7.

Alva überlegte, ob sie Birger anrufen sollte. Sie war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte eine Kleinigkeit gegessen, ihre erste Mahlzeit seit dem Frühstück am Morgen. Sie und Birger hatten im Sommer gemeinsam einen wunderschönen Urlaub in Italien verlebt. In stillem Einvernehmen hatten sie jeden Tag genossen und keinen Gedanken an die Zukunft verschwendet. Seitdem lebten sie ihre Beziehung fast ausschließlich an den Wochenenden, die sie mal in seiner und mal in ihrer Wohnung verbrachten. Alva gefiel diese Mischung aus Zweisamkeit und persönlichen Freiräumen, Birger schien es genauso zu gehen. Obwohl sie nicht direkt darüber sprachen, glaubte Alva, dass er kein zweites Mal eine Familie gründen wollte, zu tief saß die Trauer über den Tod seiner Tochter bei ihm. Ihr kam das entgegen, denn auch sie fühlte sich nicht dazu bereit. Wir sind zwei einsame Wölfe, die allein ihre Kreise ziehen und sich in den kalten Winternächten aneinander wärmen, dachte sie zuweilen. Das war natürlich ironisch gemeint, denn Birger gab ihr viel mehr als ein wenig Wärme. Mit niemandem konnte sie sich so gut austauschen, sein Rat und seine Unterstützung waren für sie unverzichtbar geworden. Deshalb jetzt auch der Gedanke, ihn anzurufen. Bestimmt hatte er schon vom Verschwinden des Jungen gehört und sie wollte zu gern seine Meinung dazu hören. Das Klingeln des Telefons nahm ihr die Entscheidung ab. Es war nicht Birger, der sich meldete, sondern Rurik.

„Tut mir leid, dir den Feierabend zu verderben, aber du musst gleich noch mal los. Wir haben eine Leiche.“

Alva merkte, wie ihr ganz kalt wurde. „Ist es der Junge?“, fragte sie.

„Nein, es handelt sich um eine Frau, die in ihrer Wohnung überfallen und ausgeraubt wurde. Ihre Tochter hat sie gefunden.“

„In Ordnung, ich mache mich gleich auf den Weg.“ Wenigstens ist es nicht der Junge, dachte Alva und schämte sich gleich darauf für ihre Erleichterung darüber. Es gab keine schrecklichen und weniger schrecklichen Morde, für die Angehörigen war es in jedem Falle furchtbar. Und doch ging es ihr, wenn Kinder betroffen waren, immer besonders nahe. Bei ihren Kollegen war das nicht anders.

„Ich bin schon unterwegs zu dir und hole dich ab“, sagte Rurik.

Kurz darauf hielt der Streifenwagen vor ihrer Haustür. Rurik trug eine nagelneue Lederjacke, die ihm gut stand, Alva sagte es ihm. Seine neue Partnerin war zweifellos in jeder Beziehung ein Gewinn für ihn. „Wohin fahren wir?“, fragte sie.

„Nach Högsbo. Bei der Toten soll es sich um eine Gynäkologin handeln, die im dortigen Gesundheitszentrum tätig war. Mehr weiß ich auch noch nicht.“

„Wo wurde sie getötet? In ihrer Praxis?“ Alva dachte über den merkwürdigen Zufall nach. Erst gestern war der Sohn eines Gynäkologen verschwunden. Und heute war eine Fachkollegin des Vaters einem Verbrechen zum Opfer gefallen.

„Nein, in ihrem Haus in Högsbo. Sie lebte seit dem Auszug ihrer Tochter allein dort.“

Nach knapp zehnminütiger Fahrt kamen sie in Högsbo an. Das Einfamilienhaus aus den Sechzigerjahren war sorgfältig restauriert und wirkte mit seinem weißen Anstrich und den Blumenkübeln auf der kleinen Rasenfläche davor anheimelnd. Auf den ersten Blick hielt man es kaum für möglich, dass dies der Schauplatz eines Gewaltverbrechens sein sollte. Lediglich der Krankenwagen und der Polizeiwagen, die direkt davor parkten, lieferten einen ersten Hinweis. Ein Streifenbeamter kam auf Alva und Rurik zu. Sein Nachname fiel Alva nicht ein, er wurde von allen nur Ole genannt. Mit seinem stämmigen Körperbau und seiner behäbigen Sprechweise hatte er etwas von einem gutmütigen Bären.

„Die Tote heißt Ebba Sundin, dreiundfünfzig Jahre alt und Ärztin im Gesundheitszentrum in Högsbo. Sie lebte allein hier. Ihre Tochter hat uns informiert. Sie hat einen Schock erlitten und wird gerade ärztlich versorgt.“ Er wies auf den offenen Krankenwagen, in dem sich zwei Sanitäter um eine junge Frau bemühten. „Kein Wunder, der Anblick da drinnen im Haus ist schon heftig.“

Ein junger Mann mit Brille und Stoppelhaarschnitt gesellte sich zu ihnen und stellte sich als Arzt vor. „Für das Opfer konnte ich nichts mehr tun, nur noch den Tod feststellen“, sagte er.

„Begleiten Sie uns bitte trotzdem nach drinnen, wir haben eventuell noch Fragen“, sagte Rurik. Ein weiterer Wagen hielt vor dem Haus, ihm entstiegen Sven und Jördis.

„Caroline kommt etwas später, es geht ihr gerade nicht gut. Die Magenverstimmung macht ihr immer noch zu schaffen“, erklärte Jördis deren Abwesenheit.

Nachdem sie ihre Schuhe mit Überziehern versehen hatten, betraten sie zu fünft das Haus. In dem kleinen verglasten Vorbau wirkt alles aufgeräumt, auf einem Tisch an der Seite stand ein Strauß gelber Astern. Im Wohnzimmer, wo die Tote lag, bot sich jedoch ein Bild der Verwüstung. Sämtliche Schubladen waren aus den Schränken gerissen und ausgekippt worden. Papiere und Textilien bildeten ein heilloses Durcheinander, Glassplitter waren auf dem Boden verstreut. Inmitten dieses Chaos lag die Tote ausgestreckt auf dem Bauch. Bekleidet war sie mit einer blauen Jogginghose, einem beigefarbenen Shirt und dicken blauen Wollsocken. Am Hinterkopf klaffte eine hässliche Wunde, das kurze braune Haar der Toten war mit Blut verklebt. Um ihren Kopf herum hatte sich eine Lache geronnenen schwärzlichen Blutes gebildet. Teilweise war es von dem hellen Wollteppich, auf dem sie lag, aufgesogen worden.

„Wahrlich kein schöner Anblick“, murmelte Rurik. Dann drehte er sich zu dem Arzt um. „Was können Sie uns zu Todesursache und Todeszeitpunkt sagen?“, fragte er.

„Die Todesursache ist in diesem Falle ziemlich klar, sie hat einen mit großer Wucht ausgeführten Schlag auf den Hinterkopf bekommen. Was den Todeszeitpunkt angeht, bin ich auf Schätzungen angewiesen. Die Totenstarre ist voll ausgebildet, die Totenflecken sind zumindest teilweise noch wegdrückbar. Ich würde sagen, sie ist auf jeden Fall länger als zwölf Stunden tot, aber weniger als dreißig Stunden. Vermutlich starb sie irgendwann zwischen gestern Abend und heute Morgen. Tut mir leid, aber ein genaueres Ergebnis kann ich auf die Schnelle nicht liefern. Sie liegt in einem beheizten Raum, hinsichtlich des Abfalls der Körpertemperatur müsste ich da einige Berechnungen anstellen.“ Der Arzt zuckte bedauernd mit den Schultern.

„Schon gut, das soll uns fürs Erste genügen.“ Eine genauere Todeszeitbestimmung würde durch die Rechtsmedizin vorgenommen werden, jetzt kam es vor allem darauf an, keine Spuren zu kontaminieren. Die Spurensicherung war bereits informiert und musste jeden Moment eintreffen. Rurik schaute sich suchend um.

„Seht ihr irgendwo die Tatwaffe?“, fragte er seine Kollegen.

„Auf den ersten Blick jedenfalls nicht“, erwiderte Alva und die anderen stimmten ihr zu. Die Spurensicherung würde gründlich danach suchen müssen, auch im näheren und weiteren Umfeld des Hauses. Nicht selten entledigten sich Täter der Waffe und ihrer blutbesudelten Kleidung erst in einiger Entfernung vom Tatort. Sie wollten den Raum verlassen, um Lucas Marklund, der inzwischen mit seinem Team eingetroffen war, Platz zu machen. Auf der Schwelle blieb Alva jedoch stehen und schaute zurück. „Hier stimmt etwas nicht“, stellte sie fest.

„Was meinst du damit?“ Rurik trat hinter sie.

„Dieses Chaos, das ist nicht normal.“

„Es war vermutlich ein Raubmord, der Täter hat alles durchwühlt“, ließ sich Sven aus dem Hintergrund vernehmen. „Er wird in Panik gewesen sein und hatte es eilig.“

„Nein.“ Alva war sich plötzlich sicher. „Es soll nur wie ein Raubmord aussehen, aber es war keiner. Euch sind doch die Scherben auf dem Boden bestimmt auch aufgefallen.“

„Nicht nur das, ich bin reingetreten.“ Sven musterte den zerschnittenen Überzieher an seinem rechten Fuß. Das würde Ärger mit Lucas geben, der in diesem Punkt äußerst penibel war. Kollegen, die an einem Tatort nicht sorgsam vorgingen, titulierte er schon mal als Spurenvernichtungskommando.

„Die Scherben stammen von gerahmten Fotografien, die dort auf der Kommode gestanden haben müssen“, fuhr Alva fort. „Wenn jemand nach Wertsachen sucht, ist das Durchwühlen von Schubladen logisch. Das mutwillige Herunterwerfen von allem, was auf Tischen und Schränken steht, ist es dagegen nicht. Hier ging es jemandem darum, schnell möglichst viel Unordnung zu erzeugen.“

„Jetzt, wo du es sagst, kommt es mir auch so vor“, stimmte Rurik ihr zu. „Aber es ist zu früh für endgültige Feststellungen. Lassen wir Lucas seine Arbeit tun. Auch sollten wir mit der Tochter reden. Sobald sie die Wohnung wieder betreten darf, wird sie uns vielleicht sagen können, ob etwas fehlt.“

Ein Mitarbeiter der Spurensicherung war damit beschäftigt, die Haustür zu untersuchen. „Keine Einbruchsspuren“, sagte er. „Sie muss den Täter ins Haus gelassen haben.“

„Demnach kannte sie ihn vermutlich“, stellte Rurik fest.

„Das ist anzunehmen“, stimmte Alva ihm zu. „Es sieht für mich allerdings nicht so aus, als hätte sie Besuch erwartet. Sie trug legere Kleidung, wollte es sich daheim bequem machen. Dann tauchte der Besucher auf. Sie ließ ihn herein und ging voran ins Wohnzimmer. Dabei wurde sie unvermittelt von hinten niedergeschlagen.“

Niemand widersprach, allen erschien dieser Ablauf wahrscheinlich. Der Krankenwagen stand noch immer vor dem Haus, doch die Frau, die von den Sanitätern behandelt worden war, verließ ihn gerade. Rurik ging auf sie zu.

„Entschuldigen Sie, sind Sie die Tochter?“, fragte er.

Die junge Frau nickte, sie war sehr bleich.

„Mein aufrichtiges Beileid. Es ist bestimmt nicht einfach für Sie, darf ich Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen?“

„Ja, fragen Sie.“ Bereitwillig gab sie ihre Personalien an. Smilla Sundin war neunundzwanzig Jahre alt und von zierlicher Statur. Mit ihren großen grünen Augen, in denen sich das Entsetzen über das soeben Gesehene widerspiegelte, und dem kindlich runden Gesicht wirkte sie sehr jung.

„Frau Sundin, Sie wohnen nicht hier?“

„Nein, ich wohne in Frölunda. Dort arbeite ich auch. Ich bin Erzieherin in einem Kindergarten.“

„Sie haben Ihre Mutter gefunden. War es ein Zufall, dass Sie bei ihr vorbeischauen wollten?“

Smilla Sundin schüttelte den Kopf, ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ihre Sprechstundenhilfe hat mich angerufen. Sie sagte mir, meine Mutter wäre heute nicht zur Arbeit erschienen und sei telefonisch nicht erreichbar.“

„Wann hätte ihre Sprechstunde heute angefangen?“

„Montags arbeitete sie nachmittags, von 15 bis 18 Uhr. Die Sprechstundenhilfe rief mich gegen 16:30 Uhr an. Ich versuchte zunächst ebenfalls, meine Mutter telefonisch zu erreichen, aber ohne Erfolg. Nach der Arbeit bin ich dann gleich hergefahren.“ Ihre Stimme brach.

„Wie sind Sie ins Haus gekommen?“

„Ich habe einen Schlüssel, aber den brauchte ich nicht. Die Tür war offen.“

„Kam Ihnen das merkwürdig vor?“

„Ich habe nicht darüber nachgedacht, ich bin gleich ins Haus gegangen, und da lag sie und alles war voller Blut.“ Sie begann zu schluchzen.

„Schon gut“, sagte Rurik beschwichtigend, da er fürchtete, Smilla Sundin könne gleich wieder zusammenbrechen. „Um welche Uhrzeit war das?“

„19 Uhr vielleicht etwas später.“

„Und wann haben Sie Ihre Mutter zuletzt gesehen?“

„Das war gestern, wie haben hier bei ihr zusammen zu Mittag gegessen, das machen wir oft.“ Sie weinte nun heftig, ihre letzten Worte waren kaum zu verstehen. Alva gab Rurik ein Zeichen, es gut sein zu lassen. „Wie kommen Sie nach Hause?“, fragte sie Smilla Sundin.

Die junge Frau deutete wortlos auf einen roten Kleinwagen.

„Ich denke, Sie sollten jetzt nicht fahren, ich bringe Sie nach Hause.“ Smilla Sundin ließ es zu, dass Alva sich neben sie ans Steuer setzte. Sie fuhren los und die anderen folgten ihnen im Dienstwagen. Sie hielten vor dem mehrstöckigen Block, in dem sich die Wohnung von Smilla Sundin befand.

„Leben Sie allein?“, fragte Alva.

Smilla nickte. „Mein Freund und ich, wir haben uns kürzlich getrennt.“

Auch das noch, dachte Alva. Ihr war nicht wohl dabei, die junge Frau allein zu lassen. „Können Sie jemanden anrufen, der sich um Sie kümmert?“

„Das ist nicht nötig, ich komme jetzt allein zurecht. Und danke für Ihre Hilfe.“

Nachdem Smilla im Haus verschwunden war, stieg Alva zu ihren Kollegen in den Dienstwagen. „Wir werden noch einmal mit ihr reden müssen, aber heute wäre es zu viel für sie gewesen“, sagte sie. Auch sie fühlte sich erschöpft. Es war kein guter Tag gewesen, erst der verschwundene Junge und nun auch noch eine tote Frau. Als sie endlich zu Hause war, fühlte sie sich zu erschöpft, um Birger anzurufen. Außerdem ging es inzwischen auf Mitternacht zu, vermutlich schlief er bereits. Alva ging ebenfalls zu Bett, fand in der Nacht aber wenig Schlaf. Sie dachte an die Eltern des verschwundenen Jungen und an Smilla, die auf furchtbare Art ihre Mutter verloren hatte. Als sie endlich einnickte, verdichteten sich ihre Gedanken zu bedrohlichen Träumen, aus denen sie mehrmals hochschreckte. Entsprechend zerschlagen fühlte sie sich am nächsten Morgen.