5.

„Geht es dir wirklich gut?“, fragte Alva, als sie mit Caroline im Wagen saß.

„Es ist nichts weiter, nur eine kleine Magenverstimmung, nicht der Rede wert.“

Da Caroline das Thema sichtlich unangenehm war, sagte Alva nichts weiter dazu. Sie erzählte stattdessen, was sie über das Verschwinden des Kindes wusste.

„Wenn wir Glück haben, wurde er inzwischen gefunden“, meinte Caroline. So richtig gut schien sie sich nicht zu fühlen und hoffte daher wohl, den Einsatz schnell hinter sich zu bringen. Als sie beim Haus der Familie Lindell ankamen, sah es jedoch nicht danach aus. Das dort versammelte Polizeiaufgebot war beachtlich. Ein Mann, bei dem es sich um den Einsatzleiter handeln musste, wies gerade neue Kräfte aus dem Suchtrupp ein. Alva ging auf ihn zu. „Noch keine Spur von dem Jungen?“, fragte sie.

Der Mann schüttelte den Kopf, seine Augen waren vor Müdigkeit gerötet. „Nichts bisher“, sagte er. „Die ersten vierundzwanzig Stunden sind inzwischen um. Der Hubschrauber hat die ganze Nacht über mit einer Wärmebildkamera nach dem Jungen gesucht. Wenn er irgendwo hier draußen wäre, hätten wir ihn gefunden.“

„Sind die Eltern im Haus?“, wollte Alva wissen.

Er nickte. „Sie sind beide drin. In deren Haut möchte man jetzt nicht stecken.“

Alva gab Caroline ein Zeichen, ihr zu folgen. Die Haustür war offen, im Flur kam ihnen eine schlanke dunkelhaarige Frau entgegen.

„Frau Lindell?“, fragte Alva. Die so angesprochene Frau schüttelte den Kopf. „Ich bin Frauke Roos, die Sprechstundenhilfe von Dr. Lindell. Ich versuche, mich ein wenig nützlich zu machen in dieser schrecklichen Situation. Sie sind sicher von der Polizei.“

Alva fragte sich, ob man ihr das sofort ansah. „Kriminalinspektorin Alva Claesson, das ist meine Kollegin Caroline Wikström“, stellte sie vor. „Wir müssen mit den Eltern sprechen.“

„Kommen Sie mit, Herr und Frau Lindell sind im Wohnzimmer.“ Wie eine Empfangsdame meldete Frauke Roos die Kriminalistinnen an. Ungefragt stellte sie ihnen Tassen hin und goss aus einer Kanne, die bereits auf dem Tisch stand, Kaffee ein. Auf dem Sofa saß eine blonde, ausgesprochen attraktive Frau, die wie versteinert wirkte. Der Mann neben ihr hatte hellbraunes Haar, das sich in der Stirn bereits lichtete, und einen Bauchansatz. Er stand auf, um Alva und Caroline zu begrüßen, dabei wirkte er auffallend beherrscht. Anschließend setzte er sich wieder zu seiner Frau und legte den Arm um sie, als wolle er sie beschützen.

„Uns ist klar, wie belastend die Situation für Sie beide ist, trotzdem müssen wir Ihnen einige Fragen stellen“, eröffnete Alva das Gespräch.

„Fragen Sie“, sagte der Mann. „Wir wollen alles tun, was hilft, unseren Sohn schnell zu finden.“

„Haben Sie irgendeine Vermutung, was mit dem Jungen passiert sein könnte?“, fragte Alva.

„Nicht die geringste, was ist das für eine Frage? Worauf wollen Sie hinaus?“ Alva registrierte, wie verunsichert er auf einmal wirkte. Verstand er nur die Frage nicht oder hatte sie einen wunden Punkt berührt?

„Dann will ich mich präziser ausdrücken“, sagte sie. „Könnte jemand, der Ihren Jungen kennt, ihn einfach mitgenommen haben? Aus welchen Gründen auch immer. Das kann ein Verwandter sein, der sich vom Umgang mit dem Kind ausgeschlossen fühlt. Oder eine jugendliche Person, die gelegentlich mit ihm spielt. Wir hatten schon Fälle, in denen Kinder von den eigenen Großeltern entführt wurden. Oder von einem halbwüchsigen Mädchen aus der Nachbarschaft, das in ein Baby vernarrt war. Denken Sie bitte in Ruhe nach.“

Udo Lindell schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, das ist ausgeschlossen. Würde eine solche Möglichkeit existieren, wäre sie uns längst in den Sinn gekommen. Meine Frau hat keine Eltern mehr und mein alter Vater lebt in einem Pflegeheim. Es gibt in der Nachbarschaft niemanden, mit dem Bent spielt. Wozu auch? Er hat jede Menge Freunde in der Kindertagesstätte.“

Alva leitete zum nächsten Punkt über. „Könnte es sein, dass Sie erpresst werden sollen?“

„Sie meinen, jemand könnte Lösegeld für Bent verlangen? Das halte ich für ausgeschlossen, da hätte er mit mir eine schlechte Wahl getroffen. Wissen Sie, was man als Gynäkologe im Gesundheitszentrum verdient?“ Alva wusste es nicht, nahm aber an, es war mehr als ihr eigenes Gehalt bei der Polizei.

„Die Uhren“, sagte Sina Lindell plötzlich, die bisher noch kein Wort von sich gegeben hatte.

„Was meinen Sie damit?“, fragte Alva und schaute sie direkt an.

„Mein Mann hat eine wertvolle Uhrensammlung.“

„Jetzt übertreibst du aber.“ Udo Lindell tat die Äußerung mit einer Handbewegung ab. „Wegen der paar Uhren, die so wertvoll gar nicht sind, entführt doch niemand ein Kind.“

„Es könnte ein Anhaltspunkt sein, weshalb man Sie für vermögend hält.“ Alva wollte die Möglichkeit nicht außer Acht lassen. „Woher beziehen Sie Ihre Uhren?“

„Einige habe ich auf Auktionen oder im Internet erworben. Andere ganz normal im Geschäft.“

„Demnach können mehrere Personen davon wissen.“

„Ja sicher, und das dürfen sie getrost wissen“, entgegnete Udo Lindell unwirsch. „Dabei geht es um keine Beträge, die ein Verbrechen rechtfertigen. Können wir diesen Punkt abschließen?“

Normalerweise würde Alva jetzt darauf hinweisen, dass sie es war, die entschied, wann ein Thema abgeschlossen war. Doch mit Rücksicht auf die Situation, in der sich Udo Lindell gerade befand, sah sie davon ab.

„Dann kommen wir jetzt zu einem letzten Punkt. Er ist wichtig, denken Sie bitte gut darüber nach. Haben Sie in den vergangenen Tagen und Wochen etwas Verdächtiges bemerkt? Personen, die Ihr Haus ausgespäht oder sich sonst auffällig verhalten haben.“

Udo Lindell schaute seine Frau an. Sie schüttelte stumm den Kopf.

„Mir ist auch nichts aufgefallen“, sagte er.

„Manchmal fällt es einem erst später ein. Sollte das der Fall sein, rufen Sie uns bitte an, auch wenn es Ihnen noch so unwichtig erscheint. Wir tun alles, um Ihren Jungen zu finden, bleiben Sie zuversichtlich.“

Udo Lindell begleitete Alva und Caroline nach draußen. Dort trafen sie auf Lucas Marklund, den Chef der Spurensicherung.

„Habt Ihr was gefunden?“, fragte Alva hoffnungsvoll.

„Das war alles andere als ergiebig“, entgegnete Marklund missmutig. „Der Boden ist durch den fehlenden Regen völlig ausgetrocknet, da findet man keine Spuren. Der mutmaßliche Täter hat uns auch nicht den Gefallen getan, ein Taschentuch zu verlieren oder einen Knopf von seiner Jacke. In Ermangelung anderer Möglichkeiten haben wir von der Stelle des Zauns, wo die Schaufel des Jungen lag, Abstriche gemacht. Von der Schaufel ebenfalls, falls der Entführer sie berührt hat.“

Alva stellte sich die Szene vor, wie der Junge mit der Schaufel in der Hand zum Zaun lief. Er hielt sie immer noch fest, als ihn jemand über den Zaun hob, bis der Entführer sie ihm abnahm und zurückwarf.

„Es ist eine Möglichkeit“, sagte sie. „Besser als nichts.“

Marklund nickte. „Ich werde Vergleichsproben von den Eltern nehmen. Dann müssen wir schauen, ob es was bringt.“

Alva und Caroline stiegen in den Wagen, Alva setzte sich ans Steuer.

„Welchen Eindruck hast du von den Lindells?“, fragte sie, nachdem sie losgefahren war.

Caroline zögerte mit der Antwort. „Die Frau steht offensichtlich unter Schock“, sagte sie dann. „Er meistert die Situation, was bleibt ihm anderes übrig. Einige deiner Fragen schienen ihm unangenehm zu sein, ich frage mich, weshalb.“

Die gleiche Frage stellte Alva sich auch.