3.

Die Woche fing definitiv nicht gut an. Rurik hatte alle Kollegen der Abteilung im Besprechungsraum versammelt und informierte sie über das Verschwinden von Bent Lindell. Er schaute auf seine Uhr. „Inzwischen sind bereits zwanzig Stunden vergangen, wir alle wissen, was das bedeutet.“

Natürlich wusste Alva das. Die ersten vierundzwanzig Stunden waren entscheidend bei der Suche nach einem vermissten Kind. Die Vorstellung, ein vierjähriger Junge könnte in der Nacht allein und verängstigt umhergeirrt sein, war bedrückend. Noch bedrückender war jedoch die Vorstellung, dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Rurik schien über Informationen zu verfügen, die das nahelegten. „Die Kollegen, die als Erste vor Ort waren, behaupten mit Bestimmtheit, das Kind kann den eingezäunten Garten nicht selbstständig verlassen haben. Der Junge war nach Angaben seiner Mutter höchstens für zehn Minuten unbeaufsichtigt. Selbst wenn er sich allein vom Grundstück entfernt haben sollte, wäre er in diesem kurzen Zeitraum nicht weit gekommen. Aber trotz umgehend eingeleiteter Suchaktion ist er wie vom Erdboden verschluckt.“

„Muss man eine Entführung in Betracht ziehen?“, fragte Sven. Er war selbst Vater von zwei kleinen Kindern und der Fall des vermissten Jungen ging ihm sichtlich nahe. „Sind die Eltern vermögend?“

„Das müssen wir klären“, erwiderte Rurik. „Die Familie ist gut situiert, der Mann arbeitet als Gynäkologe, die Frau ist Verkäuferin in einem Uhrengeschäft. Millionäre sind sie jedenfalls nicht, eine Lösegelderpressung halte ich daher für unwahrscheinlich. Aber ausschließen können wir bis jetzt nichts. Wir müssen uns in alle Richtungen umhören, die Nachbarschaft gründlich befragen, ebenso das berufliche Umfeld der Eltern.“

„Apropos Nachbarschaft“, hakte Jördis nach. „Hat niemand etwas beobachtet?“ Jördis war die Jüngste in der Abteilung und befand sich noch in der Ausbildung. Doch sie war ehrgeizig und zeigte Engagement, was sie schon jetzt zu einer guten Polizistin machte.

Rurik schüttelte den Kopf. „Die ersten Befragungen haben keine Hinweise erbracht. Das ist eine ruhige Wohngegend.“

„Fällt es in einer ruhigen Gegend nicht sogar eher auf, wenn sich etwas Ungewöhnliches ereignet?“, fragte Alva.

„In der Regel schon. Aber wir müssen in diesem Falle die Lage des Hauses berücksichtigen. Es handelt sich um ein Eckgrundstück am Ende eines ruhigen Weges, der nur von den Anliegern benutzt wird. Eine Straße führt rechts daran vorbei. Bis dahin sind es vom Grundstück nur wenige Meter. An dieser Straße haben die Hunde die Spur des Jungen verloren. Wir gehen bis jetzt von folgendem Szenario aus: Jemand hat den Jungen über den Zaun gehoben und zu einem Auto gebracht. Das ging sehr schnell und unbemerkt vonstatten.“

„Schreit ein Kind nicht, wenn es von einem Fremden gepackt und weggeschleppt wird?“ Jördis spielte nachdenklich mit ihrem langen Zopf.

„Nicht unbedingt“, sagte Sven. „Wenn es sehr schnell ging, war der Junge vermutlich vor Schreck wie gelähmt. Ich spreche da aus Erfahrung, es gab mal so eine Situation mit Erik. Immer wieder haben wir ihm eingeschärft, wie er sich Fremden gegenüber, die ihn ansprechen, verhalten soll. Trotzdem hat er sich mal von einem Mann, der ihn einfach an die Hand nahm, ohne Protest mitziehen lassen. Er hat reagiert wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange.“

„Und dann?“, fragte Jördis erschrocken.

„Dann hat eine Frau, die das beobachtete, gleich eingegriffen. Zum Glück hat sich die Situation hinterher als harmlos herausgestellt. Der Mann war geistig zurückgeblieben und lebte in einem Pflegeheim. Er fühlte sich selbst noch als Kind und wenn er Kinder sah, wollte er mit ihnen spielen. Aber der Vorfall war mir eine Warnung. Man kann sich nicht auf die Reaktion eines Kindes verlassen.“

„Die Suche nach dem Jungen wird mit allen verfügbaren Kräften fortgesetzt“, schloss Rurik die Diskussion ab. „Aber wir müssen auf alles vorbereitet sein. Deshalb verteile ich jetzt gleich die Aufgaben. Wo ist eigentlich Caroline?“

Als habe sie nur auf das Stichwort für ihren Auftritt gewartet, kam Caroline in diesem Moment zur Tür herein. Sie war wie immer perfekt gestylt, aber ungewöhnlich blass. „Entschuldigt die Verspätung“, sagte sie. „Mir ging es heute früh nicht gut.“

„Bist du jetzt wieder einsatzfähig?“, fragte Rurik. „Wir können gerade schwer auf dich verzichten.“

„Ja, es geht schon wieder. Nur eine kleine Magenverstimmung“, wiegelte Caroline ab. „Habe ich viel verpasst?“

„Leider ja, aber Alva wird dich unterwegs informieren. Ihr beide fahrt zu den Eltern des vermissten Jungen und befragt sie eingehend. Worum es dabei in erster Linie geht, muss ich euch nicht erklären. Sie werden nicht in der besten Verfassung sein, darum ist Fingerspitzengefühl gefragt. Sven und Jördis, ihr hört euch in der Nachbarschaft um. Erfragt dabei nicht nur, ob jemand gestern etwas gesehen hat. Auch Beobachtungen, die schon Tage zuvor gemacht wurden, können von Bedeutung sein. Wenn wir von einer Entführung ausgehen, dürfte das Haus der Lindells schon vorher ausgespäht worden sein. Eine spontane Tat halte ich für unwahrscheinlich.“

„Ich hoffe, der Junge wird doch noch gefunden“, sagte Jördis.

„Das hoffen wir alle“, erwiderte Rurik.