19.

Staatsanwalt Ole Hanson nahm an der morgendlichen Besprechung der Ermittlergruppe teil. Die Gewichtsabnahme war ihm anzusehen, Alva war sich nicht sicher, ob er ihr so besser gefiel. Durch seine Korpulenz hatte er Ruhe und Gemütlichkeit ausgestrahlt, jetzt wirkte er verdrossen. Die von Sven mitgebrachten Zimtschnecken lehnte er ab und knabberte stattdessen an einem trockenen Zwieback.

„Die Pressekonferenz morgen dürfte nicht angenehm werden“, sagte er. „Weder im Mordfall Ebba Sundin noch bezüglich des verschwundenen Jungen können wir Ermittlungserfolge vorweisen. Als wäre das nicht schon schlimm genug, werden die Journalisten auch Fragen zu den Ermittlungen gegen Staatsanwalt Nils Linnmann stellen. Da ist einiges durchgesickert.“

Alle schwiegen betreten und niemand schaute Caroline an. Inzwischen wussten sie, was Linnmann vorgeworfen wurde. Gegen Annahme von Bestechungsgeld hatte er Interna an Drogenbanden weitergegeben und sie so vor einem möglichen Zugriff der Polizei gewarnt. Es sollten erhebliche Summen geflossen sein, mit denen Linnmann seinen kostspieligen Lebensstil finanziert hatte.

Alva brach das Schweigen zuerst. „Wir machen keine Angaben zu einem laufenden Verfahren, mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“

„Willst du zur Pressekonferenz mitkommen?“, fragte Rurik. Alva nickte ergeben. Sie war alles andere als begeistert von dieser Aussicht. Normalerweise war das immer Carolines Aufgabe gewesen, was sich aktuell natürlich nicht anbot.

„Gut, kommen wir zum nächsten Punkt“, fuhr Hanson fort. „Wie es aussieht, werdet ihr nun auch im Fall der aus der Rechtsmedizin verschwundenen Leiche ermitteln müssen.“

„Wieso das denn?“ Rurik lief vor Ärger rot an. „Sollten das nicht andere übernehmen? Wir haben wahrhaftig genug zu tun.“

„Nicht so eilig, hör erst einmal in Ruhe zu“, beschwichtigte Hanson. „Es gibt Hinweise auf Zusammenhänge zwischen euren beiden Fällen und der weiblichen Leiche, die entwendet wurde.“

„Ich denke, das war ein Unfall?“, warf Sven ein. „Ist sie nicht betrunken eine Treppe hinuntergefallen?“

„Ja, so sah es bisher aus. Aber die Kollegen, die herausfinden sollten, wer ein Interesse an der Leiche der Verunglückten haben könnte, sind auf etwas gestoßen. Die Tote heißt Erika Frans, ist achtundzwanzig Jahre alt und lebte allein. Nachbarn berichteten, in den Tagen kurz vor ihrem Unfall sei zweimal eine Frau aufgetaucht, die unbedingt mit ihr reden wollte. Erika Frans habe sie abgewiesen, wobei es im Treppenhaus ziemlich laut zugegangen sein soll. Bei der Frau soll es ich um Ebba Sundin gehandelt haben, die ermordete Gynäkologin.“

Einen Moment lang herrschte Schweigen, alle waren von dieser Eröffnung überrascht. Dann stellte Alva eine Frage. „Wann ereignete sich der tödliche Unfall von Erika Frans?“

„Sie starb am Abend des 29. September, etwa zu dem Zeitpunkt, als auch Ebba Sundin in ihrer Wohnung erschlagen wurde.“

„War Erika Frans ebenfalls Gynäkologin?“, fragte Sven.

„Nein, sie arbeitete als Küchenhilfe in einer Behinderteneinrichtung. Ich habe alle wichtigen Informationen über sie für euch zusammengestellt. Irgendwie hängen all diese Fälle miteinander zusammen. Seht zu, wie ihr das unter euch aufteilt und möglichst schnell Licht ins Dunkel bringt. Ich muss jetzt leider los, ich habe noch eine andere Besprechung.“ Er erwähnte nicht, um was es dabei gehen würde, doch alle wussten es ohnehin. Carolines versteinerter Gesichtsausdruck sprach Bände.

Nachdem Hanson den Raum verlassen hatte, klatschte Rurik in die Hände. „Also gut, wie gehen wir vor? Wer übernimmt was? Sind noch Befragungen im Fall Ebba Sundin offen?“

Sven meldete sich zu Wort. „Wir müssen noch einige ihrer Kollegen befragen, die wir bisher nicht erreichen konnten, weil sie entweder verreist oder krank waren. Ich werde mich darum kümmern und auch gleich nach der Verbindung zu Erika Frans fragen.“

„Gut, mach das. Dann sollte Alva sich um die Befragung der Nachbarn von Erika Frans kümmern. Du kannst Jördis mitnehmen.“

Karla Hök

Caroline räusperte sich. „Wenn es möglich ist, würde ich Alva gern begleiten. Sven kann mit Jördis die anderen Befragungen durchführen.“

Rurik wollte widersprechen, aber als er Carolines niedergeschlagenen Gesichtsausdruck bemerkte, lenkte er ein. „Also gut, dann verteilt ihr euch eben so. Auf eines möchte ich aber hinweisen: Bei unserer angespannten Personalsituation und angesichts des aktuellen Ermittlungsdrucks können wir keine Querelen im Team gebrauchen. Und jetzt an die Arbeit.“

Mit seiner letzten Bemerkung spielte Rurik auf die Spannungen zwischen Sven und Caroline an. Weil er sich von ihrem überheblichen Auftreten genervt fühlte, war Sven Caroline mehrfach scharf angegangen. Inzwischen hatten sich die Wogen jedoch geglättet. Alva fragte sich, weshalb Caroline plötzlich trotzdem nicht mit ihm arbeiten wollte. Fürchtete sie hämische Kommentare wegen ihrer Beziehung zu Nils Linnmann? Dann schätzte sie Sven falsch ein. Nachzutreten, wenn es jemandem schlecht ging, war überhaupt nicht seine Art.

Als sie bereits gemeinsam im Wagen saßen, änderte Alva ihren Plan. „Bevor wir die Nachbarn von Erika Frans befragen, würde ich gern mit Malena Berglund sprechen“, sagte sie. „Das ist die junge Kollegin, mit der Ebba Sundin zusammenarbeitete und mit der sie auch persönlich befreundet war. Wenn uns jemand etwas darüber sagen kann, in welchem Verhältnis Ebba Sundin zu Erika Frans stand, dann ist sie es. Was hältst du davon?“

„Ja, das ist vernünftig.“ Caroline wirkte abwesend. Hatte sie überhaupt richtig zugehört? Alva wollte sie fragen, ob alles in Ordnung sei, doch Caroline kam ihr zuvor.

„Man wird mich auch befragen“, sagte sie. Alva brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, was sie meinte.

„Du meinst wegen Nils Linnmann? Was kann man dir vorwerfen?“

„Eine ganze Menge“, erwiderte Caroline sichtlich aufgewühlt. „Ich könnte von seinen Machenschaften gewusst und davon profitiert haben. Das reicht völlig aus, um mich für den Polizeidienst untragbar zu machen.“

„Aber du hast doch nichts gewusst.“ Alva war sich völlig sicher. Caroline hatte ihre Marotten, die den Umgang mit ihr manchmal nicht einfach machten, aber sie war absolut integer, daran zweifelte Alva keinen Augenblick.

„Danke, dass du so von mir denkst“, sagte Caroline leise. „Ich habe es gehofft, aber nicht alle werden das so sehen. Ich war naiv und habe mich von Nils blenden lassen. Er konnte seinen Lebensstil nicht von seinem Gehalt als Staatsanwalt finanzieren, das hätte mir klar sein müssen. Aber ich habe keine Fragen gestellt. Ich wollte mir meinen Traum nicht kaputt machen lassen. Außerdem habe ich Nils eine derartige Dummheit nicht zugetraut. Ich kann es immer noch nicht fassen.“

„Das verstehe ich, dem Menschen, den man liebt, will man nicht mit Misstrauen begegnen. Dadurch würde man die ganze Beziehung infrage stellen. Aber dein Nils ist nicht der Einzige, der einer Versuchung erlegen ist. Viele Kollegen regen sich darüber auf, wie sehr sich Verbrechen doch zu lohnen scheinen. Die Drogenbosse fahren die dicksten Schlitten und feiern rauschende Feste in den teuersten Lokalen, während so mancher Polizeibeamte einen Kredit aufnehmen muss, um die Reparatur für sein zwölf Jahre altes Auto bezahlen zu können. Wenn dann jemand mit einem dicken Geldbündel winkt und als Gegenleistung Informationen verlangt, bleibt nicht jeder standhaft.“

„Ich weiß, aber das ist keine Entschuldigung. Vor allem hätte Nils mich da nicht mit reinziehen dürfen. Ich hatte keine Ahnung von seinem Treiben, aber man kann mir vorwerfen, von seinem Lebensstil profitiert zu haben, ohne zu fragen, woher das Geld kommt. Man kann mir sogar unterstellen, ich müsste es zumindest geahnt haben. Weißt du, oft habe ich mich gefragt, ob ich mit meiner Berufswahl die richtige Entscheidung getroffen habe? Manchmal hätte ich am liebsten alles hingeworfen und etwas anderes gemacht. Aber jetzt, wo ich mit meiner Entlassung rechnen muss, jetzt merke ich plötzlich, dass ich gern Polizistin bin.“

„Caroline, sieh nicht gleich schwarz, so weit wird es mit Sicherheit nicht kommen. Wir alle, das ganze Team, stehen hinter dir und werden uns für dich einsetzen.“ Alva wusste, dass es so war, sie würden zusammenhalten. Um Carolines Mundwinkel zuckte es verräterisch, dann brach sie in Tränen aus.

„Ach Alva, die ganze Situation ist total verfahren, ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich bin schwanger.“ Sie sagte es genau in dem Moment, als sie auf den Parkplatz neben dem Ärztehaus einbogen. Alva fühlte sich mit der Situation überfordert. Am liebsten wäre sie sitzen geblieben und hätte Caroline getröstet. Doch dann gab sie sich einen Ruck. „Lass uns später in Ruhe darüber reden“, sagte sie. „Schaffst du es, jetzt zu dem Gespräch mit Malena Berglund mitzukommen? Wenn nicht, ist es kein Problem.“

„Nein, das schaffe ich schon.“ Caroline tupfte sich mit einem Taschentuch die Tränen ab. „Ich bin froh, dass du jetzt Bescheid weißt. Früher oder später hättest du ohnehin gemerkt, was los ist.“ Sie versuchte zu lächeln, aber so richtig gelang es ihr nicht.