Prolog

Es war der bisher wärmste Tag dieses Sommers. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel und ihre Strahlen wurden von der Oberfläche des Sees reflektiert. Tausende Lichtpunkte tanzten auf den Wellen. Geblendet von all der Helligkeit um sie her schloss Imke die Augen.

„Schläfst du?“ Tammo stupste sie lachend an. „Wenn ich das auch mache, sehen wir nicht, wo wir hinfahren.“ Sie waren gemeinsam in einem Tretboot unterwegs, von denen sich an diesem herrlichen Tag viele auf dem Orsasjön tummelten. Geschickt wich er einem entgegenkommenden Boot aus. „Wollen wir zurück ans Ufer fahren? Ich habe jetzt Lust auf ein Eis, du nicht auch?“

Imke stimmte dem zu, wie allem, was er bisher vorgeschlagen hatte. Dieser Ausflug war Tammos Idee gewesen. Sie waren nicht zum ersten Mal hier, doch heute fühlte es sich anders an. Es lag eine Bedeutungsschwere über ihrem Beisammensein, die bei Imke eine zunehmende Beklommenheit hervorrief. Tammo schien davon nichts zu merken, er war in bester Stimmung. Nachdem sie das Tretboot zur Ausleihstation zurückgebracht hatten, fanden sie einen Tisch im Außenbereich der Gaststätte am Ufer des Sees. Imke spürte die ganze Zeit Tammos forschenden Blick auf sich gerichtet. Er machte ihr Komplimente für ihren sonnengebräunten Teint, der durch das weiße Kleid, das sie heute trug, besonders zur Geltung kam. Dabei mied Imke die Sonne, so gut es ging. Wenn sie mit den Pferden im Freien arbeitete, war das natürlich nicht möglich. Ein Lächeln stahl sich bei dem Gedanken daran auf ihre Lippen. Die Arbeit mit den Tieren war ihr größtes Glück. Warum konnte nicht alles einfach so bleiben? Sie wünschte, die Zeit anhalten zu können.

„Schmeckt es dir nicht?“, fragte Tammo. Er hatte seinen Eisbecher längst ausgelöffelt, während der Inhalt ihres eigenen sich allmählich in eine rosafarbene Flüssigkeit verwandelte.

„Doch, ich genieße es einfach nur.“ Imke umklammerte den Stiel des Bechers, als wollte sie sich daran festhalten. Die verrinnende Zeit konnte sie leider nicht anhalten, und dann war der Moment gekommen, vor dem sie sich gefürchtet hatte. Mit einer entschlossenen Geste legte Tammo eine kleine Schachtel aus rotem Leder vor sie auf den Tisch. Er suchte ihren Blick, doch Imke konnte nur die Schachtel anstarren, von der sie ahnte, was sie enthielt.

„Imke“, sagte Tammo. Seine Stimme klang plötzlich belegt. „Du weißt sicher, was ich dich fragen möchte. Wir kennen uns jetzt bereits seit über einem Jahr und ich finde, du bist das wunderbarste Mädchen, das mir jemals begegnet ist. Ich möchte für den Rest meines Lebens mit dir zusammen sein. Und deshalb frage ich dich ...“ Er öffnete die Schachtel mit einer feierlichen Geste und hielt sie Imke hin. Der schlichte Goldreif, der darin auf einem Samtpolster lag, blitzte hell auf.

„Tammo, nein, warte.“ Imke konnte die Panik in ihrer Stimme nicht unterdrücken. „Das geht viel zu schnell. Ich meine, für so einen Schritt kennen wir uns noch nicht lange und nicht gut genug.“

„Wie lange muss man sich denn deiner Meinung nach kennen?“ Tammo runzelte die Stirn. „Ich weiß, was ich für dich empfinde, und ich vertraue auf mein Gefühl. Und an deinen Gefühlen für mich habe ich ebenfalls keine Zweifel. Schon lange möchte ich deine Familie kennenlernen und dich auch meiner Familie vorstellen. Bisher bist du dem ausgewichen und ich habe mich gefragt, weshalb. Wenn du an der Ernsthaftigkeit meiner Absichten zweifelst, will ich das heute ein für alle Mal ausräumen. Wir müssen nicht gleich morgen vor den Traualtar treten, aber ich möchte die nächsten Schritte einleiten, die uns eines Tages dorthin führen werden. Ich will aller Welt zu verstehen geben, dass wir von nun an fest zusammengehören.“

Imke kämpfte gegen die Rührung an, die sie bei seinen Worten überkam. Er war zu taktvoll, um die Hindernisse, die zwischen ihnen standen, beim Namen zu nennen. Er war der wohlerzogene Sohn aus reichem Hause, sie das Problemkind, das mit der Arbeit auf dem Pferdehof eine letzte Chance bekommen hatte, sein Leben auf die Reihe zu bringen. Sie hatte diese Chance genutzt und im Moment ging es ihr gut, doch die Vergangenheit konnte sie nicht auslöschen. Und schon gar nicht all die Geheimnisse, von denen er nichts wusste. Tammo schaute sie an und wartete auf eine Antwort.

„Das kommt etwas überraschend“, stammelte sie. „Gib mir einen Augenblick Bedenkzeit. Ich gehe mich mal frisch machen.“

„Natürlich, aber nicht weglaufen, hörst du?“ Er sah sie mit einem unsicheren Lächeln an, während sie aufstand und sich ins Innere der Gaststätte begab. Imke suchte den Gang auf, der zu den Toiletten führte. Doch sie ging daran vorbei und öffnete die Tür, die auf einen Hof hinaus führte. Von hier aus gelangte sie über den Parkplatz, auf dem die Fahrzeuge der Gäste standen, hinaus auf die Straße. Imke lief am Campingplatz vorbei zielstrebig auf den Wald zu. Erst als sie in den Schatten der hohen Bäume eintauchte, wurde sie etwas langsamer. Ob Tammo sie bereits vermisste? Daran durfte sie jetzt nicht denken. Der Wanderweg stieg bald steil an, die Gegend wurde zunehmend felsiger und unwegsamer. Die Anstrengung lenkte Imke ein wenig von ihren Gedanken ab, einmal strauchelte sie und schlug sich das Knie auf. Ohne darauf zu achten, strebte sie weiter vorwärts. Ob Tammo auf die Idee kommen würde, sie hier zu suchen? Nein, das war unmöglich. Sie hatte plötzlich ein Ziel, die Entscheidung war unbewusst gefallen. Einmal begegnete sie anderen Wanderern, Imke wandte das Gesicht ab, als sie an ihnen vorüberging. Ihr Herz pochte im Takt ihrer Schritte, ihr Atem ging stoßweise. Sie wusste nicht, wie lange sie bereits unterwegs war, jedes Zeitgefühl war ihr abhandengekommen. Ihre Beine taten weh und ihr ganzer Körper fühlte sich bleischwer an, aber eine Pause wollte sie sich auf keinen Fall gönnen. Schon hörte sie deutlich das Rauschen des Wasserfalls und als die Bäume den Blick freigaben, sah sie tief unten das Wasser durch den Canyon strömen. Und dann tauchte endlich die Eisenbahnbrücke vor ihr auf. Das Betreten war streng verboten, doch für sie galten diese Regeln nicht mehr. Auf dem schmalen Holzsteg, der neben den Gleisen entlangführte, lief sie bis zur Mitte der Brücke und schaute hinab in die schäumenden Fluten tief unter ihr. Lange stand sie so. Sie dachte an Tammo, mit dem sie glücklich gewesen war und mit dem sie keine Zukunft haben konnte. Sie dachte an die sanften Augen und das warme Fell ihrer Pferde, durch deren Zuneigung sie zu sich selbst und zu innerer Ruhe gefunden hatte. Auch an das kleine Mädchen, dem sie keine Mutter sein durfte, dachte sie. Und nicht zuletzt an den unendlichen Schmerz, den man ihr zugefügt hatte.

Ein Vibrieren, das den nahenden Zug ankündigte, riss Imke aus ihren Gedanken. Die Bahn fuhr an dieser Stelle immer sehr langsam, damit die Fahrgäste die spektakuläre Aussicht genießen konnten. Als sie das schrille Pfeifen der Lokomotive vernahm, atmete Imke ein letztes Mal tief durch. Dann schwang sie sich über das Geländer und ließ sich in die Tiefe fallen.