21.

Die Wohnung von Erika Frans befand sich in einem leicht heruntergekommenen Wohnblock aus den Sechzigerjahren. Caroline musterte die mit Graffiti besprühte Fassade. „Sieht nicht besonders einladend aus“, sagte sie. „Erika Frans hat im dritten Stock gewohnt. Wo fangen wir mit unseren Befragungen an?“

„Wir fangen unten an und arbeiten uns nach oben durch“, schlug Alva vor. Die Haustür war nicht verschlossen und im Flur empfing sie eine Geruchsmischung aus Schimmel und angebranntem Essen. Caroline rümpfte die Nase, sagte aber nichts. In der ersten Wohnung rechts vom Eingang schien niemand zu Hause zu sein. Gegenüber hatten sie mehr Glück, eine ältere Dame öffnete die Tür. Ein übergewichtiger Dackel lugte zwischen ihren Beinen hervor und knurrte.

„Sei still, Jarle“, wies sie ihn zurecht. Alva stellte sich und Caroline vor.

„Wir haben ein paar Fragen zu Erika Frans, der Frau, die kürzlich tödlich verunglückt ist.“

„Dann kommen Sie herein. Ich habe die Erika gekannt, seit sie hier eingezogen ist.“

„Sehr freundlich, Frau Hök“, sagte Alva, die den Namen vom Klingelschild abgelesen hatte. Die Frau winkte ab. „Nennen Sie mich ruhig Karla, das machen alle hier. Möchten Sie Kaffee?“

Alva nahm das Angebot an, Caroline bat um ein Glas Wasser. Der Tisch in der Küche, an dem sie Platz nahmen, stand direkt vor dem Fenster. Von hier aus konnte man alles überblicken, was auf der Straße vor sich ging. Karla Hök räumte einen aufgeschlagenen Liebesroman und eine Brille beiseite, bevor sie die Tassen auf dem Tisch verteilte. Der dicke Dackel rollte sich unter einem Stuhl zusammen.

Noch während sie Kaffee eingoss, begann Karla Hök zu erzählen. „Das ist eine schreckliche Geschichte, was mit der Erika passiert ist. Alle hier im Haus sind völlig entsetzt. Besonders schlimm hat es Lilia getroffen, die hat sie nämlich gefunden, wie sie da tot unten an der Treppe lag. Ausgerechnet Lilia, sie ist schon über achtzig und hat es mit dem Herzen. Sie darf sich nicht aufregen, es ging ihr hinterher zwei Tage lang ziemlich schlecht.“

„Soweit uns bekannt ist, war Erika Frans betrunken, als sie gestürzt ist. Kam es öfter vor, dass sie zu viel trank?“, fragte Alva.

„Sie hatte das mit dem Trinken lange Zeit gut unter Kontrolle, aber dann fing sie plötzlich wieder damit an. Es war so einiges merkwürdig in letzter Zeit, erst diese Reise und danach wieder die Trinkerei. Ich denke, da steckte ein Mann dahinter. Er hat sie ausgenutzt und dann fallen gelassen. Sie war leider naiv wie ein Kind.“

Alva und Caroline tauschten einen Blick. Von einer Reise und von einem Mann im Leben von Erika Frans hatten sie bisher nichts gehört.

„Erzählen Sie uns bitte mehr darüber“, sagte Alva. „Was war das für eine Reise?“

Karla Hök zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, die Erika hat es niemandem verraten. Das war überhaupt nicht ihre Art, normalerweise trug sie das Herz auf der Zunge und plauderte alles aus, was sie bewegte. Aber plötzlich tat sie geheimnisvoll. Sagte nur, sie würde verreisen. Und dann blieb sie ganze vier Wochen weg, hatte sich auch von der Arbeit freigenommen. Ich habe sie natürlich hinterher gefragt, wo sie gewesen wäre, wir hatten immer ein gutes Verhältnis zueinander. Kein Wort hat sie gesagt, ist mir aus dem Weg gegangen, als hätte sie Angst vor mir. Und dann ging es mit dem Trinken wieder los. Ich frage mich, wo sie das Geld herhatte, viel verdiente sie schließlich nicht in ihrem Job als Küchenhilfe.“

„Sie deuteten etwas von einem Mann an, der hinter all dem stecken könnte. Wie kommen Sie darauf?“, fragte Alva.

„Liegt das nicht auf der Hand?“ Karla Hök goss sich Kaffee nach. „Irgendwer muss ihr die Reise und den Alkohol bezahlt haben. Die Erika sah niedlich aus mit ihrem Kindergesicht, den Sommersprossen und der Stupsnase. Sie kam bei Männern gut an, die ihre Naivität dann ausnutzten. Ich habe mir Sorgen um sie gemacht. Sie hatte schließlich bereits ein Kind, das bei Pflegeeltern aufwächst.“

„Wie alt ist das Kind jetzt?“ Alva war überrascht, auch das hatten sie nicht gewusst.

„Vier oder fünf Jahre, ich weiß es nicht genau. Die Zeit vergeht so schnell. Erika kam allein ganz gut zurecht, aber ein Kind großzuziehen, damit war sie überfordert. Es wäre nicht richtig gewesen, wenn sie weitere Kinder bekommen hätte.“

„Offenbar ist es dazu nicht gekommen, Erika war in frauenärztlicher Behandlung und wird verhütet haben.“ Alva ergriff die Gelegenheit, das Gespräch auf ihre nächste Frage zu lenken. „Ihre Frauenärztin, Frau Sundin, soll Erika Frans sogar hier im Haus aufgesucht haben. Wissen Sie etwas darüber?“

„Das war auch eine merkwürdige Geschichte.“ Karla Hök fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wolle sie ihre Gedanken ordnen. „Ich kannte die Frau Dr. Sundin gut, war selbst bei ihr in Behandlung. Zu Hause hat sie mich aber nie aufgesucht. Deshalb fand ich es seltsam, als ich Erika zusammen mit ihr hier ankommen sah. Sogar die Tasche mit den Einkäufen hat Frau Sundin der Erika getragen.“

„Wann war das genau?“, hakte Alva nach.

Karla Hök erhob sich schwerfällig und langte nach einem Kalender, der neben dem Kühlschrank an der Wand hing. Sie fuhr mit einem Finger über die Spalten und tippte dann auf eine Stelle. „Da war es, am 25. September. Das war ein Mittwoch, ich war vormittags beim Friseur gewesen. So gegen 17 Uhr saß ich am Fenster und habe gelesen. Das ist mein Lieblingsplatz, müssen Sie wissen, weil hier das Licht so gut ist.“

Nicht nur das Licht, sondern auch die Aussicht, dachte Alva. Für ihre Arbeit waren neugierige Nachbarn durchaus von Vorteil.

„Jedenfalls sah ich auf einmal Erika und Dr. Sundin gemeinsam auf das Haus zukommen. Sie sind nach oben in Erikas Wohnung gegangen. Nach anderthalb Stunden verließ Frau Sundin das Haus dann wieder. Ich habe Erika am nächsten Morgen darauf angesprochen, aber sie hat nur etwas Unverständliches gemurmelt und ist weitergegangen. Es war wirklich seltsam.“

„Wann war Erika von ihrer Reise zurückgekehrt?“

Die Antwort kam prompt und ohne zögern. „Am Freitag, dem 20. September. Sie kam in einem Taxi hier an und ist gleich rauf in ihre Wohnung gegangen, ohne mit jemandem zu sprechen.“ Demnach hatte die Begegnung mit Ebba Sundin fünf Tage danach stattgefunden. Ob sie sich zufällig getroffen hatten? Oder waren sie verabredet gewesen? Aber aus welchem Grund?

„War Frau Sundin noch ein zweites Mal bei Erika Frans?“, fragte Caroline.

„Ja, allerdings.“ Mit einer heftigen Handbewegung fegte Karla Hök beinahe ihre Tasse von Tisch. „Zwei Tage später, am Freitag war das. Wieder so gegen 17 Uhr. Diesmal hat die Erika sie nicht in die Wohnung gelassen. Richtig wütend ist sie geworden, so kannte ich Erika überhaupt nicht.“

„Die beiden haben demnach gestritten“, stellte Alva fest. „Um was ging es bei dem Streit?“

„Wenn ich das nur wüsste. Erika hat immerzu geschrien, sie soll weggehen und sie in Ruhe lassen. Frau Sundin redete auf sie ein, aber was sie sagte, war bei dem Lärm, den Erika machte, nicht zu verstehen. Schließlich ist sie gegangen. Zum Schluss hat sie gesagt, Erika solle noch einmal darüber nachdenken, sie könne sich jederzeit bei ihr melden. Aber worüber Erika nachdenken sollte, das hat niemand erfahren. Und nun ist sie tot, das arme Mädchen.“

Und Ebba Sundin ebenfalls, sie starb am gleichen Abend wie Erika, dachte Alva. Sie bedankte sich bei Frau Hök für das Gespräch und für den Kaffee. Zwei weitere Mieter befragten sie anschließend noch, ohne neue Informationen zu bekommen. Frau Hök erwies sich als die mit Abstand ergiebigste Quelle.

Caroline atmete tief durch, als sie wieder im Auto saßen. „Diese Erika Frans ist eine durch und durch geheimnisvolle Person“, sagte sie. „Erst verschwindet sie für vier Wochen und niemand erfährt, wo sie gewesen ist. Nun ist auch noch ihre Leiche verschwunden.“

„Mit dem Geheimnis hast du vermutlich recht“, sagte Alva. „Ich glaube, auf dieser Reise ist etwas geschehen, was niemand erfahren darf. Ebba Sundin scheint sich dafür interessiert zu haben und hat ihre Neugier mit dem Leben bezahlt.“

„So sehe ich das auch“, stimmte Caroline ihr zu. „Aber wie passt der verschwundene Sohn von Udo und Sina Lindell da rein?“

„Schwer zu sagen.“ Alva startete den Wagen. „Es gibt eine Verbindung zwischen Ebba Sundin und Udo Lindell. Die beiden haben in der Woche vor Ebba Sundins Tod mehrmals miteinander telefoniert. Wir wissen auch, dass Ebba Sundin und Erika Frans in Kontakt standen. Für mich ergibt sich die Frage, ob Udo Lindell und Erika Frans sich ebenfalls gekannt haben. Träfe das zu, wäre das Dreieck komplett.“

„Das ist eine interessante Frage. Was meinst du, sollten wir dem nicht sofort nachgehen?“ Caroline schaute auf ihre Uhr. „Lindell ist bestimmt schon zu Hause, so lange wird er nicht arbeiten.“

Alva nickte. „Ich bin dafür. Aber wir rufen vorher an. Wenn wir unangemeldet aufkreuzen, erschrecken wir die Lindells unnötig. Sie denken dann sofort, wir haben Nachrichten von ihrem Sohn.“

„Stimmt, obwohl es theoretisch auch gute Nachrichten sein könnten.“

„Nein“, erwiderte Alva. „Der Junge wurde mit Sicherheit entführt, aber es gibt keine Lösegeldforderung. Im schlimmsten Falle ist er tot. Uns bleibt nur die Hoffnung, er wird irgendwo festgehalten und wir finden ihn noch lebend.“