27.

Die Tage wurden kürzer und mit zunehmender Dunkelheit wurde auch Sinas Stimmung immer düsterer. Es fühlte sich an, als würde sie ungebremst in einen Abgrund fallen. Ihr fehlten die Kraft und der Wille, sich dagegen zu wehren. Es war Samstagmittag und sie lag noch im Bett. Bereits am Vorabend war Udo wieder nach Lund aufgebrochen. Wäre nicht die Verabredung mit Smilla, würde Sina überhaupt nicht aufstehen. Um 15 Uhr wollte die Freundin vorbeikommen und ihr Gesellschaft leisten, damit sie das Wochenende nicht ganz allein verbringen musste. Sina brauchte die verbleibende Zeit, um sich auf den Besuch vorzubereiten. Die alltäglichsten Verrichtungen wie sich waschen und anziehen stellten eine Herausforderung für sie dar. Erst nach mehreren Anläufen gelang es ihr, aufzustehen und sich ins Bad zu begeben. Als Smilla dann eintraf, hatte sie es geschafft, sich einigermaßen herzurichten, Kaffee zu kochen und den Tisch zu decken.

Smilla schüttelte sich beim Eintreten wie ein Hund, ihre Haare waren auf dem kurzen Weg vom Auto zum Haus feucht geworden. „Das Wetter gibt einem den Rest“, sagte sie. „Die Dunkelheit und der Dauerregen schlagen aufs Gemüt.“

„Wem sagst du das.“ Sina ging voran ins Wohnzimmer. „Ich komme kaum noch aus dem Bett. Manchmal wünsche ich mir, einfach einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen.“ Vor Smilla musste sich Sina nicht verstellen, auch deshalb schätzte sie deren Gesellschaft.

„Ich kann dich gut verstehen.“ Smilla setzte sich an den Tisch. „Aber du darfst die Hoffnung, dass Bent lebend gefunden wird, nicht aufgeben.“

„Dieser kleine Funke Hoffnung ist alles, was mich überhaupt noch am Leben hält.“ Sina zeigte auf die Thermoskanne. „Du nimmst doch sicher Kaffee.“

„Ja, gern.“ Smilla hielt ihre Tasse hin.

Sina goss ihr und sich selbst Kaffee ein. „Mir ist neulich etwas Eigenartiges passiert“, sagte sie zögernd.

Smilla schaute sie erwartungsvoll an, die großen Augen in dem kindlichen Gesicht weit aufgerissen.

„Es klingt sicher merkwürdig, ich habe Bents Stimme gehört, wie er nach mir gerufen hat. Hier im Haus war das. Ich hatte mich im Schlafzimmer hingelegt und war wohl ein wenig eingedöst. Auf einmal hörte ich Bent nach mir rufen. Daraufhin war ich hellwach und hörte ihn erneut rufen und lachen. Das war kein Traum und keine Einbildung Smilla, ich hörte ihn so deutlich, wie ich dich jetzt hören kann. Ich war so überzeugt, dass ich im ganzen Haus nach ihm gesucht habe. Aber mein Bent war nicht da.“ Sie musste bei der Erinnerung daran schlucken. Smilla schaute sie mitfühlend an.

„Das ist nicht ungewöhnlich“, sagte sie dann. „Es kommt bei Frauen, die ein Kind verloren haben, häufiger vor.“ Schnell griff sie nach Sinas Hand und drückte sie. „Versteh das jetzt nicht falsch, ich will damit nicht sagen, Bent ist tot. Aber die Seele unterscheidet nicht, ob jemand tot oder nur verschwunden ist, sie leidet in beiden Fällen auf die gleiche Weise. So hat es mir meine Mutter einmal erklärt.“ Bei der Erwähnung ihrer Mutter musste nun auch Smilla schlucken. Doch sie redete sogleich weiter. „Es gab mal ganz am Anfang meiner Tätigkeit einen tragischen Vorfall. Eine Mutter hatte zwei ihrer Kinder bei uns in einer Gruppe, einen Jungen und ein Mädchen. Das Mädchen kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben, es war furchtbar. Die Mutter berichtete, sie würde immer wieder die Stimme des Mädchens hören. Ich habe mich gefragt, ob sie vor Kummer im Begriff sei, den Verstand zu verlieren. Aber meine Mutter sagte damals, es würde sich um eine normale Trauerreaktion handeln.“

Smillas Mutter war zweifellos eine kluge Frau gewesen und ihr Verlust musste schwer für die Freundin sein. Sina wollte deshalb nicht länger nur über sich und ihre Probleme reden. „Wie geht es dir inzwischen?“, fragte sie. „Bist du mit dem Haus deiner Mutter weitergekommen?“

„Leider nicht.“ Smilla zog die Schultern hoch, als würde sie frieren. „Ich war noch nicht wieder dort, ich schaffe es einfach nicht. Das Bild, wie meine Mutter tot im Wohnzimmer liegt und der Teppich voller Blut ist, das bekomme ich nicht aus dem Kopf. Zum Glück hilft mir Malena, die Kollegin und Freundin meiner Mutter. Sie ist nicht viel älter als ich, gerade mal Anfang dreißig und eine ganz tolle Frau. Alles hat sie für mich organisiert, die Beerdigung und die Reinigung des Hauses. Ich schäme mich ein bisschen, weil ich ihr das alles zumute. Ich sollte mich mehr zusammenreißen.“

„Das musst du nun wirklich nicht von dir sagen.“ Sina stellte ihre Kaffeetasse mit einem energischen Ruck ab. „Du gehst arbeiten und hilfst darüber hinaus auch noch mir, indem du mich beim Einkaufen begleitest. Mehr geht wohl kaum.“

Smilla winkte ab. „Was ist das schon. Es gibt Menschen, die viel mehr durchmachen mussten und unheimlich stark sind. Auf Malena, die Freundin und Kollegin meiner Mutter, trifft das zu. Malena hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Mutter. Kurz nachdem sie ihre Zulassung als Ärztin erhalten und das mit ihrer Mutter noch gefeiert hatte, hat sich die Mutter umgebracht.“

„Wie schrecklich.“ Sina war ehrlich erschüttert. „Weiß man, weshalb sie es getan hat?“

„Nein, Malena hat die Vermutung, sie war einfach am Ende ihrer Kraft. Als sie ihre Tochter auf dem besten Weg sah, ihr Leben allein zu meistern, hat sie einen Schlussstrich unter ihr eigenes Leben gezogen. Sie selbst war ohne Mutter und bei Verwandten aufgewachsen, die sie sehr lieblos behandelt haben sollen. So etwas wirkt nach. Und das Tragische ist: Auch die Großmutter von Malena, die Mutter ihrer Mutter, hatte sich das Leben genommen. Sie war eine wunderschöne junge Frau, Malena hat ein Foto von ihr, da sitzt sie auf einem Pferd. Sie hat auf einem Gestüt gearbeitet und dort auch ihre große Liebe kennengelernt. Der junge Mann, der dort zwei Pferde stehen hatte und regelmäßig zum Reiten kam, wollte sie heiraten. An dem Tag, an dem er ihr einen Antrag machte, stürzte sie sich in eine Schlucht.“

„Aber weshalb? Wenn er ihre große Liebe war, hätte sie glücklich sein müssen.“

Smilla zuckte mit den Schultern. „Es ist rätselhaft, eine Erklärung wurde nie gefunden. Malena meint, die Gründe hätten in der Kindheit ihrer Großmutter gelegen, die nicht glücklich war. Manche Geheimnisse lassen sich nie aufklären.“

Sina schaute zum Fenster, draußen war es inzwischen fast dunkel. Ihr bleiches Gesicht spiegelte sich in der Fensterscheibe. Würde auch Bents Verschwinden niemals aufgeklärt werden? Der Gedanke ließ sie erschaudern.

Smilla folgte ihrem Blick. „Siehst du irgendwas da draußen?“, fragte sie.

„Nein, was soll da sein?“

Smilla wirkte auf einmal verängstigt. „Ich habe seit einiger Zeit ein merkwürdiges Gefühl, als würde mich jemand verfolgen. Aber vielleicht ist das nur in meinem Kopf.“ Trotzdem war sie erleichtert, als Sina sie später zu ihrem Auto begleitete und wartete, bis sie abfuhr.