sie etwas aus den Schränken nehmen, ich sage: »Ruft mich doch lieber.« Ich bestehe darauf, dass wir dringend umziehen müssten, die Wohnung sei einfach zu klein geworden; aber in Wirklichkeit wünsche ich mir nur ein eigenes Zimmer. Zum ersten Mal sehe ich Riccardos Aufbruch nach Argentinien mit Erleichterung entgegen, denn dann könnte ich sein Zimmer übernehmen. Manchmal bin ich so tief in Gedanken, dass es ist, als wäre ich gar nicht da, und ich wundere mich, dass es keinem auffällt. Womöglich hätte es sie gar nicht gestört, wäre ich immer so abwesend gewesen, so unbeteiligt an ihrem Leben; ein abstoßender Gedanke. Ich will mir nicht eingestehen, dass sie auch ohne mich zurechtkämen, denn das würde bedeuten, dass all meine Opfer umsonst gewesen sind.

Mir scheint, selbst äußerlich hätte ich mich verändert: Ich sehe irgendwie jünger aus. Gestern habe ich mich im Schlafzimmer eingeschlossen und vor den Spiegel gestellt. Das habe ich schon lange nicht mehr getan, weil ich ständig in Eile bin. Auf einmal finde ich die Zeit, mich im Spiegel zu betrachten, Tagebuch zu schreiben; ich frage mich, warum mir das früher nicht gelang. Eingehend musterte ich mein Gesicht, meine Augen, und etwas Heiteres lag darin. Spaßeshalber probierte ich eine andere Frisur aus und kehrte dann zu der alten zurück, die mir mit einem Mal ganz neu erschien. Ungeduldig wartete ich darauf, dass Michele zurückkäme, doch er kam noch später als sonst. Er war müde und gereizt. Ob Clara angerufen habe, fragte er sofort, und als ich verneinte, hielt er seine schlechte Laune nicht mehr zurück. Ich sagte ihm, er solle es nicht so schwernehmen, wenn er seine Idee nicht verkaufen könne: Bisher seien wir auch ohne einen unverhofften Geldsegen aus der Filmbranche zurechtgekommen. Er selbst habe doch gesagt, sie zu schreiben sei wie ein Lottospiel für ihn gewesen. Ich wollte ihn aufmuntern und bemerkte, im Vergleich zu vielen anderen Familien lebten wir in privilegierten Verhältnissen. Die Kinder seien bereits groß und gingen ihrer Wege, darauf komme es an; wir beide bräuchten nicht mehr viel. Geld sei nicht das Wichtigste, sagte ich ihm: Doch hätte ich niemals zu sagen gewagt, was mir wichtiger ist als Geld. Dennoch konnte ich es nicht lassen, ihn nach seiner Meinung zu meinem Kleid zu fragen, das ich kürzlich habe umarbeiten lassen: Sogar Mirella hat es hübsch gefunden. Ich sähe immer wunderbar aus, entgegnete er. »Wirklich, Michele?«, fragte ich und warf einen Seitenblick in den Spiegel. Eigentlich schäme ich mich für solche koketten Anwandlungen und kann sie mir dennoch nicht verkneifen. Michele fallen sie sowieso nie auf. Wir sind so lange verheiratet, haben uns so sehr aneinander gewöhnt, dass meine Gegenwart für ihn so selbstverständlich ist, als wäre ich gar nicht da. Bislang fand ich diesen Gedanken sehr tröstlich, doch jetzt macht er mich traurig. Manchmal denke ich, vielleicht wäre es gar nicht schlecht, wenn Michele das Heft fände. Doch wenn ich mit diesem Gedanken zu Bett gehe, schrecke ich beim winzigsten Geräusch aus dem Schlaf. Er hat es gefunden, denke ich und möchte die Flucht ergreifen, aber ich weiß nicht, wohin, das Fenster ist zu hoch, unsere Wohnung liegt im dritten Stock. Dann beruhige ich mich wieder, liege lange wach und höre die Glocken in der Stille die Stunden schlagen.

Es würde mir schon reichen, mit jemandem über die Existenz dieses Heftes zu sprechen, um mein bedrückendes Schuldgefühl loszuwerden. Manchmal gehe ich meine Mutter besuchen und nehme mir vor, ihr davon zu erzählen. Als ich noch klein war, ermunterte sie mich dauernd, meine täglichen Eindrücke aufzuschreiben. Auch über den Samstagnachmittag würde ich gern mit ihr reden; und das fast noch mehr als über das Heft. Aber kaum bin ich bei ihr, fange ich aus unerfindlichen Gründen an, mich über Michele zu beklagen, über seine Stimmung, über seine Gleichgültigkeit gegenüber den Problemen der Kinder. Seit einiger Zeit nimmt meine Mutter ihn in Schutz, vielleicht aus Widerspruchsgeist, denn bisher tat sie immer das Gegenteil. Ohne mich anzusehen, sitzt sie mir gegenüber: aufrecht und ungerührt, eisern auf die Nadelstiche ihrer Handarbeit konzentriert. Die Wohnung ist voll von ihren Stickarbeiten, sogar zwei große Sessel sind mit ihrer beharrlichen, minutiösen Stickerei bezogen, die sie vor langer Zeit anfertigte, als ich noch klein war. Sie muss Jahre daran gesessen haben, und tatsächlich sehe ich sie häufig vor mir, wie sie, noch jung und schön, an dieser Handarbeit sitzt, die Stirn vom schwarzen Haar beschattet. Sie hatte stets einen Korb voller hübscher Fadenknäuel aus schimmernder bunter Seide neben sich stehen, von denen ich hingerissen war, doch war es mir verboten, sie anzufassen. Jeden Sommer lässt sie die beiden Sessel fürsorglich unter weißen Überwürfen verschwinden; jeden Herbst befreit sie sie wieder davon und staubt sie gewissenhaft ab. Sie erzählt immer wieder, für ein einzelnes Blatt oder eine Blüte habe sie einen ganzen Tag gebraucht. Die Sessel sind wunderschön, doch niemand von uns hat es je gewagt, sich hineinzusetzen; sie sind einschüchternd. Auch jetzt arbeitet sie unermüdlich vor sich hin, an Tischläufern, Kissen, Untersetzern; dauernd schenkt sie mir welche, und ich weiß gar nicht mehr, wohin damit. Mir wäre es lieber, sie würde den Kindern ein paar Jacken stricken.

Aufatmend, leicht gereizt sogar, verlasse ich die Wohnung meiner Mutter, was auch daran liegen mag, dass sie die Fensterläden geschlossen hält und ich jetzt, im Frühling, nicht gerne im Dunkeln sitze. Ich gehe zu Fuß, um den Drang loszuwerden, über das Heft und über den Samstag zu reden. Selbst wenn ich eine Freundin hätte, würde mich ein verbohrter Stolz davon abhalten, mich ihr anzuvertrauen. Der einzige Mensch, dem ich mich anvertrauen könnte, ist und bleibt Michele.

Gestern Abend waren wir zusammen im Kino. Er sagt, um auf dem Laufenden zu bleiben, müsse er das fortan häufiger tun, und von diesem Film habe Clara begeistert berichtet. Er erzählt die Geschichte zweier Liebender, aber der Mann ist verheiratet und sie müssen sich trennen. An irgendeiner Stelle umarmen sich die Schauspieler, küssen sich hingebungsvoll, dann sehen sie einander tief in die Augen und umarmen und küssen sich abermals hingebungsvoll. Ich konnte kaum hinschauen, noch nie hat mich eine solche Szene so aufgewühlt, dabei bekommt man sie im Kino heutzutage ständig zu sehen. Und doch fand ich sie zu gewagt, man hätte sie nicht zeigen sollen, vor allem ihre Wirkung auf die Jugend bereitete mir Sorgen. Der Film spielte teilweise auf Capri: Die beiden Protagonisten fuhren Boot, badeten und legten sich halbnackt auf ein großes Floß in die Sonne; ihr Haar war nass, sie lachten, er stütze sich auf einen Ellenbogen und beugte sich über sie, um sie zu küssen. Die Szene löste in mir einen untertäglichen Widerwillen aus. Womöglich ging es Michele ähnlich, denn wir beobachteten einander heimlich, warfen einander verstohlene Blicke zu. Ich deutete ein spöttisches Lächeln an und schüttelte missbilligend den Kopf, und er machte eine flüchtige Handbewegung, die das Gleiche bedeutete. Später kam mir meine Reaktion feige vor, und das erfüllte mich mit solcher Schwermut, dass mir einen Moment lang die Tränen kamen. Als das Licht wieder anging, war ich so befangen, als wäre ich nackt. »Na ja, besonders toll war der Film nicht«, sagte Michele beim Aufstehen und schlüpfte in seinen Mantel. Der Saal leerte sich, begleitet vom trübseligen Hochklappen der Sitze. »Nein, wirklich nicht«, sagte ich. Wir gingen schweigend nach Hause, und dieses Schweigen machte uns verlegen. Wir versuchten es hin und wieder zu durchbrechen, um sogleich wieder darin zu versinken. »Hast du den Schlüssel?«, fragte ich. »Wie spät ist es?«, fragten wir gleichzeitig, als wir die Wohnung betraten. »Hast du den Wecker gestellt?« Wir gaben uns zwanglos, doch ich wusste, was ihm durch den Kopf ging, und bestimmt kannte er meine Gedanken ebenfalls. Ich wollte mit ihm darüber reden, offen sein, doch irgendetwas hielt mich zurück, knebelte mich: Es war die verzweifelte Gewissheit, dass Worte nicht mehr genügten, um das Schweigen zu durchbrechen, das sich, Tag um Tag, zu einer unüberwindlichen Hürde zwischen uns aufgetürmt hat. »Michele …«, hob ich an, ohne recht zu wissen, was ich sagen wollte. Glücklicherweise unterbrach er mich sofort: »Es ist schon warm draußen«, sagte er, mit belegter Stimme, »vielleicht sollten wir das Fenster offenlassen.«

Kurz danach löschten wir das Licht. Eine einsame Straßenlaterne verbreitete ihren trüben, gelblichen Schein, man hörte vereinzelte Stimmen und Schritte, dann wurde es wieder beklemmend still. Ich konnte den Samstag kaum erwarten. Ich sah mich geradewegs in das Büro des Direktors gehen, der dort bereits auf mich wartete. Ich sah mich ernst vor seinem Schreibtisch stehen und sagen: »Ich bin eine anständige Frau, ich dachte, das wäre Ihnen in all den Jahren klargeworden. Ich liebe meinen Mann, ich habe nie einen anderen geliebt, werde nie einen anderen lieben, wir sind sehr glücklich, unsere Kinder sind fast erwachsen. Ich kann und werde samstags nicht mehr kommen. Offenbar haben Sie mein argloses Benehmen missverstanden und sich falsche Hoffnungen gemacht. Ich bin nur gekommen, um Ihnen das zu sagen, weiter nichts.« Doch in meiner Fantasie reagierte er auf meine Unterstellung verblüfft, starrte mich an, als sei ich geistig verwirrt oder litte an plötzlicher Demenz. Die ganze Nacht lag ich in quälendem Halbschlaf und versuchte vergeblich, meine Demütigung zu lindern.

Seit ein paar Tagen ist Riccardo sehr verändert: In den vergangenen Monaten wirkte er ständig unsicher und unzufrieden, doch jetzt scheint er neue Kraft geschöpft zu haben, neue Zuversicht und neues Selbstvertrauen. Morgens im Bad singt er beim Rasieren, und obwohl er sie manchmal mit seiner Überheblichkeit provoziert, scheint auch sein Groll gegen Mirella verflogen zu sein. All das ist Marina zu verdanken: Notgedrungen musste ich ihm versprechen, sie bald sonntags zu einem Mittagessen einzuladen, damit Michele sie kennenlernt. Doch ich sagte ihm, es wäre besser, damit zu warten, bis er eine Antwort wegen seiner Filmskizze bekommen hat. Riccardo hält nichts von dieser neuen Idee seines Vaters, er sagt, wir sollten uns um die Zukunft keine Sorgen machen, bald könne er uns Geld aus Argentinien schicken. Michele ist Riccardo gegenüber sehr zugewandt; abends setzt er sich mit ihm hin, um mit ihm Spanisch zu lernen. Ich mache mir Sorgen, Michele könnte sich zu sehr verausgaben, er ist dünner geworden in letzter Zeit, und blass, aber er wirkt zufrieden, er sagt, es gebe noch so vieles auf der Welt, das er lernen wolle. Die beiden lachen zusammen, und in dieser Vertrautheit wirkt Riccardo bereits ganz erwachsen. Er bewegt sich mit einer männlichen Forschheit, die mir nicht geheuer ist. Marina ruft jetzt häufig an, und inzwischen erkenne ich ihre Stimme sofort. Kaum ruft sie an, macht Riccardo sich zum Ausgehen fertig. »Du lernst zu wenig«, sage ich. Er beschwichtigt mich, er lerne genug, er wisse alles, es sei kinderleicht. Dann umarmt er mich und geht, als gehörte ihm die Welt. Es tut mir leid, dass ausgerechnet Marina ihm diese Kraft gegeben hat, die ich ihm in all den Jahren nicht zu geben vermochte; und ich frage mich, wie sie es – mit ihrer Einsilbigkeit, ihrer Ungerührtheit – geschafft hat, ihm so viel unbeschwerte Sicherheit zu vermitteln. Vom Fenster aus sehe ich ihn der Straßenbahn nachlaufen und in der Kurve hineinspringen, und ich habe Angst. Michele sagt, das sei ganz normal: Das Einzige, was einen Mann ansporne, sei die Liebe einer Frau und der Wunsch, sie zu erobern und für sie stark zu sein.

Ich schweige, und er wendet sich wieder seiner Zeitung und dem Radio zu. Meine Gedanken werden leicht, sehnlich, lebendig bei der Vorstellung, dass allein der Wunsch, die Liebe einer Frau zu erobern, einen Mann stark macht. Schweigend setze auch ich mich ans Radio, und die Musik beschwört eine willkommene Wesenheit herauf, als würde ein Blick mich umfangen. »Samstag«, denke ich und schließe in süßer innerer Leere die Augen. Ich scheue jeden konkreten Gedanken; denn seit einigen Tagen frage ich mich, ob ich nicht gezwungen bin, das Büro zu verlassen, um meiner unbändigen Rastlosigkeit ein Ende zu setzen. Aber die Vorstellung, nicht mehr in diese Räume, zu diesen vertraut gewordenen Dingen zurückzukehren und meine Tage hier eingesperrt allein zu verbringen, entsetzt mich. Vielleicht würde es reichen, samstags nicht mehr ins Büro zu gehen. Oder nur ein letztes Mal, um mit ihm zu sprechen; er ist ein kluger Mann, er wird es sofort einsehen. So könnte ich weiterhin mit ihm arbeiten, denn auf seine Freundschaft kann ich nicht verzichten. Vor ein paar Tagen behauptete Riccardo beim Abendessen, zwischen Mann und Frau könne es keine Freundschaft geben, Männer hätten den Frauen nichts zu sagen, es gebe keine gemeinsamen Interessen – von ein paar ganz gewissen abgesehen, schob er feixend nach. Mirella behauptete das Gegenteil, hielt mit Ernsthaftigkeit und stichhaltigen Argumenten wie der Erziehung der modernen Frau, ihrer neuen Rolle in der Gesellschaft dagegen, doch bei Riccardos aufdringlichem Männerlachen konnte sie nicht mehr an sich halten. Sie sagte, vielleicht habe er seine Ansichten den Frauen zu verdanken, mit denen er sich abgebe. Riccardo wurde blass und fragte scharf: »Was willst du damit sagen?« Mirella zuckte die Achseln. Er sprang auf und wiederholte drohend: »Was willst du damit sagen?« Ich musste dazwischengehen wie früher, als sie noch klein waren, und genau wie damals hatte ich den Eindruck, dass Mirella die Stärkere ist. Und allein dafür hätte ich sie am liebsten geohrfeigt.

Heute Morgen hat endlich Clara angerufen. Ich war ans Telefon gegangen, und kaum hatte Michele mitbekommen, dass ich mit ihr redete, war er sogleich zur Stelle und riss mir, noch ehe ich mich richtig verabschieden konnte, den Hörer aus der Hand. Clara sagte, sie habe die Skizze gelesen und wolle mit ihm darüber sprechen. Sie fragte, wann er zu ihr kommen könne, und obwohl er noch im Morgenmantel war, sagte er: »Auch jetzt gleich.« Sie verabredeten sich für den Nachmittag. Auf meine Frage, was Clara von der Filmskizze gehalten habe, blieb er vage; in der Aufregung wegen ihres Anrufes hatte er ganz vergessen, danach zu fragen. Plötzlich verließ ihn der Mut, er sagte, wenn Clara ihm nichts gesagt habe, sei das ein Zeichen, dass es ihr nicht gefallen habe; ich musste ihn wieder aufbauen. Ganz im Gegenteil, versuchte ich ihm zuzureden, wenn dem so wäre, hätte sie es bestimmt gleich am Telefon gesagt, das sei schließlich viel einfacher, oder sie hätte ihm das Manuskript mit einem Brief zurückgeschickt. Er schien sich gerade beruhigt zu haben, als er seine Anspannung plötzlich an Riccardo ausließ, der zu lange im Bad brauchte; singend obendrein, was Michele restlos aus der Fassung brachte. Kurz darauf kam Riccardo in aller Seelenruhe duftend und gestriegelt aus dem Badezimmer; Michele wollte ihn zurechtweisen, aber ich hielt ihn zurück und sagte, am Sonntag wolle ich keinen Streit. Riccardo war so glücklich, zum Mittagessen zu Marina zu gehen, dass er sogar vergaß, sich von mir zu verabschieden: Als ich nach ihm sah, um ihm ein Päckchen Zigaretten zu geben, das ich ihm gekauft hatte, war er bereits fort, sein Zimmer unordentlich und leer. Michele ging gleich nach dem Mittagessen, verabschiedete sich mit einem flüchtigen: »Ciao, ich bin weg«, und umarmte mich so hastig, als fürchtete er, einen Zug zu verpassen.

Auf einmal war es in der Wohnung sehr still. Mirella saß in ihrem Zimmer und lernte. Ich versicherte mich, dass ihre Tür geschlossen war, und huschte zum Telefon. »Endlich«, dachte ich freudig, »jetzt kann auch ich meinen freien Tag genießen.« Unsicher und verlegen stand ich vor dem Apparat. »Es ist doch nichts dabei, ihn anzurufen«, sagte ich mir, »das habe ich schon so viele Male getan, was soll daran verdächtig sein.« Doch wenn ich an ihn denke, weiß ich nicht mehr, wie ich ihn nennen soll: »der Direktor« klingt für mich auf einmal nach jemandem, der mir bis vor kurzem noch vertraut war und nun aus meinem Bekanntenkreis verschwunden ist. Wenn ich dagegen versuche, seinen Vornamen »Guido« auszusprechen, klingt es nach niemandem, als hätte ich mir diesen Namen ausgedacht, und das macht ihn rätselhaft und verstörend. Stumm stand das Telefon vor mir. Wenn ich ihn gelegentlich zu Hause hatte anrufen müssen, empfand ich meist ein unüberwindbares Unbehagen, vielleicht wegen der fremden Stimmen, die sich meldeten, oder wegen der Schritte, die im Hintergrund einer mir unbekannten und unerreichbaren Welt zu hören waren. Ich wusste, heute war er alleine zu Hause: Auf seinem Schreibtisch hatte ich die Karten für eine Theaterloge liegen sehen, und ich weiß, dass er nie ins Theater geht. Wie gern hätte ich einen Grund gehabt, ihn anzurufen, eine Ausrede, die nicht fadenscheinig klänge: »Was soll ich ihm sagen?«, überlegte ich. Und doch muss ich mit ihm reden, es geht nicht anders. Gestern Nachmittag blieben wir noch lange allein im Büro: Die ganze Zeit waren wir kurz davor, einander etwas zu sagen, etwas Dringendes, das uns brennend auf der Seele lag. Doch in der Gewissheit, dass wir gleich etwas sagen würden, verstrich die Zeit ohne ein Wort, das nicht mit der Arbeit zu tun hatte, bis sich die nervenzehrende Erwartung zu unmerklicher Gereiztheit steigerte. Selbst, als er mich zur Tür brachte, harrten wir beide noch darauf, endlich zu sprechen. Er fragte mich, was ich heute vorhätte, und merkte an, er habe nichts vor und bliebe zu Hause. Beim Abschied hielt er lange meine Hand; ich wurde blass und fürchtete, er könnte etwas sagen, und obwohl ich mir das sehnlich wünschte, floh ich hastig die Treppe hinunter.

Vorhin stand ich lange vor dem Telefon. Mir war, als könnte er mich sehen. »Ich habe heute auch nichts vor«, hätte ich ihm sagen wollen. »Wir könnten ausgehen.« Bei diesem Gedanken blickte ich aus dem Fenster in den sanftblauen Himmel und nahm all die Verlockungen dieser Jahreszeit wahr. Ich muss ihn sehen, dachte ich, ich muss mit ihm reden, ihm etwas sagen. »Aber was?«, fragte ich mich, »was?«, und fasste mir an die Stirn. »Ich bin verrückt«, murmelte ich kopfschüttelnd, »völlig verrückt«, und wählte seine Nummer, ohne die Scheibe zu drehen, »ich habe noch so viel Bügelwäsche.«

Beim Schreiben des heutigen Datums fiel mir plötzlich auf, dass morgen Frühlingsanfang ist. Heute Früh im Büro habe ich das Fenster offengelassen, und durch die Stille des noch frostigen Morgens klangen aus dem Garten die zaghaften Stimmen der Vögel herauf. Genau wie damals im Internat verlor ich mich in ihrem melodischen Gesang wie in einem Blätterlabyrinth. Ich musste das Fenster schließen, um mich wieder auf die Arbeit konzentrieren zu können. Meine Mutter behauptet immer, unsere Stimmung hänge von der Jahreszeit ab. Bisher hielt ich das für eine Binsenwahrheit alter Leute, die nicht wissen, was sonst sie für ihre Gemütsverfassung verantwortlich machen sollen; doch allmählich glaube ich, es ist wahr. Auch Michele ist nervös und fahrig, es fällt ihm schwer, an unseren Unterhaltungen teilzunehmen; fast kommt es mir vor, als hätte ich einen Pensionsgast im Haus, der gerne dafür zahlt, mit mir und den Kindern zusammenzuwohnen, solange man ihm seine berechtigten Freiheiten lässt. Clara hat gesagt, die Filmskizze sei interessant, doch aus verschiedenen Gründen sei sie schwierig umzusetzen; man müsse sie überarbeiten, ehe man sie dem Produzenten zeigt. Sie war sehr nett: Sie bot an, Michele bei den nötigen Verbesserungen zu helfen. Gestern war Michele wieder bei ihr, denn es war Feiertag, und am Donnerstagabend geht er noch einmal hin. Er solle sich doch freuen, sagte ich zu ihm, Clara hätte die Idee ebenso gut schlecht finden und nicht mehr darüber reden können. Doch ich kann ihn einfach nicht überzeugen. Oft lässt er den Blick durch unsere Wohnung wandern und spricht von Claras Einrichtung; und ich spüre, dass er nicht ihren Geschmack, sondern Clara selbst bewundert. Obwohl ich wusste, dass das ein Fehler sein würde, erinnerte ich ihn, dass er früher anders über sie gedacht und ihr Verhalten und ihre Trennung verurteilt habe. Michele antwortete, das sei nun alles nicht mehr von Bedeutung, und obwohl Claras früherer Mann ein alter Jugendfreund von ihm ist, fing er an, abfällig über ihn zu reden. Er sagte, Clara habe es genau richtig gemacht, mit einem Durchschnittsleben und einem Durchschnittsmann wäre sie niemals glücklich geworden, er zählte ihre bemerkenswerten Erfolge auf, die Summen, die sie verdient, und sagte, ihr Mann dagegen habe es nie über die bescheidene Anstellung hinausgebracht, die er gleich nach seinem Studium angenommen habe. »Jeder von uns besitzt einen inneren Wert, der ihn zu etwas berechtigt«, sagte er. »Was dem einen als eine Verfehlung erscheinen mag, ist es für den anderen nicht. Irgendwann im Leben muss man sich bewusst werden, was in einem steckt, und sich damit behaupten; auch das gehört zu unseren Pflichten.« Ich wollte ihn fragen, ob er das von Clara habe, doch sein Ton hielt mich davon ab. Er klang, als hätte er diese Sätze unzählige Male vor sich hingesagt und läse sie ab wie aus einem Buch. In instinktiver Furcht wandte ich ein, Clara habe sich zwar Unabhängigkeit, Bekanntheit und materiellen Wohlstand erobert, aber etwas sehr viel Wichtigeres habe sie dennoch verloren. »Was denn?«, fragte er ungläubig. Ich setzte ein bemüht nachsichtiges Lächeln auf, das unwillentlich herablassend geriet, und sagte, sie habe den Ruf, zahlreiche Liebhaber zu haben. Michele fing an zu lachen. »Na und?«, fragte er. »Clara ist frei und noch jung, sie schadet niemandem.« Sie schadet sich selbst, wollte ich erwidern, doch ich spürte, dass mich weniger moralische Überzeugung dazu trieb, denn engherzige Bitterkeit wegen etwas, das sich wie eine Ungerechtigkeit in meinem Leben anfühlte. Ich fragte mich, ob Michele wirklich glaubte, was er sagte, oder ob er Clara nur in Schutz nehmen wollte; dennoch verstörten mich seine Worte, und noch immer verstören sie mich zutiefst. In der quälenden Absicht, mir selbst wehzutun, sagte ich noch einmal, Clara sei in meinem Alter. Michele sagte, das Alter relativiere sich durch das, was wir tun, und führte Schauspielerinnen und Staatsmänner an. »Ich verstehe«, erwiderte ich. »Wenn also der Ruf nichts zählt und eine dreiundvierzigjährige Frau sich noch immer aufführen darf wie ein junges Mädchen auf der Suche nach einem Ehemann, und wenn selbst du das alles gutheißt, dann könnte ich ebenso gut …« »Was hast du denn damit zu tun?«, unterbrach er mich sofort, gereizt und vorwurfsvoll. »Wie kannst du dich mit Clara vergleichen, Mama? Du hast einen Mann, zwei bereits erwachsene Kinder … Clara ist allein, und wir alle wissen, wie es in der Filmbranche zugeht …« Er log, wie man Kinder anlügt, und plötzlich ging mir auf, dass er nicht zum ersten Mal so mit mir sprach; so war es schon immer, zumindest kann ich mich kaum erinnern, dass er je anders mit mir gesprochen hätte. Und während ich fügsam einlenkte, mein Fall liege zugegebenermaßen anders, log ich aus Furcht vor ihm, vor seinem Urteil ebenfalls. Er kam auf mich zu und streichelte mich. »Das verstehst du doch, nicht wahr?«, sagte er und ich nickte; aber die Lüge oder vielleicht das vage Gefühl, er könnte recht haben, lösten eine unbändige Schwermut in mir aus. Ich fürchte, dass das, was ich bin, in seinen Augen keinen Wert mehr hat, weil es ihm selbstverständlich erscheint. Stattdessen bewundert er Clara, die so anders ist als ich und mit der ich nichts mehr gemeinsam habe, nicht einmal unsere Vergangenheit als junge Bräute, die sie heute, mit ihrem jetzigen Leben, verleugnet und verlacht. Ich frage mich, ob ich für Michele noch eine lebendige Frau bin oder schon, wie seine Mutter, ein Porträt an der Wand. Für meine Kinder bin ich das zweifellos, genau wie meine Mutter für mich. Verzweifelt sehnte ich mich danach, dem bösen Zauber dieses Porträts zu entfliehen. »Ich habe Angst«, wollte ich sagen; doch da er meine Gedanken ignorierte, hätte er das nicht verstanden.

Vielleicht denke ich so, weil ich eifersüchtig bin. Zumindest möchte ich das glauben. Dennoch scheint mir, es geht um mehr als um weibliche Rivalität, für die man sich, immerhin, als ebenbürtig erachten muss. Mich vergiftet der Zweifel, Micheles Bewunderung für Clara könnte der Beweis dafür sein, dass ich alles falsch gemacht habe, nicht nur im Hinblick auf mich selbst, sondern auf meine Beziehung zu ihm. Aber vielleicht kann ich noch etwas ändern, vielleicht wäre es sogar ganz leicht, sage ich mir voller Zorn, als wollte ich mich rächen. Doch nach und nach wird mir klar, dass ich vielleicht tatsächlich anders sein könnte, aber mit einem anderen Mann, nicht mehr mit Michele, und dieser Gedanke erschreckt mich. »Liebst du mich noch?«, wollte ich ihn gestern fragen. Das habe ich ihn seit Jahren nicht mehr gefragt, eine unüberwindliche Scheu hielt mich davon ab. »Hast du mich gern, Michele?«, fragte ich ihn. »Was machst du dir für Gedanken, Mama?«, sagte er lächelnd. »Inzwischen solltest du das doch wissen.« Ob ich etwa eifersüchtig sei, fragte er mich scherzend, und ich wurde rot und sagte nein.

Ich finde einfach keine Ruhe mehr. Wenn ich zu Hause bin, will ich ständig ins Büro, und wenn ich im Büro bin, erscheint mir der freudige Eifer, der jeden Handgriff beseelt, wie eine Schuld und ich kann es kaum abwarten, wieder nach Hause zu kommen, um mich sicher zu fühlen. Ich bin versucht, Tante Matildes Einladung anzunehmen und für ein paar Wochen zu ihr nach Verona zu fahren. Allein der Gedanke an Riccardo hält mich davon ab: Er wirkt im Moment so kraftvoll, dass es auch mir Kraft gibt. Ich denke sogar darüber nach, mit ihm nach Argentinien zu ziehen, und es wundert mich, dass er es mir noch nicht vorgeschlagen hat. Ich habe Michele gesagt, dass ich Marina am Osterabend zum Essen einladen möchte, und er hat sofort zugestimmt, doch als ich von ihr und ihrer Familie sprach, hörte er gar nicht hin. »Du musst mir sagen, ob du mit ihr einverstanden bist, ob sie dir gefällt«, sagte ich. Er antwortete, sie müsse nicht ihm gefallen, sie müsse Riccardo gefallen, und auf meinen Einwand, sie würde die Mutter ihrer beider Kinder sein, meinte er fast zufrieden: »Das sind ihre Kinder.« Er wirkt zusehends angespannt, und wenn ich ihn nach dem Grund frage, erwidert er, der Gedanke an einen neuen Krieg bereite ihm Sorgen: Clara sage, die Filmproduzenten wollten keine Aufträge mehr vergeben, sie hätten Angst. Das letzte Mal sei es genauso gewesen, sagte ich, und dann seien die Geschäfte trotzdem weitergelaufen. Ich wurde kurz vor dem Libyenkrieg geboren und war noch klein, als der Erste Weltkrieg losbrach; im Internat kletterten wir an den Fenstergittern hoch, um die Faschisten mit ihren Handgranaten und den bis zur Taille geöffneten Schwarzhemden mit dem Totenschädel auf der Brust zu sehen. Wir waren erst wenige Jahre verheiratet, als Michele nach Abessinien aufbrach, und als er 1940 erneut die Uniform anlegte, trug er noch Trauer wegen seines in Spanien gefallenen Bruders. »Wir haben gelernt, trotzdem weiterzuleben«, bemerkte ich harsch, »diese Eigenschaft haben wir anderen Völkern voraus, die sie erst noch erlernen müssen.« Michele wurde ungehalten, sprach von der Gedankenlosigkeit der Frauen, und ich hielt weiter dagegen. Ich will nicht, dass er solche Dinge in Riccardos Gegenwart sagt und behauptet, inzwischen sei alles sinnlos, ob studieren oder heiraten oder Kinder kriegen. Ich reagierte so heftig, dass er verstummte.

Zum Glück ist Riccardo verliebt. Heute verkündete er, es werde keinen Krieg geben, und wir ließen uns von seiner Gewissheit mitreißen. Die jungen Leute reden ganz anders über den Krieg, als wir es taten. Unsere Eltern glaubten wirklich, Krieg wäre notwendig, eine schmerzliche Pflicht, die dennoch viele Hoffnungen barg. Ich weiß noch, wie mein Vater mit gewissenhaftem Ernst seinen Revolver reinigte, als zählte das Vaterland nur auf diese eine Waffe. Mein Vater war ein friedlicher Mann: Die Erinnerung an diese Geste rührt mich noch immer. Seit damals bekamen wir zu hören, der Krieg sei notwendig, um das Wohl der Kinder zu sichern. Damals waren wir die Kinder, jetzt sind es Riccardo und Mirella, und in zwei Jahren könnten es ihre Kinder sein. Die Worte sind gleichgeblieben, nichts hat sich geändert. Einzig unser Glaube, der Krieg würde etwas zum Besseren wenden, ist geschwunden. Mirella schwieg, musterte uns mit dem entschlossenen Blick, den sie schon als kleines Mädchen hatte und der mir nicht gefällt. Sie hörte ihrem Bruder zu, der fröhlich versicherte, es werde keinen Krieg geben, er werde nach Buenos Aires gehen und später wiederkommen, um zu heiraten. Dazu zitierte er einen sehr beruhigenden Zeitungsartikel, den er gelesen hatte. »In welcher Zeitung?«, fragte Mirella, und er antwortete, er erinnere sich nicht, er habe ihn beim Barbier gelesen. »Hoffen wir das Beste«, seufzte ich. Ich würde auf die Hoffnung setzen, ohne nachzudenken, bemerkte Mirella. »Du bist überzeugt, dass Krieg völlig sinnlos ist«, sagte sie, »aber trotzdem fragst du dich nicht und versuchst nicht zu verstehen, warum es noch immer Kriege gibt und Menschen darin sterben.« Ich entgegnete, darüber sollen die Männer nachdenken. Riccardo wandte sich zu seiner Schwester und sagte, sie verstehe wohl von alledem mehr als er oder ihr Vater oder der Verfasser des Artikels oder die Regierenden. »Warum erklärst du es uns nicht, wenn du es so genau weißt?«, fragte er geheuchelt höflich. »Ich weiß es«, versetzte sie mit kindlichem Starrsinn. »Ich weiß es sehr wohl: Es liegt daran, dass zu viele Leute wie du den Krieg kleinreden, statt die Dinge verstehen zu wollen.« Riccardo fing an zu lachen, und ich versuchte, das Thema zu wechseln: Sie sind beide meine Kinder, und wenn sie streiten, scheint auch in mir etwas zu streiten, zwei gegnerische Gruppen meines eigenen Blutes. Sowieso hackt Riccardo oft nur so erbittert auf Mirella herum, weil sie eine Frau ist. Jeden Abend in Luxuslokale zu gehen oder im Auto herumzukutschieren, sei also ihr Versuch, diese Dinge verstehen zu wollen, fragte er. Ja, schoss sie zurück, unter anderem, sie habe nur einen Schritt aus dieser Wohnung machen müssen, schon habe sie der Erkenntnishunger gepackt. Michele schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Es reicht, Mirella, es reicht! Geh in dein Zimmer.« Einen Moment lang starrte Mirella ihren Vater verunsichert an, dann ihren Bruder, der ins Leere blickte und sich bedächtig eine Zigarette anzündete. Sie wollte etwas erwidern, in ihren Augen standen Tränen, doch sie riss sich zusammen und verließ das Zimmer.

In eisigem Schweigen saßen wir da. Dann zündete auch Michele sich eine Zigarette an. »Hör mal, Mama«, bat er mich, »geh zu ihr und sag ihr, das war das letzte Mal, ich dulde so etwas nicht.« »Was duldest du nicht?«, fragte ich. Meine direkte Frage ließ Michele einen Moment zögern. »Ich dulde dieses Betragen nicht …« »Sie hat doch nichts Schlimmes gesagt …«, wandte ich schüchtern ein. »Es reicht!«, wiederholte er brüsk: »Ich dulde weder ihr aufmüpfiges Verhalten noch ihren herablassenden Ton mir gegenüber. Erinnere sie daran, dass ich ihr Vater und fünfzig Jahre alt bin.«

Das Gesicht in den Händen, saß Mirella auf der Ottomane in ihrem Zimmer. Als ich eintrat, hob sie nicht einmal den Kopf. Ich setzte mich auf einen Stuhl in der Ecke und betrachtete sie. Auf der Ottomane lag ihr weißes Nachthemd bereit, ein Kindernachthemd. Ich habe Mirella nie durchschaut, Riccardo durchschaue ich immer. Manchmal glaube ich, wenn sie nicht meine Tochter wäre, fiele es mir schwer, sie zu mögen. Sie gibt sich nicht damit zufrieden, einfach zu leben, geliebt zu werden, wie ich es in ihrem Alter tat. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Studieren für Mädchen damals etwas völlig anderes bedeutete. Mir wäre niemals eingefallen, Anwältin werden zu wollen: Ich habe Literatur, Musik und Kunstgeschichte studiert. Mir wurden nur die schönen und süßen Seiten des Lebens beigebracht. Mirella studiert Jura und Gerichtsmedizin. Sie weiß alles. Bücher waren für mich eine Schwäche, die ich mit den Jahren zu überwinden lernen musste; sie hingegen zieht aus ihnen diese unerbittliche Stärke, die uns trennt.

»Mirella«, sagte ich, und sie hob den Kopf. »Verstehst du von alldem wirklich etwas?«, fragte ich verhalten. Sie starrte mich gedankenverloren an, dann schüttelte sie den Kopf und ließ ihn wieder in die Hände sinken. »Nun?«, hakte ich nach. »Ich weiß auch nicht, warum ich heute Abend so reagiert habe«, erwiderte sie. »Es war falsch, weil ich keine konkreten Gegenargumente hatte. Aber ich habe genau das empfunden, was ich gesagt habe.« »Wieso hast du gesagt, alles sei anders, sobald du das Haus verlässt?« Ich brannte darauf, ihre Antwort zu hören, in der Hoffnung, sie könnte mir auch bei meinen Gefühlen Klarheit verschaffen. »Weil es stimmt, Mama. Weil ich vorher kein anderes Leben als unseres kannte. Vielleicht auch, weil ich die Reichen aus der Nähe gesehen habe. Und arme Leute sollten Geld niemals aus allzu großer Nähe sehen: Es ist sehr beeindruckend. Es macht Angst. Es ist der Kern allen Übels, Mama, der Grund für alles. Dort liegt der Fehler. Dort liegt das, was ich erkennen will, was man verstehen muss.« Ich fragte sie, ob sie den Krieg meine. Sie sagte, den Krieg und noch viele andere Dinge, an ihr, an mir, an Riccardo und an Papa, die sich allesamt von Grund auf ändern müssten.

Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte, besorgt und verwundert sah ich sie an. Zum ersten Mal empfand ich etwas, das ich aus den Erzählungen vieler anderer Mütter kannte, jedoch nie selbst empfunden hatte: Das Bedürfnis, das eigene Leben auf das Leben der Kinder zu übertragen, einschließlich aller Hoffnungen. Und vielleicht gerade auf jene, die anders sind als wir und in denen wir uns nicht wiedererkennen. »Dann versuch du es zu erkennen«, murmelte ich. »Für mich ist es dafür wohl zu spät.«

Michele ist heute Abend bei Clara, Mirella ist ebenfalls ausgegangen. Ich hatte sie gebeten, zu Hause zu bleiben, weil Gründonnerstag ist: Sie sagte, sie könne die Verabredung nicht mehr verschieben. Ich hätte mir gewünscht, sie würde bleiben, auch weil ich mit ihr reden wollte. Ich hatte nie eigene Ideen; bisher habe ich mich immer auf eine als Kind erlernte Moral gestützt, oder auf das, was mein Mann sagte. Nun habe ich das Gefühl, nicht mehr zu wissen, was gut und was schlecht ist, ich begreife die Menschen, die mich umgeben, nicht mehr, und so beginnt sich in mir selbst das aufzulösen, was ich für unerschütterlich hielt.

Fiebrig gehe ich den heutigen Tag noch einmal durch und suche jeden Blick, jedes Wort nach einer versteckten Bedeutung ab. Ich frage mich, ob er tatsächlich an einer dringenden Aktennotiz arbeiten wollte und die Marcellini und mich deshalb gebeten hat, ins Büro zu kommen, obwohl Gründonnerstag ist. Die Marcellini war außer sich, obwohl sie wusste, dass sie die Überstunden bezahlt bekommt. Widerwillig erledigte sie ihre Arbeit, machte bei der Abschrift eine Menge Fehler; sie ist noch sehr jung. Als der Direktor sagte, er brauche sie nicht mehr, ist sie fast grußlos verschwunden.

Ich ordnete gerade die Unterlagen, als er ins Zimmer kam. Sein Blick verriet sofort, dass die Aktennotiz eine Ausrede war. Das ahnte ich schon, als er die Marcellini entließ und mich höflich bat, noch ein paar Minuten zu bleiben. Wie immer sagte ich mir, wenn er wirklich an mir interessiert wäre, wäre ich ihm schon längst aufgefallen und er hätte das nicht bis heute verschweigen können. Doch jetzt wird mir klar, dass ich mich in letzter Zeit verändert habe und ihm wie ein neuer Mensch erscheinen muss. Seine Gegenwart verwirrte mich: Ich griff nach dem Mantel und wollte gehen. Er sagte: »Warten Sie doch bitte noch einen Moment.« Und dann, nach einer kurzen Pause: »Am Samstag werden wir uns nicht sehen können: Es ist der Tag vor Ostern.« Ich hängte den Mantel wieder auf und ließ mich auf den Schreibtischstuhl sinken, wie um zu sagen: »Hier bin ich.«

Auf dem Schreibtisch lag meine alte, mit einer Initiale verzierte Handtasche, die mir Michele einmal zum Geburtstag geschenkt hat. Mit einem zufriedenen Seufzer nahm er auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz. Einen Moment lang saßen wir schweigend da; froh darüber, allein zu sein. Während wir ein paar Belanglosigkeiten austauschten, ließ er den Finger bedächtig über die Initiale meines Namens gleiten, als wollte er sie nachzeichnen. Ich kann mich nicht einmal erinnern, was wir einander sagten, ich erinnere mich nur noch an diese Geste: Es war, als riefe er nach mir. Ich erschauderte, es war, als würde seine Hand mich berühren, meine Haut, und ich wollte ihn anflehen: »Aufhören, bitte.« Leise, und als läse er es ab, sagte er: »Valeria.«

Dann folgte eine Stille, in der ich beseelt dem Nachhall meines Namens lauschte. »Was geschieht hier, Valeria?«, fragte er, ohne mich anzusehen, den Blick starr auf die Initiale gerichtet. »Ich weiß es nicht«, entgegnete ich und senkte den Blick. »Wollen wir aufrichtig sein? Darf ich?«, fuhr er fort. Am liebsten hätte ich nein gesagt, meinen Mantel genommen und wäre gegangen, stattdessen nickte ich. »Ich hatte Angst«, gestand er. Ich blickte erstaunt auf, ich hatte ihn immer für einen starken Mann gehalten. »Es begann vor rund zwei Monaten, als Sie mir sagten – erinnern Sie sich? –, die finanzielle Lage ihrer Familie scheine sich zu bessern. Ich hatte Sie halb scherzhaft gefragt, ob Sie mich verlassen würden. Doch Sie antworteten ganz ernst, als hätten Sie bereits darüber nachgedacht, ich weiß es noch ganz genau: ›Vorerst nicht‹.« Schnell erklärte ich ihm, das sei mir wohl ungewollt herausgerutscht, weil ich nicht gewusst hätte, wie ich meine Beschäftigung ohne eine finanzielle Notwendigkeit vor der Familie rechtfertigen sollte, aber dass ich ganz im Gegenteil … »Ja, ja, das verstehe ich«, unterbrach er mich. »In dem Moment habe ich sowieso nicht viel darauf gegeben; erst später, an dem Samstag, als wir uns zufällig hier im Büro trafen. Bei der Arbeit mit Ihnen empfand ich auf einmal eine so ungekannte Leichtigkeit, dass mir plötzlich Ihre Worte wieder einfielen. Seitdem macht mir die Vorstellung Angst, jeden Morgen hierherkommen zu müssen und Sie nicht mehr anzutreffen. Vielleicht, weil die anderen – haben Sie die Marcellini gesehen? – nur hier sind, um ihr Gehalt einzustreichen und möglichst schnell wieder zu verschwinden, es ist ihnen gleich, ob sie hier arbeiten oder woanders. Oder vielleicht, weil Sie das Büro in- und auswendig kennen und wissen, wie viel Ausdauer, wie viel Mühe … Oder vielleicht ist es gar nicht das«, fügte er leise an. »Jedenfalls fürchtete ich, wieder genauso allein zu sein wie ganz am Anfang; schlimmer noch, denn heute habe ich nicht mehr diesen Elan und die Zielstrebigkeit, die mich damals antrieben. Heute glaube ich an nichts mehr. Wie dem auch sei, mir ist klargeworden, dass ich hier ohne Sie ebenso einsam wäre wie zu Hause. Zuerst habe ich es auf meine Erschöpfung geschoben, manchmal bemitleide ich mich gern … Doch mit der Zeit habe ich immer mehr begriffen, was mein Leben ohne Sie wäre, Valeria. Ich empfand einen unerträglichen Widerwillen gegen die Arbeit, gegen das Leben, eine Art Übelkeit. Verstehen Sie?« »Ja, das verstehe ich«, murmelte ich. Und dann, nach einer Pause: »Mir ginge es genauso.«

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, lächelte er, bang und gerührt; und wieder spürte ich diese Zuversicht, die ich nur in seiner Gegenwart empfinde. Wir redeten weiter, und alles, was er sagte, brachte meinen Frohmut zurück. Wenn er mich ansah, war ich jung, viel jünger als damals, als ich zum ersten Mal sein Büro betrat: jung wie nie, denn anders als mit zwanzig war ich mir dessen nun glücklich bewusst. Wir blieben zu beiden Seiten des Schreibtisches sitzen: Seit Jahren unterhalten wir uns so, und mittlerweile ist diese Vertrautheit so tief, dass eine andere völlig unmöglich erschien. Er streckte seine Hand aus, ich legte meine hinein, und der Schreibtisch vereinte uns, statt uns zu trennen.

Schließlich sagte ich, es sei spät, ich müsse noch in die Kirche wegen der Heiligen Gräber. Er hielt mich nicht zurück: Wie spürten beide, dass wir viel Zeit hatten, lange Stunden, alle Tage, die noch vor uns lagen. Wir ordneten die Papiere, schlossen die Schubladen und knipsten wie Schulkameraden die Lichter aus.

»In welche Kirche gehen Sie?«, fragte er mich an der Tür. Er blickte mich an, und ich schämte mich meiner alten braunen Schuhe, die ich jeden Tag trage. »San Carlo, gleich hier um die Ecke.« Er fragte mich, ob er mich ein Stück begleiten dürfe.

Als wir im Treppenhaus auf den Fahrstuhl warteten, befiel mich eine plötzliche Befangenheit. Ich kann nicht erklären, was ich spürte, ich fühlte mich innerlich frei und äußerlich gebunden. Dieser Eindruck verflüchtigte sich auch auf der Straße nicht. Seit langer Zeit war ich nicht mehr an der Seite eines Mannes unterwegs; mit Michele gehe ich nur noch selten aus. Die Straßen wimmelten vor Menschen, die träge von einer Kirche zur nächsten pilgerten. Ihren Kleidern schien der Geruch von Blumenbergen und Kerzenwachs zu entströmen, der Gründonnerstagsgeruch meiner Internatszeit. Viele Frauen trugen Schwarz und tuschelten miteinander, wie bei einer Beerdigung. Wir mieden die Via dei Condotti; ich versuchte mich seinem Schritt anzupassen, doch es ist schwer, neben einem großen Menschen herzugehen, ich konnte kaum mit ihm sprechen. Die Via della Croce war laut und belebt wie zu einem Dorffest. Mühsam schoben wir uns durch die vielen Leute: Wenn ein Auto vorbeifuhr, drängten sich alle an die Häuserwände, einige protestierten, ich musste lachen und mir war sehr warm. Es war, als wären wir zusammen auf Reisen, in einer fröhlichen, ärmlichen Stadt im Süden. Ich lachte, aber mein Unbehagen wollte sich nicht legen. Bisher hatten wir nur die Nüchternheit des Büros geteilt, Papier, Schreibmaschinen und Telefone, als hätten wir jahrelang gemeinsam eine unmenschliche Welt bewohnt. Die vor Gemüse überbordenden Karren, die Schaufenster der Lebensmittelläden, die strahlenden Lichter und die lauten Stimmen wirkten geradezu schamlos dagegen. Vielleicht empfand er es genauso, denn ohne sich über die Leichtsinnigkeit dieser Geste Gedanken zu machen, nahm er plötzlich meinen Arm. Er ist es nicht gewohnt, zu Fuß unterwegs zu sein. Die Menschen verunsicherten ihn: Schreckhaft wich er den Passanten aus. Ich lächelte ihn mitfühlend an und lotste ihn durch die mir urvertrauten Straßen. »Bis morgen früh«, sagte er, als wir wie auf einer rettenden Insel endlich auf der Kirchentreppe standen. Er lüpfte den Hut, blickte sich verstohlen um, murmelte »Guten Abend, Valeria«, und küsste mir die Hand. In diesen Worten, dieser Geste war er mir vollkommen fremd; doch ich war glücklich.

Es scheint, als hätte das Osterfest die Unrast und die Zweifel zerstreut, mit denen ich so oft zu kämpfen habe. Als am Karsamstagmorgen plötzlich alle Glocken läuteten, schien sich auch in mir eine Fessel zu lösen und endlich von mir abzufallen. Ich wirbelte noch mehr als sonst, um Michele und den Kindern einen schönen Tag zu bereiten; Riccardo sagte sogar, er habe noch nie ein so schönes Osterfest verbracht, vielleicht auch, weil Marina mit uns zu Mittag gegessen hat. Am Abend des Karsamstag ist es über die Ostervorbereitungen so spät geworden, dass mir nicht einmal Zeit zum Schreiben blieb. Ich habe drei Schokoladeneier gekauft, denn von nun an muss ich wohl jedes Jahr auch eines für Marina besorgen; dann Eier buntgefärbt wie früher im Internat; und überall auf dem Tisch, rings um die Pizza, habe ich weiße Levkojen verteilt, die einen zuckerigen Duft und eine ländlich heitere Stimmung verströmten. Als der Priester kam, um die Wohnung zu segnen, meinte ich sogar in seinen Augen Wohlgefallen zu erkennen.

Zum ersten Mal sind wir am Ostermorgen nicht gemeinsam zur Messe gegangen. Riccardo fragte, ob ich etwas dagegen hätte, wenn er mit Marina hinginge. Michele wollte von mir wissen, ob er Clara einen Blumenstrauß schicken sollte, sie sei in letzter Zeit so nett zu uns gewesen, und ich stimmte begeistert zu: Also machte er sich auf den Weg in die Stadt und versicherte mir, er würde Mirella und mich in der Kirche treffen. Aber er kam zu spät. Mirella wollte zur Elf-Uhr-Messe gehen, um noch eine halbe Stunde für sich zu haben, bevor sie mir bei den Vorbereitungen für das Mittagessen zur Hand ginge. Gemeinsam spazierten wir zur Kirche und ich war stolz, mit meiner Tochter unterwegs zu sein. Mirella hat einen schönen Gang, zügig und voller Anmut, in der nichts Affektiertes liegt; sie hat nichts von der Saumseligkeit der Mädchen in ihrem Alter. Ihr Gang ist schon der einer selbstsicheren Frau. Als sie in der Kirche neben mir kniete, betrachtete ich sie: Wenn sie sich bekreuzigt und betet, tut sie das mit den gleichen Gesten, die ich ihr als Kind beigebracht habe, doch ihre Gedanken gehören mir nicht mehr. Sie trug einen schlichten Strohhut, den sie sich von ihrem ersten Gehalt gekauft hat, dazu die Handtasche von Cantoni und einen teuren Schal, der wohl denselben Ursprung hat. Während sie betete, betete ich für sie, sie möge immer eine gute Tochter sein. Die Orgelklänge rührten mich. Ich fragte mich, ob ich eine gute Tochter gewesen bin, und dann, ob ich eine gute Mutter bin, und eine gute Ehefrau; doch nach einer kurzen Gewissensprüfung musste ich mir eingestehen, dass ich auf jede dieser Fragen gleichermaßen aufrichtig und begründet mit Ja und mit Nein antworten könnte. Also hörte ich auf, mich zu fragen, und bat Gott, Mirella beizustehen und mir ebenso, schließlich haben wir alle seinen Beistand dringend nötig.

An Festtagen pflegt meine Mutter pünktlich zu sein wie ein Ehrengast. Ich weiß, dass sie zu diesen Gelegenheiten viel Zeit auf ihre Garderobe verwendet: Die Wahl des Hutes oder der Handschuhe erfordert äußerste Gewissenhaftigkeit. Als junge Frau war sie hochelegant und sie tadelt stets das sportlich lässige Auftreten der Frauen von heute. Sie kommt nie zu mir in die Küche; sie tut so, als würde sie meine Geschäftigkeit nicht bemerken, gerade so, als wollte sie nicht wahrhaben, dass ihre Tochter keine Hausangestellte hat. Gestern saß sie mit meinem Vater und Riccardo im Esszimmer und unterhielt sich: Hin und wieder klappte sie wie nebenbei ihre kleine goldene Uhr auf, die am Revers ihres schwarzen Jackenkleides hing, als wollte sie Micheles taktlose Verspätung unterstreichen. »Endlich«, sagte sie, als es an der Tür klingelte, doch es war ein Bote, der einen großen Rosenstrauß brachte. Ich wusste sofort, von wem er kam, schon die ganze Zeit hatte ich unbewusst darauf gewartet und im Hochgefühl dieser Erwartung das Mittagessen vorbereitet. Ich öffnete die Karte, und es ist mir ein Rätsel, warum die anderen meine zitternden Finger nicht bemerkten. »Ah, vom Direktor«, sagte ich und schob hastig nach, zu Weihnachten hätte er mir ebenfalls Blumen und letztes Jahr zu Ostern ein Schokoladenei geschickt. Um mich herum schien es still zu werden, und ich war so nervös, dass ich fast den Korb hätte fallenlassen. Riccardo nahm ihn mir aus der Hand und sagte, Marina würde sich am Abend bestimmt sehr darüber freuen. Mit besitzerischer Genugtuung stellte er ihn probehalber hierhin und dorthin und platzierte ihn schließlich auf der Anrichte. Endlich kam Michele atemlos zur Tür herein. Meine Mutter blickte abermals auf die Uhr, erhob sich sofort vom Sofa und setzte sich zu Tisch. Eigentlich hätte sich Michele bei ihr für die Verspätung entschuldigen müssen. Stattdessen grüßte er in die Runde, entdeckte den Rosenstrauß, zeigte darauf wie auf einen Unbekannten und fragte: »Und der da?« Dann drehte er sich mit finsterem Blick zu Mirella um. »Nein, der ist für mich …«, sagte ich in die Stille hinein. »Vom Direktor, wie immer.« Offenbar habe der Direktor viel Geld zu verschleudern, meinte er. »Verschleudern?«, wiederholte ich, gespielt empört: »Das ist nicht nett von dir, Michele!« »An den Feiertagen sind Blumen wahnsinnig teuer«, sagte er. »Übrigens, stell dir vor, ich musste die Blumen selbst zu Clara bringen, der Blumenhändler hatte keinen einzigen Boten mehr. Ich habe sie kurz gesehen, sie wünscht dir frohe Ostern und sagt, du sollst sie anrufen. Man kann dieser Tage keine Blumen kaufen«, wiederholte er betont missfällig. »Rosen: die kosten drei-, vierhundert Lire das Stück. Die da …«, fügte er hinzu und deutete auf den Strauß, »… sind die für vierhundert. Wie viele sind es?« Er zählte nach und sagte: »Vierundzwanzig … vier mal vier sind sechzehn: neuntausendsechshundert Lire.« Alle drehten sich ehrfürchtig zu dem Strauß um, außer meine Mutter, die weiter ihre Tasse Brühe trank. Der Direktor hätte besser daran getan, uns das Geld zu schicken, bemerkte Riccardo lachend. Auch ich machte ein paar Scherze, doch etwas schnürte mir den Magen zu, eine unerträgliche Beklommenheit. Ich füllte die Teller, großzügig, heiter, und nahm selbst so gut wie nichts. Es sei immer das gleiche, sagte ich entschuldigend: Wer gekocht hat, hat keinen Hunger.

Es waren gelbe Rosen. Wie gern hätte ich eine in das Knopfloch meiner Jacke gesteckt, um am Dienstag damit ins Büro zu gehen, doch trotz meiner Fürsorge waren sie nach wenigen Stunden verblüht. Ich bedankte mich beim Direktor und sagte, ein Blütenblatt würde ich zwischen den Seiten eines Heftes verwahren, ohne zu erwähnen, in welchem Heft. Jedes Jahr hat er mir zu den Feiertagen Blumen oder Süßigkeiten geschickt, aber es fühlt sich an, als wäre es das erste Mal gewesen. Und doch hat sich scheinbar nichts zwischen uns geändert; fast kommen mir Zweifel, ob er all das, was ich ihn am vergangenen Donnerstag habe sagen hören, wirklich gesagt hat. Ich schaue ihn an, während er diktiert oder telefoniert, und sehe den Gesichtsausdruck, den ich seit Jahren kenne: höflich, aber kühl; und gleichsam unergründlich. Unter der Woche widerstrebt es mir regelrecht, von ihm zu schreiben. Vielleicht aus Scheu, mir ein Urteil über mich selbst zu bilden. Seit einiger Zeit kommt mir alles an mir verwerflich vor. Ich sage mir immer wieder, dass ich nichts Schlimmes tue, aber es hilft nicht. Kaum bin ich morgens im Büro, ruft er mich an und sagt: »Ich bin hier«, ich höre seine Stimme jenseits der Zimmerwand, die uns trennt, und ich fühle mich zum ersten Mal im Leben beschützt. Heute Morgen hat er mich zu sich bestellt, und als ich in sein Arbeitszimmer trat und fragte, was er wünsche, antwortete er: »Sie sehen.« Wir mussten lachen. Das ist neu: Wenn wir zusammen sind, lachen wir oft, und ich vergesse alles andere und bin unbeschwert. Die Arbeit hält unseren Austausch in ständigem Fluss, und kaum betritt jemand den Raum, fahre ich erschreckt herum, aus Furcht, jemand könnte unseren heimlichen Dialog bemerken: Eine ebenso verstörende wie verlockende Vorstellung. Von Anfang an hatte ich im Büro eine privilegierte Stellung, nicht nur, was meine Zuständigkeiten anbelangt, sondern auch, weil ich, anders als meine jüngeren, ledigen Kolleginnen, auf meine Erfahrung als Familienmutter zurückgreifen kann. Ich wünschte, sie würden mich heute anders sehen, mich vielleicht sogar ein wenig fürchten, wie eine leidenschaftlich von jemandem geliebte Frau, der ihr keinen Wunsch abschlägt, und sei er unrecht.

Ich habe nur wenige Minuten zum Schreiben und muss sehr vorsichtig sein, denn heute Morgen wollte Riccardo das Schubfach öffnen, in dem ich zurzeit das Heft verstecke, weil er nach Kinderfotos suchte, die er Marina schenken will. Das Schubfach war verschlossen, und auch Michele wunderte sich darüber. Zuerst behauptete ich, ich wisse nicht mehr, wo der Schlüssel sei, doch dann musste ich es öffnen, denn sonst hätte Riccardo es aufgebrochen. »Was ist denn das für ein Heft?«, fragte er sogleich, und um ihn abzulenken, tat ich so, als sei ich verärgert, Marina diese Fotos zu überlassen.

Heute war Sabina da. Mirella war schon aus dem Haus, und Sabina wollte ihr ein paar Vorlesungsunterlagen dalassen. Sie wandte sich gerade zum Gehen, als ich sie in der Tür zurückhielt. »Wir müssen kurz miteinander reden, Sabina«, sagte ich. »Ich weiß, dass du alles über Mirella und diesen Anwalt, diesen Cantoni, weißt.« Sabina ist ein hochgewachsenes, üppiges, brünettes Mädchen. Sie ist sehr klug, aber wortkarg. Sie wisse nichts, erwiderte sie. »Ich dachte mir schon, dass du das sagen würdest«, antwortete ich, »wie denn auch nicht. Aber du weißt trotzdem Bescheid, und darum möchte ich mit dir reden. Ich kann Mirella keine Ratschläge erteilen; du schon. Du musst mit ihr sprechen. Ihr sagen, dass die Leute schon reden. Gestern rief mich eine Freundin an und fragte, ob es stimme, dass Mirella verlobt sei. Du bist ihre Freundin, du musst sie zur Vernunft bringen.« Ich wollte hinzufügen: »Sag ihr wenigstens, dass sie sich an der Straßenecke absetzen und sich nicht vor der Haustür abholen lassen soll«, doch das konnte ich nicht. Ich muss mich zwischen Vertraulichkeit und Unnachgiebigkeit entscheiden. »Sag ihr, es wird ihr leidtun«, sagte ich. »Ist gut, Signora«, erwiderte sie. Sie wandte sich zur Tür, und ihre Eile reizte mich. Ich legte meine Hand auf die Klinke, um zu verhindern, dass sie mir entwischt. »Du kennst ihn, stimmt’s?«, fragte ich. Sie nickte. »Wie ist er? Sag schon: Wie ist er?«, bohrte ich. Verunsichert stand sie da. »Ich mache mir Sorgen um Mirella, verstehst du? Um ihr Glück.« Sabina musterte mich schweigend; und ich bereute es, sie zur Rede gestellt zu haben. Noch nie zuvor hatte ich die Entfremdung zwischen Mirella und mir so stark empfunden; gerade wollte ich die Tür öffnen und Sabina gehen lassen, als sie bemerkte: »Mirella wird nie besonders glücklich sein, Signora, dazu ist sie zu klug.« »Mit zwanzig sind alle klug«, sagte ich lächelnd, »je älter man wird, desto schwerer tut man sich damit. Aber vielleicht lernt man dafür, glücklich zu sein.« Sie starrte mich mit beklommener Gleichgültigkeit an und blieb stumm. »Na los, geh schon«, sagte ich. »Ich werde Mirella ausrichten, dass du hier gewesen bist und dass sie dich anrufen soll, in Ordnung?« Unwillig warf ich die Tür hinter ihr zu.

Inzwischen kommt mir die Wohnung wie ein Käfig vor, wie ein Gefängnis. Doch zugleich würde ich am liebsten alle Türen, alle Fenster verriegeln und gezwungen sein, Tag für Tag hier drinnen zu bleiben. Ich sollte im Büro um ein paar Tage Urlaub bitten, vielleicht wäre das gut. Michele wollte mit mir ins Kino gehen, doch ich sagte, ich würde lieber ein wenig mit ihm allein zu Hause sein. Er war verstimmt, gab aber meinem Wunsch sofort nach. Hätte er mich gefragt, was mit mir los sei, was mich so nervös mache, hätte ich ihm womöglich alles gestanden und ihn um Hilfe gebeten. Wir setzten uns ans Radio. Ich bin keine Musikkennerin wie Michele, doch heute hat Wagner auch mich tief bewegt. Während ich der Musik lauschte, fühlte ich mich stark, geradezu heldenhaft, zu äußerstem Widerstand und zu größten Opfern bereit.

Gestern Nachmittag war ich noch einmal im Büro, aber das war ein Fehler: Die Einsamkeit, die uns umgab, war nicht mehr einladend, sondern tückisch. Er küsste mir die Hände und flüsterte: »Valeria …, Valeria …«, und der Klang meines Namens verstörte mich. Inzwischen sind die Tage lang, die Sonne drückte gegen die Fenster. Ich sagte: »Ich sollte besser nicht mehr kommen, Guido.«

Wir redeten zwei Stunden lang, und weil ich darauf beharrte, ihn am nächsten Samstag nicht wiedersehen zu wollen, gestand ich, ohne es zu wollen, wie viel mir diese Stunden bedeuten. Aber ich blieb standhaft; also beschlossen wir, uns am Dienstag nach Büroschluss in einem Café zu treffen, als wäre es ein Abschied vor einer Reise. Er wollte mich nach Hause bringen und weil ich ihn nicht vor den Kopf stoßen wollte, willigte ich ein. Er fuhr langsam und hin und wieder drehte er sich zu mir und blickte mich an, als wollte er sich etwas einprägen, das bald nicht mehr da wäre. Ich ließ es zu. Bevor wir in unsere Straße einbogen, sah er mich fragend an, unsicher, ob er weiterfahren oder anhalten sollte. Ich bedeutete ihm, weiterzufahren, es wäre sowieso nur dieses eine Mal. Dann stieg ich eilig aus und widerstand der Versuchung, dem davonfahrenden dunklen Wagen mit den Augen zu folgen.

Ich hastete die Treppen hinauf, schloss die Wohnungstür hinter mir und atmete tief durch. Es waren bereits alle zu Hause, und ich war froh darüber wie als Kind, wenn ich von der Beichte zurückkam und meine Mutter wiedersah. Ich bat Mirella, daheimzubleiben, ich sagte ihr, ich fühlte mich nicht wohl. Sie habe sowieso schon beschlossen, nicht mehr auszugehen, entgegnete sie. Michele war schweigsam und abwesend. Solange er nichts von seiner Filmskizze hört, ist das kein Wunder; ich versuchte ihn aufzumuntern und sagte, alles würde gut werden, das hätte ich im Gefühl.

Ich habe Clara angerufen, um zu sagen, dass ich sie gern besuchen würde, und sie hat mich zum Mittagessen eingeladen, doch einen Tag haben wir noch nicht ausgemacht. Ich versicherte ihr meine Dankbarkeit für all das, was sie für uns tut, und sagte noch einmal: »Hoffen wir das Beste.« Eigentlich habe sie keine großen Hoffnungen, entgegnete sie, doch ich solle Michele nicht entmutigen, es gebe noch etliche Hebel, an denen sie ziehen wolle. »Micheles Skizze hat einen originellen Ansatz, findest du nicht?« Ich antwortete ausweichend: Ich wollte nicht zugeben, dass ich keine Ahnung hatte. »Natürlich müsste man es vollkommen umschreiben«, fuhr Clara fort, »aber mit den jetzigen Korrekturen könnte es schon gehen. Die Handlung ist allerdings ziemlich düster und ganz schön anrüchig.« »Stimmt …, richtig …«, sagte ich. »Aber das ist ja auch ihre Stärke, ihr Reiz«, wandte sie ein. »Dieser Mann, der sich bei jeder Frau als ein anderer ausgibt, ist wirklich gelungen. Und dann, als er in diese verrufene Straße geht, und auch die Szene danach, als er nach Hause kommt und die Frau zu ihm sagt: ›Ich habe dir deine Suppe warmgehalten‹ … Da gibt es fantastische Ideen, man könnte einen großartigen Film daraus machen. Aber ich fürchte, daraus wird nichts, kein Produzent hat den Mut dazu. Ich habe Michele geraten, das Ganze ein bisschen aufzulockern, doch er sagt, das sei völlig unmöglich, und im Grunde hat er recht: Gerade dieser Wahn, diese sexuelle Obsession macht seine Figur ja aus. Wirklich zu schade.« Michele sei fürs Kino sehr talentiert, schob sie nach; und sie sagte noch einmal: »Zu schade.«

Als Michele nach Hause kam, erzählte ich ihm nicht, dass ich mit Clara gesprochen hatte.

Heute Abend lief die Marcellini mit der Postmappe an meinem Schreibtisch vorbei und maulte: »Der Direktor will schon gehen, und der Brief ist noch nicht zur Unterschrift fertig. Aber woher sollte ich das auch wissen?« Ich sagte nichts und senkte den Blick auf meine Papiere: aus Angst, man könnte mir ansehen, dass er das Büro früher als sonst verließ, um sich mit mir zu treffen. Mir war, als wüssten es sämtliche Kollegen, als schwänge in jedem an mich gerichteten Wort eine Anspielung mit. Ich tat so, als machte ich mir Notizen, gab mich überaus geschäftig und verteilte überflüssige Aufgaben, nur um den Anschein zu geben, dass ich nicht die geringste Eile hatte und voraussichtlich bis spät im Büro bleiben würde. Ich wartete sogar darauf, dass der Direktor sich von mir verabschiedete und wie üblich noch ein paar letzte Anweisungen gab. Ich hatte beschlossen, ihm zu sagen: »Ich komme nicht«, und diese Entscheidung beruhigte mich. Gebannt lauschte ich auf seine Schritte, auf das Geräusch seiner Tür. Nichts. Schließlich ging ich zu seinem Arbeitszimmer: Es war leer und dunkel. Ich fragte den Bürogehilfen, ob der Direktor bereits gegangen sei, und er bejahte, in seinem üblichen gleichgültigen Feierabendton. Um ihn nicht warten zu lassen, verließ ich, von plötzlicher Eile gepackt, das Büro.

Er saß ein wenig abseits an einem Tischchen. Und während ich verlegen auf ihn zuging und das Gefühl hatte, alle Spiegel würfen mein Bild zurück, alle Lichter und Blicke wären auf mich gerichtet, wirkte er so ruhig und selbstsicher, dass ich mich fragte, wie viele andere Male er in einem Café auf eine Frau gewartet hatte. Bis zu diesem Tag hatte ich mich noch nie mit einem Mann in einem Café getroffen.

Die Einrichtung des Cafés ist modern: Satin, Skulpturen, weiche Teppiche. Es schmeichelte mir, dort zu sein, aber zugleich war mir etwas unbehaglich wegen meines Kleides. Betrübt stellte ich fest, dass ich einen solchen Ort seit Jahren nicht mehr betreten hatte, Guido dagegen schien sich dort wie zu Hause zu fühlen: Er bestellte einen komplizierten Aperitif und gab dem Kellner minutiöse Anweisungen. Ich bestellte einen Wermut, den ich nicht anrührte. Ich könne ihn außerhalb der Bürozeiten nicht treffen, sagte ich zu Guido, auch samstags nicht, nie mehr. Nach einem nachdenklichen Schweigen fragte er, ob er mich am vergangenen Samstag durch irgendetwas verstimmt habe. Ich verneinte. Er blickte mich an, wie um zu sagen: »Was dann?« »Es geht nicht«, wiederholte ich kopfschüttelnd, doch in Wirklichkeit wusste ich selbst nicht, warum. Ich wusste nur, dass es einen Grund gab, auch wenn ich ihn nicht mehr benennen konnte. Ich dachte an Michele, an die Kinder, doch ich empfand keinerlei Reue, ich war vollkommen ruhig. Er nahm meine Hand und wiederholte noch einmal, er könne nicht ohne mich sein.

Seine sanften, einnehmenden Worte erreichten mich wie durch Glas. Eine Glasscheibe trennte mich von allem. Ich betrachtete mich in einem Spiegel neben mir und dachte: »Vielleicht ist es das Alter.« Dagegen aber sprach meine innere Gewissheit, jung zu sein und, trotz allem, an der Schwelle zu einer glücklichen Zeit zu stehen. Guido redete von sich, und was er sagte, hätte ich ebenso gut über mich sagen können. Ich fragte mich, ob er ehrlich ist und ob ich selbst es bin. Micheles Filmidee fiel mir ein, doch die Feindseligkeit, die ich gestern Abend nach dem Telefonat mit Clara gegen ihn verspürt hatte, war verflogen. Oder vielleicht bemäntelte ich meine Feindseligkeit mit einem Gefühl der Missbilligung, das ich mit meinem Verzicht bekräftigen wollte. »Es ist nicht möglich«, wiederholte ich, in der vagen Hoffnung, Guido könnte mir das Gegenteil beweisen.

Gemeinsam verließen wir das Café, und ohne mich erst zu fragen, ob er mich begleiten dürfe, führte er mich zu seinem Wagen, der unweit in einer Seitenstraße parkte. Erneut bemerkte ich, wie er sich, während wir nebeneinander hergingen, immer wieder umblickte. Mir war es gleich, mit ihm gesehen zu werden. Fast wünschte ich es, ich weiß nicht, ob als Befreiung oder als Bestrafung. Im Auto war mir unendlich wohl, ich war froh: Ich fragte mich, wieso ich auf das einzig Beglückende in meinem Leben verzichten sollte, es kam mir närrisch vor. Langsam fuhr er mich nach Hause, zuerst am Fluss entlang und dann über einen langen Umweg durch die Peripherie. Geschmeidig glitten die Reifen über den glatten Asphalt, der Motor raunte sacht. In Guidos Gegenwart fühlte ich mich beschützt, es war schön, in den breiten, weichen Polstern zu sitzen, vor den leuchtenden Zifferblättern des neuen Wagens, und ich war so entspannt, dass ich hätte einschlafen können. Es kostete mich große Überwindung zuzugeben, dass es nicht möglich ist. In einer einsamen Straße stoppte er den Wagen und schaltete den Motor ab. Einen langen Augenblick saßen wir Hand in Hand da, ohne uns anzusehen oder etwas zu sagen. In der Stille war das Zirpen der Grillen zu hören; ich fühlte mich in die Zeit zurückversetzt, als wir die Sommer im Veneto verbrachten. Ich war damals ein kleines Mädchen, und die Villa gehörte noch uns. Seitdem hatte ich mich nicht mehr so friedvoll und geborgen gefühlt. »Es ist nicht gerecht, Valeria, es ist einfach nicht gerecht«, sagte er. »Finden Sie nicht, dass uns auch etwas zusteht?« Ich blickte ihn an und flüsterte verzweifelt: »Ja.« Ich wollte nicht nach Hause zurückkehren, und zugleich drängten mich die leuchtend grünen Uhrzeiger auf dem Armaturenbrett zu gewohnter Eile. Ich wusste weder für wen noch für was ich nach Hause zurückkehren sollte; aber ich wusste, dass ich zurückkehren musste, und dieses unerbittliche, absurde Pflichtgefühl erfüllte mich mit heftiger Bitterkeit. »Geben Sie mir Zeit, mich an die Vorstellung zu gewöhnen, wieder allein zu sein und nichts mehr zu besitzen. Aber sehen wir uns doch wenigstens samstags.« Er sagte, mit der Zeit würde er verstehen. »Ist gut«, lenkte ich ein und mir war, als zwänge mich ein geheimnisvolles Gesetz, das mich zu Abwehr und Verzicht verurteilte, ausgerechnet ihm etwas vorzuspielen, dem einzigen Menschen, der mir das Gefühl gab, ich könnte aufrichtig mit ihm sein.

Kaum war ich zu Hause, ging ich geradewegs in Mirellas Zimmer, die Schlüssel noch in der Hand. Getrieben von der unsinnigen Furcht, sie hätte mich aus dem Wagen steigen sehen.

Ich war drauf und dran, ihr zu sagen, dass eine anständige Frau sich so verhält wie ich, sich nur auf eine Unterhaltung einlässt, um zu sagen: »Es reicht«, »Es ist nicht möglich«, selbst wenn sie leidet, selbst wenn sie das Recht hätte, sich anders zu verhalten, selbst wenn sie ihr ganzes Leben für andere geopfert hat. »Für dich«, wollte ich sagen, und dieses Bewusstsein gärte in mir und schlug in Bosheit um. »Gehst du nicht aus?«, fragte ich. Über die Bücher gebeugt saß sie da und fuhr sich, wie es ihre Angewohnheit ist, mit den Fingern durchs zerzauste Haar. »Nein«, erwiderte sie. Sie blieb bereits seit einigen Abenden zu Hause. »Vielleicht hast du es ja jetzt verstanden«, stichelte ich, um sie zum Reden zu bringen: »Du hast von selbst eingesehen, dass manche Dinge unmöglich sind.« »Nein«, antwortete sie energisch, »das ist es nicht. Sandro ist in New York.« »Na, ein Glück«, rief ich. Dann verbat ich ihr, seinen Namen in meiner Gegenwart auszusprechen, als wäre er ihr Verlobter oder ihr Ehemann. »Mama, bitte, sag heute Abend nichts gegen ihn, ich bitte dich«, fiel sie mir scharf und eindringlich ins Wort. »Er kommt morgen wieder. Er sitzt bereits im Flugzeug und ist gerade über dem Ozean.« Leise schob sie nach: »Ich habe Angst.«

Wir schwiegen. Neben ihr stand ein vor Zigarettenstummeln überquellender Aschenbecher und vor ihr, auf das umgeklappte Armband gestützt, ihre alte Uhr aus Schulzeiten. Ich trat ans Fenster und blickte hinaus. »Es geht nicht«, wiederholte ich in Gedanken an Guido. Ich hätte die ganze Nacht an diesem Fenster gestanden und für sie den Himmel abgesucht, wenn sie mich darum gebeten hätte. Die Nacht war sternklar und ruhig, man konnte die Flugzeuge mit ihren Blinklichtern vorüberziehen sehen, die fröhlich blinzelten wie verschmitzte Augen. »Mach dir keine Sorgen«, murmelte ich. »Das Wetter ist gut.«

Seit einiger Zeit sehe ich die Vergangenheit häufig an mir vorüberziehen. Ich lese alten Papierkram, Gedichte, die ich im Internat geschrieben habe, und vernachlässige das Heft: Vielleicht, weil ich nicht den Mut habe, mich der Gegenwart zu stellen. Abends, wenn die anderen im Bett sind, lese ich noch einmal die Briefe, die Michele und ich einander in unserer Verlobungszeit schickten oder die er mir aus Afrika schrieb. Ich habe sie alle noch einmal gelesen, und dennoch, ich weiß nicht warum, kommt es mir vor, als hätte nicht Michele sie geschrieben, sondern ein mir weniger vertrauter Mensch. Guido zum Beispiel. Tatsächlich rede ich mit Guido, während ich sie lese, und mache ihm bitter bewusst, wie zerbrechlich die Liebe ist, fast so, als hätte ich diese Illusionen, die am Ende nicht Wirklichkeit geworden sind, mit ihm und nicht mit Michele geteilt.

Allmählich haben sich alle daran gewöhnt, dass ich abends lange aufbleibe. Vielleicht halten sie es für eine jener kleinen Marotten, die man mit dem Alter entwickelt. Ich bin es, die sich nicht traut, von ihrer Freiheit Gebrauch zu machen, ich sage, ich muss aufbleiben, um zu arbeiten oder zu bügeln, oft tue ich das auch und genieße es fast, auf das Tagebuch zu verzichten. Manchmal bleibe ich lange wach, ohne irgendetwas zu tun, ich sitze in einem bequemen Stuhl, male mir Reisen aus, die ich gerne unternehmen würde, Worte, die ich sagen würde. Ich habe nur selten die Gelegenheit, mich mit jemandem zu unterhalten; ich würde gerne mit Michele reden, ihm alles gestehen und ihm begreiflich machen, dass ich nur deshalb eingewilligt habe, mich auch heute Abend mit Guido im üblichen Café zu treffen, weil ich das Bedürfnis hatte, mit jemandem zu reden; über die Zerrissenheit und die Gefühle, die er in mir auslöst. Doch der Einzige, der sich für mein Leben interessiert, ist ausgerechnet der, dem ich widerstehen sollte. Michele ist nach wie vor angespannt, abends geht er häufig zu Clara und wartet noch immer auf eine endgültige Antwort; auch Riccardo scheint seine gute Laune abhandengekommen zu sein, er ist fahrig, geht bei jeder Kleinigkeit in die Luft, und Mirella ist keinen Moment mehr zu Hause, seit dieser Mann zurück ist. In den ersten Jahren meiner Ehe war mir, als könnte ich nicht all das geben, was die anderen von mir verlangten; vielleicht war ich damals weniger mitfühlend oder weniger freigiebig. Wenn ich heute in der stillen, leeren Wohnung bin, kommt mir meine Mutter in den Sinn, die stundenlang dasitzt und stickt, versunken in ihre Erinnerungen. Ich hielt das für eine Eigenart alter Leute, denen nichts mehr bleibt, als ihren Tagträumen nachzuhängen, doch vielleicht stimmt das nicht. Also reiße ich mich aus meinen Gedanken, gehe ins Bett, um mich aufzuwärmen, und schmiege mich an den schlafenden Michele.

In fast allen Briefen, die er mir aus Afrika schrieb, schwingt ein Vorwurf mit. Das war mir nicht in Erinnerung geblieben und es überraschte mich. Vielleicht beklagte er sich, ich würde ihn vernachlässigen, weil er so fern von der Heimat und der Familie war: Er warf mir vor, nicht liebevoll zu sein. Ich schrieb seine Bedrückung dem Gemütszustand all jener zu, die im Krieg sind und ihre Angst vor dem Tod hinter der Furcht verbergen, die Gefühle, die ihnen am kostbarsten sind, könnten sterben. In meinen Briefen machte ich ihm einen scherzhaften Vorwurf daraus; ich erinnerte ihn an die Sorgen, die ich um ihn ausstand, an meine materiellen Schwierigkeiten, an das harte Leben, zu dem ich gezwungen war. Doch am Ende versicherte ich ihm stets meine Ausdauer, unsere gute Gesundheit, und um ihn aufzumuntern, erzählte ich ihm ausführlich, was die Kinder sagten und taten, derweil er immer nur von sich sprach. Jetzt ist mir aufgefallen, dass er häufig von einer Gefahr schrieb, die uns drohte und die abzuwenden er entschlossen sei. Ich antwortete, er solle nur zurückkehren, dann wäre jede Gefahr abgewendet, die Kinder wären wieder in Sicherheit, das sei das Einzige, worum wir uns sorgen müssten. In einem Brief schrieb er: »Ich will Dich wiederfinden, meine Valeria. Manchmal kann ich Dich nicht mehr sehen: Du hast Dich hinter den Kindern versteckt.« Als ich gestern Abend diese Worte las, überlief mich ein kalter Schauder, ich musste aufstehen, mir ein Tuch holen und um die Schultern legen. Dann las ich gebannt weiter. Oft entwarf Michele Pläne für seine Rückkehr: Er schlug mir eine kleine Reise vor, sprach sogar davon, Riccardo auf ein Internat zu schicken, damit ich mehr Zeit für ihn hätte. Er sagte, wir würden zusammen Konzerte besuchen, er wolle ein Abonnement kaufen, und im kommenden Sommer würden wir jeden Sonntag ans Meer fahren, schwimmen, fröhlich sein. Die gleichen Dinge, die wir uns als Verlobte vorgenommen hatten und dann doch nicht hatten tun können, weil sie zu kostspielig waren und vor allem, weil ich keine Ruhe hatte, wenn ich die Kinder alleinließ. Die letzten Briefe waren so leidenschaftlich, dass mich der Gedanke, sie stammten von Michele, erröten ließ.

Ich versuchte mich an seine Rückkehr zu erinnern. Mit meinen Eltern, seinem Vater und den Kindern fuhr ich zum Bahnhof. Sein Gesicht war braungebrannt, er war magerer, schien verändert. Wir nahmen unser vorheriges Leben wieder auf, das immer schwieriger wurde. Ich hatte viel im Haus zu tun, und Michele war nett zu mir und beklagte sich nie. Ich weiß noch, dass ich, weil er wieder zurück war, seine Briefe mit einem Gefühl der Erleichterung verschnürte und sie in einen Koffer zu den anderen steckte. Es ist seltsam, sie jetzt alle zusammen zu sehen: Als wären die beiden Menschen, die unsere ersten Briefe als Verlobte schrieben, andere gewesen als die während Micheles Afrikaaufenthalt, und gänzlich andere als die, die wir heute sind. Heute schreiben wir uns keine Briefe mehr. Wir gewöhnten uns daran, uns für unsere innigen Gefühle wie für eine Sünde zu schämen; bis sie am Ende tatsächlich dazu wurden. Michele hält mich sowieso für kühl, wenig zugewandt, und hat sich die schlechte Angewohnheit bewahrt, sich vor den Kindern oder vor Freunden scherzhaft darüber zu beklagen. Anfangs war mir das peinlich, doch irgendwann habe ich angefangen, darüber zu lachen. Dennoch gab es eine Begebenheit, die ich wohl nie werde vergessen können. Es ist schon viele Jahre her. Damals blieb ich für gewöhnlich abends lange im Kinderzimmer, bis Mirella eingeschlafen war: Sie war noch sehr klein, aber schon dickköpfig, und hatte sich angewöhnt, mit aller Kraft gegen die Messingstreben ihres Bettes zu schlagen, wenn ich ihr keine Gesellschaft leisten wollte. Michele blieb immer allein im Wohnzimmer und las, und eines Abends, als ich mich endlich zu ihm gesellte, machte er mir herbe Vorwürfe. Ich kam aus dem Zimmer, das bereits dunkel war, damit die Kinder leichter einschliefen; sein Vorwurf traf auf meine schläfrige Erschöpfung und verletzte mich. Offenbar waren meine Nerven zum Zerreißen gespannt, denn ich weiß noch, dass ich heftig reagierte, ihm vorhielt, er wisse den Liebesbeweis, den ich ihm erwies, indem ich mich um die Kinder kümmerte, nicht zu würdigen. Er sagte, das sei keine Liebe, ich würde mich irren, er sagte, er habe mich geheiratet, damit ich seine Gefährtin sei, nicht das Kindermädchen; diese Worte kränkten mich, und ich brach in Tränen aus. Als er mich weinen sah, kam Michele zu mir, nahm mich zärtlich in den Arm und tröstete mich. Er sagte: »Verzeih mir«, und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wie um sich wieder zur Vernunft zu rufen. Das war, bevor er nach Afrika aufbrach, doch dieser Abend ist mir immer klar im Gedächtnis geblieben, obgleich ich immer versucht habe, ihn wie die Briefe im Koffer in den hintersten Winkel meiner Erinnerungen zu verbannen.

Es ist seltsam: Seit einiger Zeit fühle ich mich Michele gegenüber für etwas schuldig, das ich mir, ganz im Gegenteil, eigentlich immer hoch angerechnet habe. So geht es mir vor allem, wenn ich nachts hier allein bin, oder wenn Guido im Büro auf mich einredet und ich wieder sage, dass es nicht möglich ist. Ich habe die Briefe vor allem deshalb noch einmal gelesen, weil ich mir darüber klarwerden wollte, warum es nicht möglich ist; und das war ein Fehler. In dem Koffer sind neben den Briefen einige Erinnerungen der Kinder verstaut, die mich immer zutiefst rührten. Doch heute erscheinen mir der Stoffbär, mit dem Mirella als kleines Mädchen spielte, oder Riccardos erste Schuhe wie nutzlose Gegenstände, sie sprechen nicht mehr zu mir, sie sind Staubfänger. Einzig Micheles Briefe sind noch lebendig, jedoch an eine Frau adressiert, die keine Ähnlichkeit mit mir hat und in der ich mich nicht wiedererkenne. Aber ausgerechnet während des Lesens habe ich jede Hoffnung verloren, zu begreifen, warum es nicht möglich ist, ich habe beinahe das Gefühl, wenn ich Guido morgen wiedersehe, werde ich es nicht noch einmal wiederholen können, ohne zu lügen.

Es fällt mir immer schwerer, mich mit meinen Kindern zu verstehen. Gestern ist Riccardo mit einem Bleistift und einem Zettel in die Küche gekommen und hat mich gefragt, was die monatlichen Kosten einer kleinen Familie wären. Argwöhnisch fragte ich zurück, wieso er das wissen wolle. Er erwiderte, er wolle spaßeshalber ausrechnen, ob er heiraten könne, bevor er nach Buenos Aires gehe. Ich bin zurzeit sehr angespannt; ich sagte, er solle lieber ans Studieren denken, ich sähe ihn nur selten am Schreibtisch sitzen, und wenn er so weitermache, würde er nicht einmal sein Examen schaffen. Mir rutschten ein paar Bemerkungen gegen Marina heraus, und er ging davon und sagte, ich hätte nie Zeit oder Lust, mich um ihn und seine Probleme zu kümmern. Das war so ungerecht, dass er hinterher, als ich auf dem Weg hinaus war, zu mir kam und mir in die Jacke half, um es wieder gut zu machen.

Als ich ins Büro kam, setzte ich mich vor Guidos Schreibtisch und sagte: »Ich bin müde.« Offenbar wirkte ich niedergeschlagen, denn er sah mich zärtlich an und fragte besorgt: »Was kann ich tun? Gibt es etwas, das ich tun kann?« Seine Stimme hatte den warmen Ton eines ergebenen Freundes. Das Zimmer war einladend: Das Nachmittagslicht fiel durch das junge Laub der Kletterpflanze, die das Fenster umrankt; die Lampe ist grün, grün ist auch das Leder der Polsterstühle: Ich fühlte mich wie auf einer grünen Insel. »Nein, nichts«, sagte ich mit getröstetem Lächeln, »danke. Hier geht es mir gut.« Oft bin ich versucht, mit ihm über die Zukunft von Riccardo, von Mirella und Cantoni zu sprechen, ihn um Rat zu fragen. Aber das will ich nicht; ich will nicht auch hier zu der werden, die ich zu Hause bin. Ich will, dass er mich anders sieht.

Ich frage mich, wie mich Mirella sieht. In manchen kurzen Momenten, wenn wir vergessen, Mutter und Tochter zu sein, eint uns absolutes Vertrauen. Dann entfernt sie sich wieder von mir, als fürchte sie eine Ansteckung. Heute fragte sie mich: »Was hast du zu Sabina gesagt?« Sie klang, als wäre ich die Jüngere, diejenige, die Fehler macht, und manchmal scheint es mir wirklich so. Ich antwortete, ich hätte die Pflicht, mich um ihr Verhalten zu sorgen, und solange sie zu Hause lebe, müsse sie meine Autorität respektieren. »Solange ich zu Hause lebe …«, wiederholte sie. »Und was hat sie dann für einen Wert? Auf was stützt sich diese Autorität, die einen Straßennamen, eine Hausnummer braucht?« Mirella hält immer komplizierte Reden, das ist ihre Art, sich mir überlegen zu fühlen. Ich sagte, sie müsse nur heiraten, dann sei sie von dieser Autorität befreit; doch was dann komme, würde nicht leichter werden. Sie schüttelte den Kopf und sagte, wir würden einander niemals verstehen. »Für dich gibt es nur die Autorität der Familie«, sagte sie. »Das ist das Einzige, was man dich fraglos zu respektieren gelehrt hat, durch Bestrafung und Angst.« »Und was respektierst du?«, fragte ich sie spöttisch. »Zuerst einmal mich selbst«, entgegnete sie ernst. Sie sagte, ich sei Vorurteilen verhaftet, an die ich vielleicht nicht einmal selbst glaubte. Ich erwiderte, immerhin hätte ich stets bezahlt, was ich diesen Vorurteilen schuldig sei. »Genau«, sagte sie, »ich will nicht für etwas zahlen, mit dem ich nicht einverstanden bin. Gerade heute sprach ich beim Essen mit Papa darüber, hast du das mitbekommen? Wir waren einer Meinung.« Es stimmt: Sie sagten Dinge, die auch mir manchmal durch den Kopf gehen, doch sobald sie jemand ausspricht, traue ich mich nicht, ihnen zuzustimmen. Michele zum Beispiel hat stets gewusst, wie er als Mann zu sein hat: Das hat er sein ganzes Leben lang bewiesen. Doch heute sagte er, man müsse sich auf die Qual einlassen, ein neues Bewusstsein zu suchen und es durch diese Suche zu entwickeln. Das muss er von Clara haben. Ich will, dass er endlich erfährt, was aus dieser Skizze wird, und aufhört, so häufig zu ihr zu gehen. Wenn er so redet, macht er mir Angst; auch Mirella macht mir Angst. Manchmal glaube ich, Riccardo und ich sind die einzigen normalen Menschen.

Ich bin so erschüttert, dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Ich warte auf Mirella, es ist Mitternacht; ständig gehe ich zum Fenster, ich kann einfach nicht stillhalten. Ich bin mit dem Taxi aus dem Büro gekommen, weil ich hoffte, ich könnte noch mit ihr reden, bevor die anderen nach Hause kämen; doch Riccardo war schon da und sagte, sie habe angerufen und gesagt, sie würde nicht zum Abendessen kommen. Ich war so verstört, dass ich kurz davor war, ihm zu eröffnen, was ich erfahren hatte. Aber ich konnte mich beherrschen und schaffte es auch, vor Michele Stillschweigen zu bewahren. Ich will mit ihr sprechen, bevor ich etwas unternehme.

Heute war ich gerade in Guidos Zimmer, als er telefonierte; er sagte zu jemandem, ehe er sich entscheide, wolle er Barilesis Meinung hören, aber der sei gerade nicht in Rom. »Cantoni ist auch nicht in Rom«, fügte er hinzu. Ich machte ihm ein Zeichen, das er jedoch nicht verstand. Als er auflegte, sagte ich leicht unbehaglich, Cantoni sei wieder zurück. »Ah, ein Glück«, sagte er und fügte an: »Angeblich war er in New York, um sich von seiner Frau zu trennen.«

Ich schrie innerlich auf, war äußerlich aber wie versteinert. »Wussten Sie das?«, fragte er, und ich tat so, als hätte ich ihn nicht gehört, ich verharrte mit dem Stift auf dem Papier, als wäre ich in Gedanken bei dem, was ich schreiben sollte. Vielleicht wäre das der Zeitpunkt gewesen, ihm alles zu sagen, ihn um Hilfe zu bitten. Doch irgendetwas hielt mich davon ab: eine große Fotografie auf dem Schreibtisch, an dem Guido und ich miteinander arbeiten. Sie zeigt eine noch junge Frau mit einer Perlenkette um den Hals, und zwei Kinder, eins rechts, eins links, um die sie ihre Arme gelegt hat. Das Bild steht dort seit so vielen Jahren, dass ich es gar nicht mehr wahrnehme.

Gestern habe ich nicht geschrieben, obwohl es mir gutgetan hätte, um ein wenig Ruhe in meine Gedanken zu bringen. Den ganzen Tag fragte ich mich, wie ich mich Mirella gegenüber verhalten soll; vor allem fragte ich mich, ob es gut wäre, sie vor eine unmissverständliche Wahl zu stellen: »Entweder beendest du jeden Umgang mit diesem Mann, oder du verlässt das Haus.« Dass ich das nicht gleich am Dienstagabend zu ihr sagte, liegt nur daran, dass ich fürchtete, sie könnte auf dem Absatz kehrtmachen und gehen. Ohnehin hat sie es von sich aus vorgeschlagen. Der Anwalt Barilesi hat ihr angeboten, nicht nur nachmittags, sondern ganztags in seiner Kanzlei zu arbeiten; wenn sie das Angebot annähme, würde sie gut fünfzigtausend Lire im Monat verdienen. Das würde zwar kaum zum Leben reichen, aber ich weiß, dass Mirella zu jedem erdenklichen Opfer bereit wäre, um bloß nicht nachgeben zu müssen. Eben das hält mich davon ab, sie vor eine Wahl zu stellen, von der ich bereits ahne, wie sie ausgehen würde. Aus demselben Grund habe ich Michele gegenüber nichts davon erwähnt. Ich habe sogar erwogen, meine Mutter mit ihr reden zu lassen; aber das würde sie nur wütend machen. Es sollte jemand mit ihr reden, der nicht direkt betroffen ist, ein Freund. Es ist traurig, den Kindern so viel von sich gegeben zu haben, um dann festzustellen, dass die einzigen Menschen, in die sie kein Vertrauen haben, ausgerechnet wir sind. Sabina ist die Einzige, auf die sie vielleicht hören würde; doch es kommt mir demütigend vor, ein Mädchen dieses Alters um Hilfe bitten zu müssen, und vor allem bezweifle ich, dass sie darauf eingehen würde. Ermattet von all diesen Ungewissheiten und noch erschüttert von der überhörten Neuigkeit und der Unterredung mit Mirella, packte mich gestern Abend die überwältigende Lust, lange zu schlafen und die Lösung dieses Problems hinauszuschieben. Vor dem Abendessen sagte ich zu Mirella: »Heute Abend verlässt du nicht das Haus, verstanden? Auf keinen Fall.« Ich hoffte, sie würde protestieren, damit die Dinge ihren natürlichen, unvermeidlichen Lauf nehmen könnten. Aber sie erwiderte: »In Ordnung, Mama«, und ging zum Telefon, um ihre Verabredung abzusagen. Und gerade diese ungewohnte Nachgiebigkeit beunruhigt mich: Die Leichtigkeit, mit der sie auf ein kurzes Treffen verzichtet, zeigt, wie fest und dauerhaft ihre Bindung zu diesem Mann ist.

Ihre Gelassenheit am Dienstagabend ließ mich vom ersten Moment an fassungslos und machte es mir unmöglich, ebenso gelassen zu bleiben: Ich stellte mir vor, wie sie behutsam die Wohnungstür öffnete, und aus irgendeinem Grund malte ich sie mir blass aus, mit zerzaustem Haar und fahlen Lippen. Stattdessen kam sie kurz nach Mitternacht zurück und war genauso frisch und ordentlich zurechtgemacht wie bei ihrem Aufbruch. In aller Ruhe schloss sie die Wohnungstür, und als sie mich in der Esszimmertür stehen sah, lächelte sie; doch mein Gesichtsausdruck ließ sie erstarren. Sie verharrte mit der Hand auf der Klinke und blickte mich fragend an. »Komm rein«, gebot ich ihr leise. Scheinbar ruhig ging sie an mir vorbei und wich mir dennoch aus, als fürchtete sie, geschlagen zu werden. Diese Ängstlichkeit entfachte meine Wut: Ich ging auf sie zu und gab ihr eine Ohrfeige. Sie fuhr zusammen und riss die Augen auf, ohne zu protestieren. »Wusstest du, dass er verheiratet ist? Hast du das gewusst?«, fragte ich sie. Sie sah mich entsetzt an, fast bildete ich mir ein, sie würde die Wahrheit nicht kennen. »Wusstest du es?«, bohrte ich schadenfreudig. Mirella hielt sich die brennende Wange und nickte, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ich packte ihren Arm und schüttelte sie heftig. »Schämst du dich nicht? Schämst du dich nicht, es zuzugeben?«, wiederholte ich und schüttelte sie noch immer. Sie zitterte: Ich konnte ihre körperliche Zerbrechlichkeit fühlen und nahm sie als Bestätigung für ihre Schuld. »Es reicht, jetzt reicht es«, sagte ich. »Das lasse ich nicht zu, schäm dich, schäm dich.« Ich war verzweifelt, hörte mich an wie Michele, gab sinnentleerte Worte von mir, doch andere wollten mir nicht einfallen. »Sag mir wenigstens, dass er dich hinters Licht geführt hat. Sag schon, seit wann hast du es gewusst?« »Schon immer«, antwortete sie. Ich ließ ihren Arm los und sank auf einen Stuhl am Esstisch. Nach und nach beruhigte ich mich, doch meine Wut wich einer quälenden Niedergeschlagenheit. »Komm her, Mirella, setz dich«, sagte ich.

Wie beim Essen saßen wir einander gegenüber. Ich habe sie heranwachsen und mich einholen sehen; inzwischen ist sie größer als ich; sie ist eine Frau. »Denkst du denn nicht ab und zu einmal an uns?«, fragte ich. Sie schwieg. »An all die Opfer, all die Entsagungen, die ich für dich auf mich genommen habe – du hast ja keine Ahnung, wie viele.« In diesem Moment dachte ich an Guido, und mir war, als wäre meiner Stimme anzuhören, dass es ein großes Opfer war. »Doch«, entgegnete sie nach einer Pause. »Ich habe dir von Anfang an gesagt, wenn du willst, gehe ich.« Ihr ernster, tieftrauriger Ton entwaffnete mich. »Wo willst du denn hin?«, fragte ich sanft und schüttelte den Kopf. Ohne mich anzusehen, entgegnete sie: »Mach dir um mich keine Sorgen. Sag mir nur, ob du willst, dass ich gehe.« Sie war bleich, ihr war anzumerken, dass sie Angst hatte. »Wärst du dann glücklich, Mirella?«, fragte ich sie und vermied es, hinzuzufügen: »Ohne uns, ohne deine Mutter, ohne all das, was dein Leben bisher ausgemacht hat? Sag, wärst du glücklich?« Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie fast tonlos: »Ich weiß es nicht. Es täte mir sehr leid, euch zu verlassen.« Ihr nüchternes »es täte mir leid« ließ mich widerwillig aufzucken. »Aber vielleicht würde ich mich schnell daran gewöhnen«, fuhr sie fort. »Entscheide du, was ich tun soll. Mach dir keine Gedanken um mich. Denk nur an euch, an Papa.« Ich konnte keine Entscheidung treffen, und das ahnte sie; ich fürchtete sogar, sie legte es darauf an, ihre Ruhe wäre Kalkül. »Sagst du das, weil du glaubst, dir bliebe nichts anderes übrig?«, fragte ich tastend. »Du hättest keine Wahl? Aber es lässt sich doch für alles eine Lösung finden oder zumindest ein größerer Schaden abwenden. Du warst seine Geliebte, nicht wahr?« Sie errötete heftig und antwortete: »Das geht nur mich etwas an.« Abermals verlor ich die Geduld: »Was erlaubst du dir!«, sagte ich. »Schämst du dich nicht, so zu reden?« »Nein«, erwiderte sie fest. »Und ganz egal, wie meine Antwort lautete, es würde nichts ändern. Du kannst mir noch ein paar Monate lang deinen Willen aufzwingen, mich ins Kloster sperren oder aus dem Haus jagen. Dazu hast du jedes Recht, und ich werde mich fügen. So sieht unsere Beziehung nun einmal aus. Alles andere geht nur mich etwas an.« »Moral bedeutet dir also gar nichts?«, fragte ich, niedergeschmettert von ihrer Kälte. Sie schwieg einen Moment; dann sagte sie leise: »Oh, ich mache mir viele Gedanken, glaub mir, ich frage mich ständig, was gut und was schlecht ist. Du wirfst mir dauernd vor, zynisch und kalt zu sein. Aber so ist es nicht. Es ist nicht wahr. Ich bin anders als du, das ist alles. Ich habe es dir schon etliche Male gesagt: Du hast die Möglichkeit, dich an die konventionellen Maßstäbe von Gut und Böse zu halten. Du hast Glück. Ich hingegen muss mir selbst ein Urteil darüber bilden, bevor ich sie annehmen kann.« »Welches Urteil willst du dir mit zwanzig Jahren schon bilden?«, rief ich zornig. »Du musst den Menschen vertrauen, die bereits Erfahrung haben, dich von ihnen leiten lassen.« Sie lächelte. »Wenn das so wäre, würde sich nie etwas ändern, alles würde beständig von einer Generation zur nächsten weitergegeben, ohne besser zu werden, und auf den Marktplätzen würde man noch immer mit Sklaven handeln, meinst du nicht? Ich kann jetzt aufbegehren. Mit vierzig, wenn ich alt bin, kann ich nicht mehr viel ausrichten, dann will ich ein behagliches Leben führen.« Ganz im Gegenteil, hätte ich gern gesagt, gerade mit vierzig begehrt man auf. Doch ich weiß nicht, ob das stimmt, und außerdem ist Mirella so viel belesener als ich, dauernd zitiert sie Namen und Bücher, die mir widersprechen. »Bist du nicht gläubig, Mirella?«, fragte ich sie stattdessen.

Sie zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. Dann sagte sie: »Doch, ich denke schon. Zumindest war ich es bis jetzt. Aber ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll … Jetzt werde ich erfahren, ob mein Glaube stärker ist als manche meiner Vorstellungen und Vorsätze, die die Religion verdammt. Verstehst du? Jetzt muss ich die Religion, die ihr mir als kleines Mädchen auferlegt habt, bewusst akzeptieren. Bisher war es einfach. Jetzt … jetzt ist es ganz anders, sofern wir Religion als ernsthafte Verpflichtung sehen, die unser Handeln bestimmt, und uns nicht damit zufriedengeben, jeden Sonntagmittag zur Messe zu gehen, vielleicht mit einem neuen Hut.« »Und?«, fragte ich ängstlich. Mir war, als würde ihre Antwort mir verraten, ob sie Cantonis Geliebte ist oder nicht. »Auch das geht nur mich etwas an, Mama. Hier kann man dem Beispiel der anderen erst recht nicht ohne Überzeugung folgen.« Ihr ständiges Nachdenken macht mir Angst, vor allem erregt es Mitleid in mir. Es ist sinnlos, so viel nachzudenken, die Tage folgen dennoch achtlos ihrem Lauf. Mirella erscheint mir wie in ein Foltergerät gespannt, das sie zerquetschen wird. Noch einmal versuchte ich, sie zur Besinnung zu bringen, ich riet ihr, diesem Mann einen Brief zu schreiben und ihm mitzuteilen, dass sie ihn nicht mehr wiedersehen wolle. »Danach wird es dir besser gehen, du wirst sehen.« Ich sah mich wieder in dem Café, als ich zu Guido sagte, dass es nicht möglich sei: Und ich fragte mich, ob es mir danach wirklich besser gegangen war.

»Möchtest du, dass ich für dich mit ihm spreche?«, bot ich an. »Du wirst nie den Mut dazu haben, das ist ganz natürlich, als Frau versteht man das. Soll ich? Ich habe schon so oft daran gedacht, zu ihm zu gehen und es ihm zu sagen, um dir zu helfen.« »Er würde dir nicht glauben«, wandte sie lächelnd ein, »und außerdem würde ich es sofort bestreiten.« Inzwischen waren wir aufgestanden, sie bat mich, sie zu Bett gehen zu lassen, sie sei müde. »Hast du daran gedacht, dass du nie eine eigene Familie, eigene Kinder wirst haben können?«, sagte ich zu ihr: »Du zerstörst deine Zukunft für etwas, das sowieso bald vorbei ist, verstehst du? Es endet so oder so. Du wirst niemals glücklich sein.« »Und du, bist du glücklich?«, fragte sie brüsk. Ich hatte Tränen in den Augen, diese Unterhaltung hatte mich aufgewühlt und erschöpft. »Sicher«, antwortete ich nachdrücklich, »ich bin glücklich, bin es immer gewesen, sehr glücklich sogar.« Sie sah mich mit einem so mitfühlenden Blick an, dass ich den meinen am liebsten gesenkt hätte. »Wie gut du bist, Mama!«, rief sie. Mit einer flüchtigen Umarmung sagte sie mir gute Nacht, und ich folgte ihr in den Flur wie eine Bettlerin. »Wieso bist du so hart, so bitter, Mirella?«, murmelte ich. Ich hörte, wie sie die Tür schloss, und kehrte ins Esszimmer zurück. Niedergeschlagen sank ich auf einen Stuhl, verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte den Kopf darauf. Ich stellte mir vor, zum Telefon zu gehen, Guido anzurufen, ihm zu sagen, er solle sofort kommen. Ich stellte mir vor, zu Cantoni zu gehen und mit ihm zu sprechen. Ich konnte es kaum abwarten, dass es endlich Morgen würde und ich etwas unternehmen könnte. Fast bildete ich mir ein, wenn ich mich auf den Beinen hielte, käme er schneller. Doch zugleich bereitete mir der Gedanke, irgendetwas zu unternehmen, Übelkeit und Widerwillen. Ehe ich mich versah, war ich eingeschlafen, und als ich wieder zu mir kam, graute der Tag.

Heute Morgen hatte ich beschlossen, Guido um Hilfe zu bitten, da er Cantoni gut kennt; er solle ihn überzeugen, sich von Mirella fernzuhalten, die noch zu jung ist, um die Bedeutung ihres Handelns zu ermessen. Zwei oder drei Mal betrat ich fest entschlossen sein Zimmer und verschob es dann auf später; ich verließ das Büro als Letzte und hatte ihm noch immer nichts gesagt. Ich fürchtete, er würde sich fragen, was für eine Mutter ich sei, wie ich Mirella erzogen habe, und spürte, dass der Stand meiner Tochter den meinigen, den zu wahren mir ohnehin schwerfällt, schwächen würde.

Ich muss mich endlich entschließen, mit Michele zu sprechen, aber ich traue mich nicht. Er ist seit einigen Tagen so grimmig und schweigsam; ich glaube nicht, dass er noch große Hoffnungen hat, die Filmidee zu verkaufen. Heute sagte er, im Grunde habe Clara nicht alles getan, was sie hätte tun können, und halte ihn womöglich für einen lästigen Bittsteller; unter großer Überwindung gestand er mir schließlich, er habe den Verdacht, sie habe sich gestern am Telefon verleugnen lassen. Michele ist seit einiger Zeit sehr blass, er sieht nicht gut aus. Ich sagte ihm, wenn Clara ihm hätte helfen können, hätte sie das gewiss getan, sie sei eine Freundin aus Kindertagen und habe die Kinder gern, sie kenne sie von klein auf. Nach einer langen Pause sagte er: »Ruf du sie an. Oder geh zu ihr, hör dir an, was sie dir sagt, und frag sie wie nebenbei auch nach ihrem Leben, frag sie, warum sie so beschäftigt ist.« Diese ungewöhnliche Neugier überraschte mich, und ich sah ihn an; es mochte an seiner Blässe liegen, doch zum ersten Mal meinte ich den alten Mann zu sehen, der er in ein paar Jahren sein würde. »Michele, was hast du?«, fragte ich. Er antwortete: »Ich? Nichts«, und seine Lippen schienen zu zittern. Dann kam Riccardo herein, sagte irgendetwas gegen seine Universitätsprofessoren, und wir konnten nicht weitersprechen. Riccardo war zornig, er redete und redete, und ich konnte nicht das geringste Interesse dafür aufbringen. Micheles Aussehen machte mir solche Sorgen, dass ich mich sogar fragte, ob er sich womöglich in Clara verliebt hat. Wenn er einen Anruf von ihr erwartet, fragt er alle paar Minuten, wie spät es ist, genau wie Riccardo, wenn er auf einen Anruf von Marina wartet. Ich dachte an die anrüchige Filmskizze, die er geschrieben hat; meine ständigen Pflichten und Mirella hatten mich so sehr eingenommen, dass ich gar nicht mehr darüber nachgedacht hatte. Doch über gewisse Dinge zu schreiben oder zu reden, ist nun einmal typisch für Menschen, die nicht mehr jung sind, und dieser Gedanke beruhigte mich. Ich stellte mir Michele neben Clara vor: Die Rolle des Verliebten passte nicht zu ihm, und unwillkürlich musste ich über meinen Verdacht lächeln. Ich bin so aufgewühlt in diesen Tagen, dass ich überall Schatten sehe. »Na gut, ich gehe zu Clara«, versprach ich ihm. »Wann?«, fragte er ungeduldig. »Wieso gehst du nicht gleich heute Abend?« Ich rief Clara an, aber sie sagte, abends habe sie immer etwas vor. Ich werde nächsten Mittwoch zum Mittagessen zu ihr gehen. Michele wollte wissen, was Clara über ihn gesagt hatte, doch sie hatte kein Wort über ihn verloren, nicht einmal »schöne Grüße«. Micheles Beharrlichkeit beruhigte mich vollends: Wenn etwas zwischen ihnen wäre, würde er bestimmt nicht seine Frau darum bitten, zu ihr zu gehen. Ich sagte, es sei unwichtig, ob er die Filmidee verkaufen würde oder nicht: Zwar wüsste ich bei einigen Raten nicht recht, wie wir sie zahlen sollten, aber sobald wir sie abbezahlt hätten, wären wir ruhiger, sagte ich ihm, auch wenn ich nicht daran glaube. Inzwischen weiß ich aus Erfahrung: Ist man eine Last los, folgt schnell die nächste. Doch ich weiß auch, dass es dennoch weitergeht. Michele wirkte derart bedrückt, dass ich mich nicht traute, ihm von Mirella zu erzählen. Um ihn aufzuheitern, sagte ich munter, eigentlich könnten wir uns doch zurücklehnen und gleich in den Ruhestand gehen, Riccardo würde uns viel Geld aus Argentinien schicken. Aber Michele konnte nicht darüber lachen, er sagte, er sei nicht einmal fünfzig, bis zu seinem Ruhestand sei es noch lange hin. Er war regelrecht beleidigt, hatte den Scherz nicht verstanden: Als ich ihn spaßhaft umarmen wollte, schob er mich unwirsch von sich. Wenn Männer unleidlich sind, frage ich mich oft, was sie tun würden, wenn sie es nicht nur mit ihrer Arbeit zu tun hätten, sondern, wie jede Frau, mit unzähligen Problemen, die es zu stemmen und zu lösen gilt.

Heute Morgen gegen elf kam der Bürogehilfe in mein Zimmer und übergab mir eine Visitenkarte, auf der stand: Avvocato Alessandro Cantoni. Ich fuhr zusammen, bekam Herzklopfen und überlegte, ob ich ihn so unvorbereitet empfangen sollte. Der Bürogehilfe wartete. »Lassen Sie ihn herein«, sagte ich, dann rief ich ihn zurück: »Lassen Sie ihn in ein paar Minuten herein.« Ich wollte meine Gedanken ordnen, doch mein Kopf war leer. Ich stand auf, ging ein paar Schritte auf und ab, kehrte hastig an den Schreibtisch zurück, holte Kamm und Puderdose aus der Schublade, warf einen Blick in den Spiegel und machte mich kurz zurecht. Kaum hatte ich die Schublade wieder zugeschoben, hörte ich die Stimme des Bürogehilfen sagen: »Treten Sie ein«, und Cantoni erschien.

Er ist ein hochgewachsener, gutaussehender, eleganter Mann mit bestimmtem Auftreten: Sogleich fielen mir seine blauen, warmherzigen Augen auf. Er grüßte mich mit einer höflichen Verbeugung. Kühl bedeutete ich ihm, Platz zu nehmen, und ergriff in einem jähen Anflug von Entschlossenheit die Initiative. »Es war gut von Ihnen, zu kommen«, sagte ich. »Ich hatte Sie ebenfalls anrufen wollen, um für heute oder morgen ein Treffen zu vereinbaren. Ich nehme an, Mirella hat Ihnen von unserem Gespräch erzählt, andernfalls wüsste ich nicht, weshalb Sie mich aufsuchen sollten.« Er nickte, und ich fuhr fort: »Mirella ist ein Kind. Ich bin sicher, Sie sind in sich gegangen und wollen mir mitteilen, dass Sie beschlossen haben, von ihr abzulassen, um sie nicht weiter zu verwirren. Habe ich recht?«, fragte ich in entschiedenem Ton, der nur eine Bestätigung zuließ. »Nein«, erwiderte er ruhig und ebenso entschieden. »Im Gegenteil. Ich bin hier, um Ihnen mitzuteilen, dass ich sie niemals verlassen werde.«

Ich hatte geahnt, dass es keine leichte Unterredung werden würde, doch mit so viel freundlich gelassener Bestimmtheit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte ihn mir anders vorgestellt; zynisch, arrogant vielleicht. Ich fragte mich, wer er wirklich war, und vor allem, was ihn an meine Tochter band. Diese Ratlosigkeit machte mich von neuem kämpferisch: »Sie müssen von ihr ablassen, damit Mirella wieder zur Ruhe kommt. Mirella ist jung; es würde genügen, wenn Sie sich einen Monat lang von ihr fernhielten, sagen wir zwei«, schob ich nach, um ihm einen Stich zu versetzen. Er schüttelte den Kopf und sah mich mit einem vertrauensvollen Lächeln an, das mir missfiel. »Nein, Signora, ich habe lange überlegt und darüber nachgedacht, ich habe nicht Mirellas Alter, ich bin fast fünfunddreißig. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es meine Pflicht ist, zu bleiben.« »Warum?«, fragte ich argwöhnisch, das Wort Pflicht ließ mich aufhorchen. »Weil ich Mirella liebe, Mirella liebt mich, wir wollen zusammenarbeiten, wir haben gemeinsame Pläne, und ich glaube, zusammen könnten wir nicht nur glücklich, sondern auch nützlich sein. Lachen Sie nicht«, fügte er hinzu und ließ meine Züge in einem ungläubigen Ausdruck erstarren, »ich weiß, wenn wir von diesen Dingen sprechen, von Gefühlen und Plänen, sind wir zu Worten gezwungen, die, kaum sind sie ausgesprochen, unbeholfen, abgedroschen und lächerlich klingen. Doch es ist die Wahrheit. Vorher hatte ich nicht viel zu bieten; und Mirella war ein kluges, schönes Mädchen, mehr nicht. Es ist, als hätte unsere Begegnung uns miteinander wachsen lassen. Gemeinsam sind wir jetzt eine Kraft. Und wir haben die Pflicht, sie nicht zu vergeuden. Wenn ich sage, dass wir zusammenarbeiten wollen, meine ich nicht nur unseren Beruf: Er allein wäre eine dürftige Rechtfertigung, auch wenn ich froh bin zu sehen, dass Mirella ihre Arbeit liebt und sie, im Gegensatz zu vielen anderen Frauen, nicht nur für eine Notwendigkeit hält. Ehe ich Mirella begegnete, sah auch mein Leben völlig anders aus. Ich habe immer gespürt, dass irgendetwas auf mir lastete, zumal nach Kriegsende. Ich kann es nicht erklären, doch es war, als hätte mein Leben, alles, was ich tat, keinen Bestand. Es ist schwer, über diese Dinge zu sprechen, sie liegen in der Luft, lassen sich nicht klar benennen … Langweile ich Sie?« Ich schüttelte den Kopf, musterte ihn, gespannt zu wissen, worauf er hinauswollte; aufmerksam und misstrauisch hörte ich ihm zu. »Mirella könnte Ihnen diese Dinge besser erklären als ich«, fuhr er fort, »sie spürt sie deutlicher, weil sie jünger ist. Viele Ereignisse und Umstände haben einen Abgrund zwischen Mirellas und meiner Generation aufgerissen. Ich versuche ihn mit Liebe zu füllen. Vielleicht fällt es Ihnen schwer, Mirella zu verstehen, weil …« Er zögerte und ich redete ihm zu: »Weil ich zwanzig Jahre älter bin als sie, wollten Sie sagen?« »Nein, weil eine Mutter sich nicht eingestehen kann, dass viele Dinge, an die sie geglaubt hat, für ihre Tochter nicht mehr zählen. Und dass hingegen andere, neue Dinge …« Ich unterbrach ihn und sagte, so sei es immer gewesen: Die Jungen hätten immer geglaubt, sie könnten die Welt verändern. Doch er verneinte, sagte, die Ereignisse, die wir durchgemacht hätten, erlaubten es uns nicht mehr, weiterzuleben wie zuvor. »Wer das begreift, ist am Leben«, sagte er, »wer das nicht begreift, ist schon so gut wie tot.«

Überrascht stellte ich fest, dass ich mich angenehm mit dem Mann unterhielt, der womöglich der Liebhaber meiner Tochter war. Ich wollte es kurzhalten und bemerkte, dass dies doch gewiss nicht der Anlass seines Besuches sei. Aber er fuhr fort: »Ich liebe Mirella auch für die Zeit, die sie ebenso in sich trägt wie ihre Altersgenossinnen; doch die meisten von ihnen sind sich dessen nicht bewusst. Ich glaube, wir hätten gleich am Weihnachtsabend zusammen fortgehen sollen, als wir uns bei den Caprellis kennengelernt haben; bis zum Morgengrauen haben wir geredet, während die anderen tanzten. An dem Abend war bereits alles entschieden.«

Mir blieb nur noch eine Karte, die ich ausspielen konnte: »Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, Mirella könnte von Ihrem Geld angezogen sein?« »Von meinem Geld?«, rief er und deutete sich auf die Brust. Dann lachte er: Es war ein vertrauensvolles, jungenhaftes Lachen. »Ich habe kein Geld«, sagte er, »ich arbeite, seit meiner Studienzeit habe ich arbeiten müssen, genau wie Mirella. Ein Anwalt muss seine Arbeit jeden Tag aufs Neue verkaufen wie eine Ware. Reich ist nicht, wer seine Arbeit besitzt, sondern wer Dinge besitzt. Ich besitze Worte, Worte sind flüssiges Kapital. Ein paar Fehler genügen, und ich bin wieder arm. Mirella und ich werden arbeiten.« »Und was hält Ihre Frau von Ihrer gefühlten Verpflichtung, mit Mirella zu leben?«, fragte ich. Nach einer Pause sagte er: »Ich bin gekommen, um mit Ihnen auch darüber zu sprechen. Was ich Ihnen sage, hat für Mirella und mich keine Bedeutung, doch ich weiß, dass es Ihrer Beruhigung dient. Ich erkläre es Ihnen. Ich lernte Evelyn, meine Frau, 1946 in Rom kennen. Wir sind viel gereist; sie faszinierte mich, weil sie Amerikanerin ist und eine Welt verkörperte, die anders war als meine. Es mag undankbar klingen, nicht mehr über sie zu sagen, doch es ist die Wahrheit. Dann bin ich zu ihr nach Amerika gegangen. Wir hatten noch immer Spaß miteinander, sie lacht viel, ist geistreich und lebhaft, und ich wusste nicht, dass es ein Mädchen wie Mirella gibt. Wir heirateten. Doch als wir nach Rom zurückkehrten, hatten sich unsere Gemeinsamkeiten – reisen, trinken, Spaß haben – recht bald erschöpft. Evelyn fing sogar an, Italienisch zu sprechen …«, fuhr er lächelnd fort. »Es blieb uns nur noch das, was uns trennte. Es war ein sehr schwieriges Jahr: Schließlich ging sie nach Amerika zurück und sagte, sie würde in ein paar Monaten wiederkommen. Jedes Mal, wenn sie schrieb, schob sie ihre Abreise auf; jedes Mal fürchtete ich, sie würde mir ihre Rückkehr mitteilen; es vergingen rund drei Jahre, und sie kam nicht wieder. Dann begegnete ich Mirella. Entdeckte ich Mirella. Es ist schwer, einer Mutter begreiflich zu machen, dass ihre Tochter ein außergewöhnliches Wesen ist. Jedenfalls habe ich durch Mirella mich selbst gefunden, meine Möglichkeiten, mein Leben. Ich hatte nicht geglaubt, dass man mit einer Frau so reden könnte wie mit einem Freund, auf Augenhöhe. Tatsächlich ist hier das ganze Leben in zwei Menschen vereint. Es ist nicht mehr nur ein Spiel mit einem schönen Mädchen, wie mit Evelyn. Also beschloss ich, nach Amerika zu reisen, um mich scheiden zu lassen.«

Mit einem Anflug von Freude fragte ich ihn, ob Mirella davon wisse. Er sagte, Mirella wisse alles über ihn. »Vor zwei Wochen war ich in Richmond, Mirella fürchtete, ich käme nicht wieder, am Flughafen war sie verzweifelt.« Mir kam der Gedanke, dass der schwere Moment, den meine Tochter durchlebt hatte, völlig an mir vorbeigegangen war. »Ich war nur wenige Tage dort«, fuhr Cantoni fort, »um Evelyn um die Scheidung zu bitten. Natürlich hat sie eingewilligt, und von diesem Bund befreit, der uns zur Einsamkeit oder zum Unglücklichsein verdammt hätte, haben wir uns voneinander verabschiedet wie gute Freunde. Dort in Richmond habe ich begriffen, worin der tiefgreifende Unterschied zwischen Mirella und Evelyn besteht, einer von vielen, der aber vielleicht alle in sich vereint: Evelyn drückt sich durch Dinge aus, Mirella durch Ideen. In jenen Tagen schien es mir, als hätte ich die Lust am Reden, die ich mit Mirella teile, für immer verloren; bei meiner Rückkehr war es, als hätte ich in all diesen Tagen nicht geatmet, nicht getrunken.« Er lachte, und ich sah ihn lächelnd an und empfand dabei ein tiefes Wohlgefühl, eine Art Frieden. Ich fragte ihn, wie lange das Verfahren dauere und wann sie heiraten würden. »Ich weiß es nicht«, entgegnete er. »Ehrlich gesagt, ist es schwierig, eine in den Vereinigten Staaten erfolgte Scheidung in Italien anerkennen zu lassen. Hier ist man dazu verdammt, in Ketten zu bleiben. Das Leben, das uns entspräche und uns zu besseren Menschen werden ließe, ist da, es wartet nur auf uns, und diejenigen, die nicht genug Mut haben, sich über die eingefahrenen Konventionen hinwegzusetzen, sind dazu verdammt, darauf zu verzichten und im Dunkeln zu bleiben, in der Einsamkeit, mit dem, was sie für Sünde halten. Auch deshalb wollen Mirella und ich arbeiten: um zu versuchen …« Ich unterbrach ihn, weil ich spürte, dass auch er, genau wie Michele und Mirella, Dinge gesagt hätte, die angesichts der Wirklichkeit, des alltäglichen Lebens, der Kinder keinen Sinn ergeben hätten. »Um ein neues Bewusstsein zu schaffen, richtig?«, sagte ich mit einem zynischen Lächeln. Er nickte, von meinem Tonfall verunsichert. Also fragte ich, warum er gekommen sei, warum er mit mir hatte sprechen wollen. Ohne den Unwillen in meiner Stimme wahrzunehmen, antwortete er ruhig, fast sanft: »Um Ihnen zu helfen, Mirella zu verstehen, und auch mich. Ich mag das Bild nicht, das Sie sich in Ihrer Vorstellung von mir gemacht haben: der verheiratete reiche Mann, der einer Zwanzigjährigen nachstellt. Es ist ganz anders, glauben Sie mir. Eines Tages werden wir vielleicht heiraten; doch darauf kommt es gar nicht an. Worauf es ankommt, ist die absolute Hingebung, mit der ich Mirella liebe und sie mich, das, was wir zusammen sein und tun wollen. Die Ehe ist für uns nicht das Ziel, wir wollen nicht dazu verpflichtet sein, einander zu lieben; wir treffen jeden Tag die freie Entscheidung, einander zu lieben. Das verstehen Sie, oder?« »Nein«, entgegnete ich bestimmt.

»Schade«, schloss er. »Dennoch war es meine Pflicht, mit Ihnen zu sprechen. Und ich glaubte, meine Worte müssten Sie überzeugen können. Ich bin ein lausiger Anwalt. Schade«, wiederholte er, »ich hoffte, Sie würden verstehen.« Ich stand auf, weil ich dieser verstörenden Unterredung ein Ende machen wollte. Er war ebenfalls aufgestanden, ohne seinen fragenden Blick von mir abzuwenden; in seinen Augen lag mitfühlendes Bedauern. »Vielleicht hat Mirella recht, wenn sie sagt, Sie würden verstehen und hätten Angst, es zuzugeben. Es wäre schön, wenn Sie uns wenigstens nicht feindlich gesinnt wären«, sagte er noch. Einen Moment lang verharrten wir schweigend am offenen Fenster. Ich betrachtete ihn mit Mirellas Augen. »Was für ein schöner Tag«, sagte er, und es war ihm anzumerken, dass er verliebt war. Während er sich von mir verabschiedete, trafen sich unsere Blicke für einen Moment freundschaftlich. Dann schloss ich hastig die Tür hinter ihm, als müsste ich einer Versuchung widerstehen.

Jedes Mal, wenn ich dieses Heft aufschlage, kommen mir wieder die Ängste in den Sinn, die ich empfand, als ich zu schreiben anfing. Ich wurde von Gewissensbissen geplagt, die mir den ganzen Tag vergällten. Ständig fürchtete ich, das Heft würde entdeckt werden, obwohl es damals nichts enthielt, was man schuldhaft hätte nennen können. Doch inzwischen ist es anders: In ihm habe ich die Geschehnisse der letzten Zeit festgehalten, die Art, wie ich mich nach und nach zu Handlungen hinreißen ließ, die ich verurteile und von denen ich, ebenso wenig wie von diesem Heft, dennoch nicht lassen kann. Inzwischen habe ich mir angewöhnt zu lügen; das Heft zu verstecken, ist mir vertraut, und ich bin ausgesprochen gut darin geworden, Zeit zum Schreiben zu finden; ich habe mich an Dinge gewöhnt, die ich anfangs für inakzeptabel hielt. Niemals hätte ich geglaubt, ich könnte mich ganz ruhig mit Cantoni unterhalten. Ich hatte sogar überlegt, mit ihm über einen Rechtsanwalt zu kommunizieren, und stattdessen habe ich ihn gestern zur Tür begleitet und ihm zu meiner eigenen Überraschung die Hand zum Abschied hingehalten wie einem Freund. Als ich wieder in mein Zimmer zurückkehrte und den Lehnstuhl sah, in dem er gesessen hatte, den Aschenbecher mit den Stummeln der Zigaretten, die er geraucht hatte, überkam mich ein unbändiges Gefühl der Verlorenheit: Ich wusste nicht, ob ich es Cantonis und Mirellas Absichten zuschreiben sollte oder den vielen Dingen, die er gesagt hatte und die nicht nur das Leben meiner Tochter, sondern auch mein Leben betrafen. Ich lief in Guidos Zimmer: Es war verlassen. Wie jeden Tag hatte der Bürogehilfe die Fensterläden geschlossen, damit die Sonne nicht die schönen grünen Lehnstühle ausbleichte, und das in Halbdunkel getauchte Zimmer wirkte traurig und verwaist. Ich konnte mich einfach nicht damit abfinden, dass Guido gegangen war, ohne sich von mir zu verabschieden; vielleicht hatte er nach mir gefragt und erfahren, dass ich Besuch hatte. Doch dieser Gedanke konnte meine Schwermut nicht lindern: Ich stellte mir vor, wie Guido mit seiner Familie beim Mittagessen saß, mit Menschen, die ich kaum kenne und die völlig anders sind als ich. Am Garderobenständer hing sein Regenmantel: Ich streichelte und drückte ihn, auf der Suche nach ein wenig Trost. Er war kalt und verströmte nicht einen Hauch des guten Lavendelduftes, den Guido mit sich hereinträgt, wenn er das Büro betritt, und der für mich seit Jahren der Geruch des Morgens, der Beginn des Arbeitstages ist. Ich verbarg das Gesicht in dem kalten Regenmantel wie an einer Schulter. Ich ertrage es nicht mehr, allein zu sein. Seit ich beschlossen habe, dass es nicht möglich ist, zwinge ich mich, Guidos liebevolle Blicke und seine Aufmerksamkeiten zu übersehen. Ich tue so, als wartete ich darauf, dass er sich mir gegenüber wieder so freundschaftlich verhält wie früher, dass er vergisst, was er alles zu mir gesagt hat, und rede mir ein, dass ich ihm nie zu verstehen gab, was ich, über die Grenzen eines flüchtigen Gefühls hinaus, empfinde. Gestern aber machte mir die Verlassenheit, in der ich mich nach dem schwierigen Gespräch mit Cantoni befunden hatte, Angst. Ich fürchtete, Guido könnte meiner Aufforderung nachkommen und mich tatsächlich vergessen. Ich hatte Angst, nach Hause zurückzukehren, ich wollte den Aufgaben, die dort auf mich warteten, entfliehen, mir war, als könnte ich sie nicht mit dem nötigen Gleichmut bewältigen. Ich hatte keine Lust, Michele zu begegnen, der von allen verlangt, seine schlechte Laune zu ertragen, und auch nicht Riccardo, der wieder unzufrieden ist und uns und die Regierung dafür verantwortlich macht, dass er knapp bei Kasse ist, sich aber kaum dazu durchringen kann, etwas dagegen zu unternehmen. Vor allem hatte ich keine Lust, Mirella zu sehen: Ich käme nicht umhin, ihr von Cantonis Besuch zu erzählen, und vermochte nicht, klar zu erfassen, was dieser Besuch bedeutete. Am liebsten hätte ich ihr gesagt: »Tu, was du willst, lass mich in Frieden, ich bin so müde.«

Ich setzte mich in Guidos Lehnstuhl und rief zu Hause an, um zu sagen, ich käme nicht zum Abendessen, ich hätte zu tun. Mirella nahm den Hörer ab, und in ihrer Stimme schwang Unwille mit; vielleicht wollte sie, dass ich ihr von der Unterhaltung mit Cantoni erzählte, doch ich verlor kein Wort darüber und sagte nur: »Bis heute Abend.« Die gewonnene Freiheit hob unversehens meine Stimmung: Ich überlegte, wie ich sie ausnutzen könnte. Ich malte mir aus, wie ich in eine Trattoria ginge, genüsslich zu Abend äße, endlich von der Verpflichtung befreit, kochen und das Geschirr spülen zu müssen. Doch die Vorstellung, allein dorthin zu gehen, schüchterte mich ein; in Wirklichkeit hatte ich nur einen einzigen quälenden Wunsch, den ich nicht zu benennen wagte. Ich ging zum Empfang und sagte dem Bürogehilfen, ich würde noch bleiben, um ein paar dringende Vorgänge zu erledigen. Erleichtert hörte ich, wie die Tür sich hinter ihm schloss. Ich kehrte zu Guidos Schreibtisch zurück und wählte rasch seine Nummer. Ein wortkarger Hausangestellter nahm meinen Anruf entgegen, und einen Moment lang fürchtete ich, er würde das Gespräch nicht weiterreichen. Dann hörte ich Guidos erwartungsvoll klingende Schritte. Ich sagte: »Hallo … Sie müssten sofort noch einmal ins Büro kommen. Ich bin hier allein. Ich wollte Sie daran erinnern, dass Sie noch einen Termin haben.« Einen kurzen Moment lang war er verunsichert; dann fing er sich wieder und antwortete: »Verstehe. In Ordnung. Ich esse noch zu Ende und komme sofort.«

Wartend blieb ich in seinem Lehnstuhl sitzen. Manches von dem, was Cantoni gesagt hatte, verfolgte mich; ich sah wieder sein Gesicht vor mir, wie er lachte und sagte, er sei nicht reich, er besitze nur seine Arbeit; oder wie er zögernd sagte, ich könne Mirella nicht verstehen. Die Sicherheit, mit der er den Namen »Mirella« aussprach, als hätte er ihn erfunden, als gehörte er ihm, verärgerte mich. Ich schob den Gedanken beiseite, schloss die Augen und versuchte mich zu entspannen.

Beim Geräusch des Türschlosses sprang ich erwartungsvoll auf. Ich suchte nach einem triftigen Grund, um die Dringlichkeit meines Anrufes zu rechtfertigen. Ich wollte nicht zugeben, dass ich nur das Bedürfnis hatte, ihn zu sehen, mit ihm zusammen zu sein. Eilig und entschlossen betrat er das Zimmer; zunächst bemerkte er mich nicht, geblendet vom hereinfallenden Tageslicht: Das Zimmer lag im Halbschatten, und ich hatte mich in die Fensternische zurückgezogen. »Was ist los, Valeria?«, fragte er dann und kam auf mich zu. Er ließ die Schlüssel in die Tasche gleiten, und die vertraute Geste rührte mich. »Es ist nicht möglich«, murmelte ich, während er meine Hände küsste. »Ich muss das Büro verlassen, fortgehen, hier ist es zu kompliziert. Ich weiß nicht mehr, wohin ich mich flüchten soll. Ich brauche Urlaub, zwei, drei Wochen, ich werde meine Sommerferien jetzt nehmen. Ich habe beschlossen, zu einer Schwester meiner Mutter nach Verona zu fahren, um Abstand zu gewinnen, auf andere Gedanken zu kommen.«

Bis dahin hatte ich nie ernsthaft darüber nachgedacht, doch plötzlich erschien mir diese Reise wie der einzige Ausweg, die Rettung. Guido schien sich freilich über meine Ankündigung zu freuen. »Wann?«, fragte er nach einer Pause. Ich antwortete: »Ich weiß es nicht. Am liebsten würde ich jetzt gleich fahren, aber ich fürchte, ich kann den Haushalt und die Kinder nicht Hals über Kopf verlassen. In vierzehn Tagen.« Er ging zum Schreibtisch und blätterte durch seinen Kalender. Als er zu mir zurückkam, ergriff er abermals meine Hände, blickte mir liebevoll in die Augen und sagte: »In zwei Wochen muss ich in Triest sein. Ich brauche dort nicht länger als einen Tag. Auf dem Rückweg kann ich in Venedig haltmachen. Drei Tage, auch fünf, Verona ist ganz nah.« Dann fügte er leise hinzu: »Fünf Tage Venedig.«

Nach diesen Worten fand ich keine Ruhe mehr. Es ist meine Schuld. Ich hätte es nicht so weit treiben dürfen, ich hätte ihn nicht anrufen sollen, damit er zu mir ins Büro käme, wo ich allein war. Ich ließ mich in den nächsten Sessel fallen: Er hatte Venedig gesagt, weil Verona nicht weit ist, doch er hätte ebenso gut Padua oder Vicenza sagen können; es war, als hätte er meine Gedanken gelesen, als kennte er meinen zehrenden Wunsch, und ich spürte, dass es für mich kein Entrinnen mehr gab. »Nein, nein«, sagte ich entsetzt und runzelte die Stirn. Er bat mich, ihm nicht gleich zu antworten, beschwor mich, in Ruhe darüber nachzudenken, er würde tun, was ich möchte, und auf nichts bestehen. Ich solle Vertrauen in ihn haben, in seine Hingabe, und dazu nahm er mich sanft in die Arme, streifte meine Schläfen mit seinen Lippen und murmelte, wir dürften auf die Liebe, auf das Glück nicht verzichten, wir hätten ein Recht darauf. »Volles Recht«, wiederholte er. Ich spürte, dass er auf etwas in seinem Leben anspielte, von dem ich nichts wusste. Ich dachte: »Schluss mit Mirella, Schluss mit Riccardo, Schluss damit, es reicht.« Als der Bürogehilfe zurückkehrte, ertappte er uns eng beieinander im Dämmerlicht; doch ich war so versunken, dass sein erstaunter Blick nicht zu mir durchdrang. Ich wähnte mich bereits im Zug.

Als Mirella mich gedankenverloren nach Hause kommen sah, nahm sie mich beiseite und fragte: »Ist es meine Schuld, Mama?« Ich nickte. »Sandro hat darauf bestanden mit dir zu reden«, sagte sie aufgeregt. »Ich wusste, was das für dich bedeuten würde.« Wir unterhielten uns kurz, doch im Grunde war es mir vollkommen gleich. Sie bestätigte, was Cantoni gesagt hatte, und mir fiel auf, dass die beiden die gleichen Worte verwendeten. »Ich werde mit deinem Vater reden«, sagte ich. »Heute fehlt mir die Kraft dazu. Er soll entscheiden. Vielleicht ist es gut, wenn du in absehbarer Zeit das Haus verlässt. Wir sind es gewohnt, nach gewissen Grundsätzen zu leben, mögen sie auch falsch und rückständig sein, wie du behauptest, aber wir können uns nicht mehr ändern.« Wieder einmal war ich erstaunt, wie kalt sie war, weder bat sie um Verzeihung noch versuchte sie sich mit blinder Verliebtheit herauszureden. Als wir verlobt waren, versündigte ich mich mit Michele, doch tat ich so, als geschähe es widerstrebend und ohne mein Einvernehmen, weil Michele mich dazu drängte. In unserer Hochzeitsnacht war es genauso, und auch danach jedes Mal, wenn Michele sich mir nachts näherte. Wenn ich nach Venedig führe, täte ich vielleicht so, als wüsste ich gar nicht, was ich dort wollte oder was unausweichlich geschehen würde. Das ist der Unterschied zwischen Mirella und mir; indem sie bestimmte Gegebenheiten bewusst akzeptiert, scheint sie sich für immer von der Sünde befreit zu haben. Ich hätte sie gern gefragt, ob sie mit sich und ihrem Gewissen im Reinen ist. Doch wir konnten nicht weiterreden, denn Michele kam zurück, und ich musste das Abendessen vorbereiten, während er in der Küche auf und ab lief und mir einredete, was ich Clara morgen alles sagen müsse, aus Sorge, ich könnte es mir nicht merken. Ich sagte, ich sei gespannt, ob es Neuigkeiten wegen der Filmidee gebe, denn sollte mir das Büro Urlaub gewähren, würde ich gerne ein paar Tage zu Tante Matilde nach Verona fahren. Ich glaubte, er würde meine Absicht sofort durchschauen, und hoffte, er würde mir die Reise verbieten. Stattdessen sagte er, es würde mir guttun. Also fügte ich an, ich hätte vor, von Verona aus nach Venedig zu fahren. Er nickte: »Das ist eine gute Idee, du wünschst es dir so sehr und hast es schon so lange im Kopf.« Mir ging auf, dass nichts, was ich hätte sagen können, irgendetwas ändern würde. Selbst, wenn ich ihm gestanden hätte, dass der Direktor auch nach Venedig kommen würde, hätte er sich nicht darüber gewundert. Ich musste an den Abend denken, als er angedeutet hatte, was er empfand, wenn der Direktor mich nach Hause begleitete und er oben am Fenster stand und mich aus seinem Wagen steigen sah. Jetzt sieht er nichts mehr, er sieht mich nicht mehr; zwischen uns stehen die Kinder, Marina und Cantoni, die Berge von Geschirr, die ich abgewaschen habe, die Stunden, die er im Büro verbracht hat, die Stunden, die ich im Büro verbracht habe, und sämtliche Suppen, die ich aufgetischt habe, genau wie gestern Abend, als der Dampf mir in die Augen stieg und ich daran dachte, dass ich seit Ewigkeiten nicht mehr verreist bin. Ich besitze nur einen alten Koffer aus Vulkanfiber: Ich sollte den großen Lederkoffer nehmen, den von Michele.

Heute war ich zum Mittagessen bei Clara. Wir hatten einander ganz für uns, genau wie damals, als wir noch sehr jung waren, und für mich fühlte es sich an wie ein Ferientag. Sie hat sich eine Dachwohnung in einem Neubau in Parioli gekauft. Von der Terrasse aus hat man eine weite, heitere Sicht: Wiesen, Pinien, weiße Häuser. Auf der Terrasse blühte bereits alles, und wir saßen ein Weilchen an der frischen Luft und machten es uns auf Claras Sonnenliege bequem; sie sagt, für ein jugendliches Aussehen sei eine leichte Bräune unerlässlich, das machten alle Filmschauspielerinnen so. In ihrem Bad habe ich versucht, mir ihre Kosmetika einzuprägen, doch es sind so viele und ich wüsste ohnehin nicht, welche davon ich mir kaufen sollte, und fragen wollte ich sie nicht. Michele hat recht, Claras Leben hat sich völlig verändert, seit sie nicht mehr mit ihrem Mann zusammenlebt. Die Wohnung beweist einen Geschmack, den ich gar nicht bei ihr vermutet hätte; dass sie so klug ist, hatte ich früher allerdings auch nicht geahnt: Damals war sie kokett und redete ständig von Männern. Ich fragte sie, ob sie gerade verliebt sei, und sie sah mich argwöhnisch an. »Nein, nein«, antwortete sie hastig, doch das nehme ich ihr nicht ab. Clara hat immer behauptet, sie könnte ohne Liebe nicht leben. Vielleicht hat unsere Vertrautheit gelitten. Dabei wollte ich sie noch nie so dringend darüber reden hören wie heute. »Liebe ist zu zeitraubend«, sagte Clara, »denn eigentlich gibt es die Liebe gar nicht: Jeden Tag und jede Minute muss man sie neu erfinden und seiner Erfindung immer gerecht werden. Das ist schwer …«, schloss sie mit einem bemühten, zynischen Lächeln. Sie sagte, sie habe wenig Zeit, und noch bevor ich, wie Michele es mir nahegelegt hatte, nachfragen konnte, weshalb sie so beschäftigt sei, kam sie mir zuvor. »Drehbücher«, sagte sie vage, »Leute, die ich empfangen muss, ich habe viele Verpflichtungen. Ich hätte Michele gerne öfter gesehen. Angeblich will er sein Leben verändern, bei der Bank kündigen und sich dem Film widmen. Du musst auch versuchen, ihn davon abzubringen, Valeria. Vielleicht war es keine gute Idee, dass ich damals am Sonntag zu euch zum Mittagessen gekommen bin. Es ist nie gut, wenn zwei so unterschiedliche Welten aufeinandertreffen. Jeder sollte immer in seiner eigenen bleiben. Aber das begreifen wir erst hinterher. Die Welt, in der ich lebe, ist zu weit von eurer entfernt, ob sie besser ist oder schlechter, weiß ich nicht, aber sie ist eben anders. Auf einen Mann wie Michele, der sein ganzes Leben in einer Bank verbracht hat, würden sie nichts geben. Er bliebe der ewige Dilettant; und das zu Recht. Am Anfang hat Michele mich überrascht: Durch deine Erzählungen hatte ich ein ganz anderes Bild von ihm. Ich hatte wirklich gehofft, die Skizze ließe sich verkaufen, ich habe getan, was ich konnte, bisher leider vergeblich.« Sie sagte, sie habe lange mit ihm darüber gesprochen, und wenn er all seine Ideen und Einfälle zu Papier bringen könnte, würde er ein Vermögen verdienen. »Er würde gern mit mir zusammenarbeiten, doch das ist nicht möglich, ich muss frei sein. Außerdem würde ich ihm sowieso nur schaden: Das habe ich ihm auch gesagt. Einmal haben wir bis zum Morgengrauen geredet.« Das war mir entgangen, offenbar hatte ich geschlafen, als Michele heimkam, und am nächsten Morgen hatte er kein Wort darüber verloren. Ich sah mich in dem großen, mit Regalen ausgekleideten Wohnzimmer um, ich sah die schönen, bequemen Sofas, Claras elegantes Kleid; bestimmt würde es Michele gefallen, sich mit diesem Wohlstand zu umgeben, den wir nie kennengelernt haben. »Er wirkte entschlossen, wieder seiner alten Wege zu gehen«, fuhr Clara fort, »ich habe ihm gesagt, es wäre falsch, sie jetzt zu verlassen. Es wäre auch unmöglich.« Sie klang hart, und ich fühlte mich unbehaglich, denn unterdessen war das Hausmädchen damit beschäftigt, den Tisch abzuräumen. Das Mittagessen war leicht und köstlich gewesen; seit Ewigkeiten hatte ich nicht mehr so sorgfältig zubereitete Speisen gegessen, wegen der ständigen Eile bringe ich kaum etwas anderes auf den Tisch als Spaghetti, Eier und Salat und sonntags einen Braten. Clara rauchte amerikanische Zigaretten, bot mir Pralinen aus einer edlen Schachtel an, die sie bestimmt geschenkt bekommen hatte. Es ärgerte mich, dass sie Michele in ein Leben zurückdrängen wollte, das sie für mittelmäßig und aussichtslos hielt. »Könntest du nicht versuchen, ihn wenigstens einmal mit dir an einem Drehbuch arbeiten zu lassen?«, schlug ich vor und ließ Micheles Frage klingen, als stammte sie von mir. »Das ist nicht möglich«, sagte sie noch einmal, »es ist zu seinem Besten, verstehst du? Er muss sich die Sache aus dem Kopf schlagen und weitermachen wie bisher.« Sie wurde ungeduldig, wiederholte, sie habe keine Zeit, ihr Leben sei ein ständiger Kampf, für eine Frau sei es sehr schwer, sich durchzusetzen: Sie sagte, sie habe sich eine gewisse Härte zulegen müssen. Irgendetwas an dem, was sie sagte, entzog sich mir. Wieder kam mir der Verdacht, Michele könnte sich in sie verliebt haben, doch die Tatsache, dass er mich zu ihr geschickt hatte, um mit ihr zu reden, und die Demütigung, der er sich mit seinen beharrlichen Bitten um Hilfe aussetzte, zerstreuten ihn sofort. »Eine berufstätige Frau«, fuhr Clara fort, »zumal eine berufstätige Frau unseres Alters, führt einen ständigen inneren Kampf zwischen der traditionellen Frau, die zu sein man sie erzogen hat, und der unabhängigen Frau, die zu werden sie beschlossen hat. In ihr tobt ein dauernder Konflikt. Ihn zu lösen und zu überwinden, hat seinen Preis: vor allem, was die Männer betrifft. Vielleicht kannst du das nicht nachvollziehen. Du bist anders als ich und hast letztlich all das bekommen, was du haben wolltest, als du geheiratet hast: Du hast Glück gehabt.« Ich fragte, ob sie das wirklich glaube. »Oh, sicher«, rief sie. »Ich habe mich dir gegenüber immer schwach gefühlt, eben weil du nie gehadert hast. Du führtest das Leben, das du dir ausgesucht hattest, und ich bewunderte dich, weil du dir selbst immer treu warst, immer mit dir im Reinen. Ich weiß noch, wie du gestrickt und Süßspeisen zubereitet hast, um Geld zu verdienen. Und nun trägst du alles auf deinen Schultern, den Haushalt, das Büro. Wie du das schaffst, ist mir ein Rätsel. Die Stärke besäße ich nicht. Oder vielleicht können wir gar nicht stark sein, wenn wir allein sind, weil die Gewissheit, von anderen gebraucht zu werden, uns zum Starksein zwingt. Jedenfalls braucht es dazu deine Konstitution.« Ich sagte, hinsichtlich der Konstitution gäbe ich ihr Recht, doch kaum wollte ich auf meine vielen anderen Schwächen zu sprechen kommen, unterbrach Clara mich: »Nein, nein. Wenn du glaubst, du hättest welche, liegst du falsch. Du brauchst gar nicht erst zu versuchen, mir das weiszumachen, du warst immer unglaublich stark.« Sie lachte ein schallendes, junges Lachen. Wie gern hätte ich ihr alles erzählt, von Guido und von Venedig; auf dem Weg zu ihr hatte ich mir sogar vorgenommen, sie zu bitten, mir einen Koffer zu leihen; und einen ihrer Morgenmäntel und ein Paar ihrer goldenen Pantoffeln, denn meine sind aus dickem rotem Plüsch. Häufig verspüre ich den Wunsch, mich einem lebendigen Menschen anzuvertrauen, nicht nur diesem Heft. Aber das habe ich noch nie gekonnt; stärker als dieser Wunsch blieb stets die Furcht, etwas zu zerstören, das ich in zwanzig Jahren Tag für Tag aufgebaut habe, das einzige Gut, das ich besitze. »Man muss immer ein Ziel im Leben haben«, fuhr Clara eindringlich fort. »Du hast Kinder. Hat man ein Ziel, kann man auf das kleine alltägliche Glück verzichten; man verfolgt dieses Ziel und schiebt die Chance, glücklich zu sein, ständig auf. Selbst, wenn sie sich nie erfüllt, ist dieses Streben bereits Glück und Lebenszweck genug. Im Grunde habe ich deshalb angefangen zu arbeiten, nicht des Geldes wegen. Weil ich es leid war, darauf zu warten, durch den einen oder den anderen Mann glücklich zu werden. Es ist diese Hoffnung auf Glück, die eine Frau Tag für Tag zermürbt, sie zerstört. Während du darauf wartetest, dass die Kinder groß werden, konntest du all das beiseiteschieben. Du hast darauf gewartet, dass sie Laufen lernen, in die Schule kommen, ihre Erstkommunion empfangen, und jetzt wartest du darauf, dass sie ihren Abschluss machen und heiraten, nicht wahr? Und darüber geht die Zeit dahin.« »Ja«, sagte ich, »die Zeit geht dahin.« Etwas in meiner Stimme, in meinem Gesichtsausdruck, war offenbar anders als sonst, denn Clara fragte, was mit mir los sei. Ich hätte ihr gern gesagt, dass die Kinder inzwischen groß sind und ich nichts mehr habe, worauf ich warten kann. Stattdessen stand ich auf, um zu gehen, und sagte lächelnd: »Nichts. Ich dachte nur, wie die Zeit dahingeht.«