8.

In Sina Lindells neuer Zeitrechnung brach der dritte Tag an. Seit vierundvierzig Stunden gab es keine Spur von Bent. Schon zum zweiten Mal hatte sie ihn am gestrigen Abend nicht wie sonst ins Bett gebracht und ihm eine Geschichte vorgelesen. Zum zweiten Mal konnte sie ihn an diesem Morgen nicht wecken, nicht sein vom Schlaf zerzaustes Haar streicheln und seine kleinen Arme um ihren Hals spüren, wenn sie ihn aus seinem Bett hob. Der Schmerz beim Anblick des verwaisten Kinderzimmers nahm ihr fast den Atem. Es fühlte sich an, als wäre die Temperatur im ganzen Haus um mehrere Grad gesunken.

Frauke war in die Praxis gefahren und kümmerte sich darum, alle Termine für diese Woche abzusagen. Udo war daheim und übernahm es, für die Mahlzeiten zu sorgen und Kontakt zur Polizei zu halten. Auch er war unruhig. Nichts tun zu können, um seinen Sohn zu finden, setzte ihm sichtlich zu. Sina empfand Dankbarkeit für seine Rücksichtnahme, er machte ihr nicht die geringsten Vorwürfe. Sie selbst war es, die sich das Gehirn zermarterte und sich mit Schuldgefühlen plagte, weil sie Bent nicht ständig im Auge behalten hatte.

Udo stellte Kaffee, Müsli und Brot auf den Frühstückstisch. „Du musst versuchen, etwas zu essen“, sagte er zu ihr.

„Ich schaffe es einfach nicht. Immer wieder durchlebe ich diese Minuten, in denen es passiert sein muss. Wenn ich Bent nicht allein draußen gelassen hätte ...“

„Sina, das bringt doch nichts.“ Udo machte eine ungeduldige Handbewegung. „Wir haben den eingezäunten Platz vor der Terrasse angelegt, damit Bent auch mal für ein paar Minuten unbeaufsichtigt spielen kann. Normalerweise kann ihm dort nichts geschehen, wer rechnet denn mit einer Entführung, noch dazu mitten am Tag, während du dich im Haus befindest. Ich glaube, das war keine spontane, sondern eine geplante Tat. Deshalb ist alles wichtig, woran du dich erinnerst. Ist dir vorher schon jemand aufgefallen, der unser Haus beobachtet hat? Denk bitte nach.“

„Aber das hat mich die Polizei doch auch schon gefragt“, erwiderte Sina. „Ich denke ständig darüber nach, aber mir fällt dazu einfach nichts ein.“ Sie begann zu weinen, Udo nahm ihre Hand. „Schon gut, reg dich nicht auf. Manchmal kommt die Erinnerung später, das haben Ermittler von der Kriminalpolizei auch gesagt. Ich gehe mal schauen, ob Post gekommen ist.“

Er stand auf und ging nach draußen. Auch er hatte fast nichts gegessen. Sina schob ihren Teller weg und schaute aus dem Fenster. Erwartete Udo wirklich, etwas im Briefkasten zu finden? Sie bekamen auf diesem Wege kaum noch Post, die meisten Nachrichten wurden elektronisch verschickt. Die Möglichkeit, bei der Entführung von Bent könne es sich um einen Erpressungsversuch handeln, bestritt Udo vehement. Auch die Polizei schien nicht davon auszugehen. Man hatte ihnen erklärt, bei Lösegeldforderungen würde die Kontaktaufnahme durch den Täter in der Regel innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Entführung erfolgen. Die waren inzwischen verstrichen. Aber was blieb übrig, wenn es nicht um Geld ging? War es die Tat einer verwirrten Frau, die sich sehnlichst ein Kind wünschte? Oder die schrecklichste aller Möglichkeiten: War der Täter ein Kinderschänder, der Bent erst missbrauchen, ihn dann umbringen und seine Leiche irgendwo verscharren würde? Sina spürte, wie ein schmerzhafter Krampf ihre Brust zusammenschnürte. Weshalb kam Udo nicht zurück? Sie sah ihn neben dem Briefkasten stehen und ein Stück Papier entfalten. Er stand da, schaute wie gebannt auf den weißen Zettel in seiner Hand und schien aufmerksam zu lesen. Ein Auto fuhr vor, es war der schwarze Peugeot von Frauke. Als wäre er bei etwas Unerlaubtem ertappt worden, drehte Udo sich hastig um. Er schob den Zettel in seine Hosentasche und ging auf Frauke zu. Sie führten eine kurze, sichtlich erregte Unterhaltung miteinander und kamen dann auf das Haus zu. Doch statt zu ihr in die Küche zu kommen, hörte Sina die beiden die Treppe hinaufgehen. Unter dem Dach hatte Udo sich sein eigenes kleines Refugium eingerichtet. Beunruhig durch das merkwürdige Verhalten ihres Mannes folgte Sina ihnen. Sie hörte ihre gedämpften Stimmen durch die Tür hindurch, als sie eintrat, verstummten sie abrupt.

Udo kam auf sie zu. „Sina, lass uns bitte einen Augenblick allein. Es gibt ein Problem mit einer Patientin von mir, über das wir uns kurz verständigen müssen. Da es vertraulich ist, können wir es nicht in deiner Gegenwart besprechen.“ Er machte eine Bewegung, als wollte er sie aus dem Zimmer drängen.

„Was war das für ein Zettel, den du gerade aus dem Briefkasten genommen hast? Hatte das mit der Patientin zu tun?“, fragte Sina.

Irritiert schaute er sie an und suchte nach einer Antwort. „Das war nichts, nur Werbung“, entgegnete er unwirsch.

„Dann zeig ihn mir bitte.“

Ihre Hartnäckigkeit verblüffte ihn, er reagierte verärgert. „Was soll das denn jetzt? Wieso willst du diesen Werbemüll lesen, den ich übrigens gleich in die Tonne geworfen habe? Hast du keine anderen Sorgen?“

Die Herzlosigkeit seiner Äußerung trieb Sina die Tränen in die Augen, sie erkannte ihren Mann nicht wieder. Wortlos drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Udo schloss die Tür hinter ihr. Danach saß sie in der Küche und wartete darauf, dass er kommen und sich entschuldigen würde. Aber Udo kam nicht und allmählich beruhigte sich Sina. Udo war von Bents Verschwinden nicht weniger betroffen als sie, nur beherrschte er seine Emotionen ihr zuliebe. Wenn nun aber noch berufliche Probleme hinzukamen, brachte das auch ihn an seine Grenzen. Deshalb durfte sie seine harsche Reaktion nicht überbewerten.

Nachdem fast eine Stunde vergangen war, tauchte Udo in der Küche auf. „Ich fahre mit Frauke in die Praxis, um etwas zu erledigen. Es wird nicht lange dauern und du kannst mich auf meinem Handy erreichen. Sei tapfer, ich bin bald wieder hier.“ Er küsste sie flüchtig auf die Stirn. Sina sah ihn draußen mit Frauke in deren Auto steigen und davonfahren. Kaum waren sie außer Sichtweite, erhob sich Sina und ging hinauf in das Zimmer von Udo. Sie konnte nicht sagen, was sie dort zu finden hoffte, es war eine diffuse Ahnung, die sie antrieb. In der offenen Tür blieb sie stehen und ließ ihren Blick über die hohen Bücherregale und den Schreibtisch schweifen. Sie konnte nichts Auffälliges entdecken, doch ein schwacher Brandgeruch hing in der Luft. Als sie näher an den Schreibtisch herantrat, entdeckte sie die Ursache: In einer Kupferschale befand sich unter einem abgebrannten Streichholz ein Häufchen frischer Asche, vermischt mit winzigen verkohlten Papierschnipseln. Sina vermutete sofort, dass es sich um die Reste des Zettels handelte, den Udo vorhin aus dem Briefkasten geholt hatte. Warum hatte er sie angelogen? War das eine Nachricht des Entführers von Bent gewesen, die Udo ihr vorenthalten hatte, um sie zu schonen? Gleich darauf verwarf sie den Gedanken. Dann hätte er den Zettel nicht verbrannt, sondern ihn der Polizei übergeben. Oder doch nicht? Entführer drohten oft mit dem Tod des Opfers, falls man die Polizei hinzuzog. War das der Grund, weshalb Udo den Zettel verbrannt und nicht einmal mit ihr darüber geredet hatte? Um Bents Leben nicht zu gefährden? Wollte er die Sache nun allein in die Hand nehmen? Sina fragte sich, was Udo jetzt plante und weshalb er offenbar Frauke ins Vertrauen zog. Die Ungewissheit war schwer zu ertragen, eine eiserne Faust presste ihr das Herz zusammen, sie rang nach Atem. Verzweifelt starrte sie auf die Papierasche, die das Geheimnis nie mehr preisgeben würde.