4.

Sina Lindell saß im Wohnzimmer auf der Couch und lauschte dem an- und abschwellenden Dröhnen des Hubschraubers, der seit gestern Mittag ununterbrochen über der Gegend kreiste. Durch die Terrassentür sah sie die lange Menschenkette aus Polizeibeamten und freiwilligen Helfern, die auf den Waldrand zustrebten. Wenn sie zurückkehrten, wirkten sie jedes Mal erschöpft und resigniert. Viele von ihnen waren die ganze Nacht ununterbrochen im Einsatz gewesen. Bisher gab es keine Spur von Bent.

Udo trat ins Zimmer, er brachte ein Tablett mit belegten Broten mit. „Du hast heute überhaupt noch nichts gegessen, versuch es wenigstens“, sagte er. „Wenn du zusammenbrichst, ist niemandem damit geholfen.“

Sina schüttelte stumm den Kopf, schon der Gedanke an Essen verursachte ihr Übelkeit. Sie verstand nicht, wie Udo in dieser Situation derart ruhig bleiben konnte. Gestern war er erst in der Nacht aus Lund zurückgekehrt, obwohl sie ihn gebeten hatte, sofort zu kommen. Noch immer empfand sie deshalb einen leisen Groll auf ihn. Sicher war das ungerecht von ihr, Udo hatte sich anfangs einfach nicht vorstellen können, wie ernst die Situation war. Das hatte sich inzwischen geändert. Seine Praxis blieb heute geschlossen, sämtliche Termine waren abgesagt. Erledigt hatte das Frauke, die Sprechstundenhilfe von Udo. Gegen 10 Uhr kam sie vorbei und fragte, ob sie irgendwie behilflich sein könne. Udo sprach lange in der Küche mit ihr. Danach kochte sie Kaffee für die Polizisten und freiwilligen Helfer. Zwischendurch kehrte sie immer wieder ins Zimmer zurück und versuchte Sina zu trösten, die für ihre Worte aber völlig unempfänglich war. Wie sollte Frauke ihre Gefühle auch nachempfinden, da sie selbst keine Kinder hatte?

„Was tun die da?“ Sina sprang vom Sofa auf, als sie die Männer in den weißen Overalls bemerkte, die sich hinter dem Zaun zu schaffen machten.

„Die sind von der Spurensicherung.“ Udo stellte ihr frischen Kaffee hin, dem sie keine Beachtung schenkte.

„Wieso sichern sie Spuren? Sie glauben, dass Bent entführt wurde? Oder dass er tot ist?“ Ihre Stimme kippte vor Aufregung.

Udo legte ihr die Hand auf die Schulter. „Sie glauben überhaupt nichts, sondern machen nur ganz systematisch ihre Arbeit. Solange wir nicht wissen, was mit Bent passiert ist, darf man nichts außer Acht lassen, auch wenn es noch so unwahrscheinlich ist. Heute Abend ist Bent bestimmt schon wieder bei uns, ich bin ganz zuversichtlich.“

Sina begriff nicht, woher Udo diese unerschütterliche Gewissheit nahm. Vermutlich täuschte er sie ihr zuliebe nur vor, um sie vor dem völligen Zusammenbruch zu bewahren.

Udo ging in die Küche, wo Frauke gerade eine weitere Thermoskanne mit Kaffee füllte. „Wie geht es ihr?“, fragte sie. „Solltest du ihr nicht noch etwas zur Beruhigung geben?“

„Später vielleicht“, antwortete er. „Ich denke, jemand von der Polizei wird bald wieder mit uns reden wollen. Da muss sie einen klaren Kopf haben. Bisher gibt es nicht die geringste Erklärung für das Verschwinden von Bent. Sie war die Letzte, die ihn gesehen hat, alles, woran sie sich erinnert, ist wichtig. Ich habe das Gefühl, mich mitten in einem Albtraum zu befinden.“ Er seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Frauke strich ihm sanft über den Arm. „Es ist schrecklich, aber du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. Bisher haben sie Bent nicht gefunden. Das muss kein schlechtes Zeichen sein.“

Udo starrte Frauke erschrocken an, weil sie das Ungeheuerliche ausgesprochen hatte. Solange man keine Leiche gefunden hatte, bestand die Hoffnung, dass Bent zumindest am Leben war.