24.

Noch nie war ein Oktober so grau und trüb gewesen, davon war Sina überzeugt. Nachdem Udo abgereist war, saß sie im Wohnzimmer und schaute durch die Terrassentür hinaus in den strömenden Regen. Das Dach von Bents Spielhaus glänzte vor Nässe. Wie oft hatte er sich dort versteckt und sich diebisch gefreut, wenn sie scheinbar ratlos auf der Suche nach ihm über den Rasen geirrt war. Sinas Augen brannten, doch inzwischen hatte sie keine Tränen mehr. Sie fühlte sich wie ein Baum, der allmählich verdorrte, weil man seine Wurzeln gekappt hatte. Ihre Familie, Bent und Udo, sie hatten ihr Halt im Leben gegeben. Nun war dieser Halt verschwunden, der nächste Sturm würde sie endgültig zu Fall bringen.

Sina schleppte sich in die Küche. Obwohl sie keinen Hunger verspürte, machte sie sich ein belegtes Brot und würgte es mühsam hinunter. Es war ihr Mittagessen, den Lachs hatte sie eingefroren. Danach beschloss sie, sich wieder ins Bett zu legen. Neben den Beruhigungstabletten, die sie regelmäßig nahm, hatte ihre Ärztin ihr ein Schlafmittel verschrieben. Sina gab einige Tropfen davon in ein Glas Wasser und hoffte, ein paar Stunden Schlaf zu finden. Es war der einzige Weg, den quälenden Gedanken wenigstens kurzzeitig zu entkommen. Bents Lieblingsteddy lag in ihrem Bett, Sina drückte das Gesicht fest in sein weiches Fell und schlief bald darauf ein.

Mama, Mama, wo bist du? Schlagartig war Sina hellwach. Das war Bent, der nach ihr rief! Mama! Erneut schallte seine Stimme durchs Haus, gefolgt von seinem glucksenden Lachen. Sina sprang aus dem Bett, das Schwindelgefühl, das sie sogleich erfasste, hinderte sie nicht am Loslaufen. Bent war zurück, ihr Bent, und sie hätte es beinahe verschlafen.

„Bent, mein Schatz, hier bin ich! Mama ist hier!“ Sie lachte und weinte gleichzeitig, während sie die Treppe hinuntereilte. Alles verschwamm vor ihren Augen, sie verfehlte eine Stufe, stürzte, rutschte ein Stück abwärts und kam unten hart auf.

„Sina, was ist passiert? Hast du dich verletzt?“ Plötzlich stand Frauke vor ihr und hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Es interessierte Sina nicht, wo Udos Sprechstundenhilfe auf einmal herkam. Sie ließ sich von ihr aufhelfen, schob sich aber sogleich an ihr vorbei. „Bent, Bent wo bist du?“, rief sie.

Frauke packte sie von hinten am Arm. „Sina, was ist los, beruhige dich doch.“

„Lass mich, ich will zu Bent, wo ist er?“

„Sina, Bent ist nicht hier.“ Frauke war kräftiger als Sina und es gelang ihr, sie festzuhalten.

„Natürlich ist er hier, ich habe seine Stimme gehört. Er hat nach mir gerufen.“

„Sina, du hast geträumt.“

„Nein, ich war wach. Lass mich los, er ist hier.“ Sina trommelte mit beiden Fäusten auf Frauke ein.

„Schon gut, ganz ruhig.“ Frauke gelang es, Sinas Hände festzuhalten. „Wir gehen jetzt gemeinsam durchs Haus und schauen überall nach.“

Mit jedem Zimmer, das sie durchquerten, wuchs Sinas Verzweiflung. Als sie endlich einsehen musste, dass Bent nicht da war, brach sie zusammen. Die Enttäuschung war einfach zu groß. Frauke führte sie zur Couch im Wohnzimmer und redete tröstend auf sie ein. Nur langsam fand Sina in die Wirklichkeit zurück. Erst jetzt wunderte sie sich über Fraukes Anwesenheit. Sie musste keine Fragen stellen, Frauke begann von sich aus zu reden.

„Ich dachte mir, ich schaue mal bei dir vorbei und leiste dir ein wenig Gesellschaft, weil Udo in Lund ist. Ich habe uns Kuchen mitgebracht. Du hast mein Klingeln nicht gehört und die Tür war offen. Ich war oben bei dir im Schlafzimmer, aber du hast so fest geschlafen, ich wollte dich nicht wecken.“

Diese Aussage irritierte Sina, sie war der Ansicht, nur leicht gedöst zu haben. Sollte es wirklich anders gewesen sein? „Ich habe Bents Stimme gehört, ganz deutlich“, sagte sie.

Frauke schüttelte den Kopf. „Du hast geträumt, Sina.“

„Nein, es war anders. Ich wurde von seiner Stimme geweckt. Aber dann, als ich schon richtig wach war, hörte ich ihn wieder rufen und laut lachen. Ich bin mir ganz sicher.“

„Das hat sich alles nur in deinem Kopf abgespielt, Sina.“ Frauke legte tröstend den Arm um ihre Schulter. „Du musst dir deshalb keine Gedanken machen, in deiner momentanen Situation kann das vorkommen. Auch Udo ist es schon passiert, dass er Bent auf der Straße zu sehen glaubte. Er ist einem fremden Jungen gefolgt, bis er seinen Irrtum erkannte.“

Udo hatte ihr davon erzählt, Sina erinnerte sich daran. Er litt ebenfalls, sie tat ihm sicher unrecht, wenn sie ihn manchmal für gefühllos hielt. Bei der Erwähnung seines Namens fiel ihr noch etwas anderes ein. „War Udo gestern eigentlich die ganze Zeit in der Praxis?“, fragte sie.

„Ja, wir haben eine Menge zu tun. Wieso fragst du?“

„Weil ich gestern vorbeigefahren bin und sein Auto nicht auf dem Parkplatz gesehen habe.“

„Da musst du dich wohl geirrt haben. Weißt du was, ich mache uns jetzt erst mal Kaffee und packe den Kuchen aus. Du siehst aus, als könntest du etwas Süßes vertragen.“

Sina widersprach nicht, doch in ihrem Kopf rasten die Gedanken. Was passierte gerade mit ihr? War sie auf dem Wege, den Verstand zu verlieren?